Christian Rainer: Die Verfassung wird vergewaltigt

Christian Rainer: Die Verfassung wird vergewaltigt

Christian Rainer: Die Verfassung wird vergewaltigt

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Mit Beginn der vergangenen Woche haben zwei weitere Nationalratsabgeordnete das Team Stronach verlassen, darunter die engste Vertraute des Namensgebers der Partei. Insgesamt haben nun vier Mandatare den fliegenden Wechsel zur ÖVP vollzogen. Diese Fluchtbewegung von mäßig beleumundeten Gestalten einer Organisation, die stets nur der untaugliche Versuch war, mit Geld die Welt zu kaufen, würde uns allenfalls belustigen, wir würden dem Geschehen erste Reihe fußfrei folgen, wäre der Fluchthelfer nicht die Volkspartei, würde sich also nicht die honorige alte Dame der demokratischen Verfasstheit des Landes an der Verfassung zu schaffen machen. Mit dem nur scheinbar unreflektierten Vorgehen von Reinhold Lopatka wird die Sache zur Staatsangelegenheit, mit dem aktiven Abwerben durch den Klubobmann eine Vorsatztat. Das ist nicht einfach österreichisch passiert, sondern war zynisch geplant: eine Staatsaffäre, die an den Grundsätzen der Republik rüttelt.

Weg mit der Diskussion über die finanziellen Folgen für die jeweiligen Parlamentsklubs, die gerade hochkocht – Peanuts die Summe, Nüsse in der Bedeutung! Darum geht es: Bekommen die Wähler das, was sie gewählt haben, auch wenn ein Abgeordneter den Klub wechselt, also die Partei verlässt, für die er kandidiert hat? Darf sich ein Österreicher auch dann demokratisch repräsentiert fühlen, wenn er beim Team Stronach sein Kreuz gesetzt hat, das Frau Nachbaur oder Herrn Ertlschweiger damals auf der Liste führte, Frau Nachbaur und Herr Ertlschweiger es aber vorziehen, mitten in der Legislaturperiode zur Volkspartei überzulaufen, künftig also statt für Frank Stronach unter Lopatkas Knute und im Sold von Reinhold Mitterlehner zu arbeiten und abzustimmen?

Sicher, formal ist alles in schöner Ordnung. Aber formal richtig sind schon Diktatoren an die Macht gekommen, Unschuldige zum Tode verurteilt und Massenmörder als Selige kanonisiert worden

Die Verfassung sagt Ja. Aber selbst wenn es die Verfassung nicht sonderlich kümmern wird, sagt der Verstand Nein, keinesfalls: Der Wähler wird übers Ohr gehauen, und jener Verfassung wird dabei körperlich noch deutlich mehr angetan, sie wird vergewaltigt. Sicher, formal ist alles in schöner Ordnung. Aber formal richtig sind schon Diktatoren an die Macht gekommen, Unschuldige zum Tode verurteilt und Massenmörder als Selige kanonisiert worden. Die repräsentative Demokratie in Österreich beruht auf dem freien Mandat. Die Abgeordneten sind bei ihrer Tätigkeit im Parlament an keine Aufträge der Wähler, der Fraktion oder einer Partei gebunden. In der Praxis ist das aber Schmonzes. Statt freien Mandats gilt Klubzwang, entschieden wird, wie die Partei es will. Wer anders abstimmt, was kaum einer wagt, läuft existenzielle Gefahr, bei nächster Gelegenheit gedumpt zu werden.

Das ist keine Vermutung, die ein Wähler haben könnte, sondern die statistisch abgesicherte Wahrheit: Das freie Mandat ist ein Schwindel, das imperative Handeln der Volksvertreter Realität. Der Wähler wählt am Wahltag, was er korrekt wahrnimmt, er wählt den zukünftigen Willen der Partei, für die jemand kandidiert.

Zumal das passive Wahlrecht, das Gewähltwerdenkönnen, keine freie Kandidatur erlaubt, sondern an das Antreten für eine wahlwerbende Partei gebunden ist. Im Wissen um den rein imaginativen Charakter des freien Mandats ist es also nur vernünftig, für eine Partei zu stimmen, nicht aber für Personen, deren Meinungen, deren Charakter. De facto durchforstet in Österreich niemand eine Kandidatenliste, um dann zu entscheiden: Angesichts der Umstände ist es richtig, ein Programm zu wählen und ein Kollektiv von Personen, seien es Kandidaten, seien es parteiaffine Funktionäre.

Da ist eine Stimme gestohlen worden, und jetzt wird sie über Jahre missbraucht – und damit die Demokratie

Und dann? Dann wechseln vier Abgeordnete vom Team Stronach zur ÖVP. Da wird der Wähler um seinen Willen betrogen. Er hat sein demokratisches Recht für die Ideen des Herrn Stronach in die Waagschale geworfen, und sei es für Verrücktheiten, für ein Gesamtpaket der Bewegung, für Oppositionsarbeit, mit der er vor der Wahl rechnen durfte. Jetzt ist er Stimmvieh der Volkspartei geworden und überdies der Regierung. Da ist eine Stimme gestohlen worden, und jetzt wird sie über Jahre missbraucht – und damit die Demokratie.

Soll die Verfassung geändert werden, damit sie sich schützen kann? Das freie Mandat als realer Zustand ist nicht redlich zu verteidigen – nur zynisch oder dämlich. Da versucht es manch Politiker – aktuell der ÖVP, bei früheren Gelegenheiten von anderen Parteien – über diesen Weg: Keinesfalls solle ein Klubwechsel in der Zukunft per Anpassung der Verfassung verhindert werden. Gerade weil die Namen der Kandidaten so wenig wögen, müssten die Elemente eines Persönlichkeitswahlrechts sogar noch verstärkt werden. Die Vorzugsstimmen seien doch ein guter Beweis dafür, dass Bedarf nach den Menschen hinter den Parteiakronymen bestehe.

Mit dieser Argumentation würde der vierfache Wechsel zur Volkspartei gar noch ein Symbol des Fortschritts. Alleine, sie stimmt nicht. Vorzugsstimmen bleiben eine Randerscheinung, ein Feigenblatt über dem Unpersönlichkeitswahlrecht. Sie als Zeichen des Lichts, als visionäre Kraft gegen die hegemoniale Herrschaft der Parteien ins Treffen zu führen, ist ein bisschen Chuzpe.