Sebastian Hofer: Eurovision

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Die gute Nachricht der letzten Tage: Aus ausgewählten Wiener Kanaldeckeln werden auf Initiative der Umweltstadträtin bis zum Song-Contest-Finale die schönsten Eurovisions-Superhits ertönen. Merci, Ulli. Über die Metaphorik dieser Marketingmaßnahme ließe sich einiges Unterirdische sagen, ihr Anlass bleibt supersauber: Wien feiert sich anlässlich der kommenden Schlagershow als weltoffene Metropole und europäischer Brückenbaumeister. Wobei zumindest vorläufig nicht geplant ist, eine Brücke von Wien nach Libyen zu errichten, was den mehr als 1800 Bootsflüchtlingen, die im Jahr 2015 bis dato im Mittelmeer ertrunken sind, aber ohnehin nicht mehr helfen würde.

Nach dem Schiffsunglück vom 19. April, bei dem 800 Menschen vor der libyschen Küste starben, war die Bestürzung in Europa groß, und kurz schien es, als würde das Drama eine Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik auslösen. Betonung auf: kurz. Inzwischen haben wir schon wieder ganz andere Probleme, wahrscheinlich sogar bessere Probleme, weil immerhin lösbare. Zum Beispiel, wie man Maturafragen halbwegs sicher transportiert. Das Flüchtlingsdrama, das sich – seit Jahren, immer noch, auch in dieser Minute – an den europäischen Außengrenzen zuträgt, hat leider viel zu komplizierte Ursachen, an deren Veränderung wir außerdem scheitern werden. Denn der Mensch will die Verhältnisse ja genau so haben, wie sie sind. Wie sie sind, hat die in Hamburg ansässige – und nur mäßig Song-Contest-taugliche – Diskurs-Punk-Band „Die Goldenen Zitronen“ schon vor neun Jahren in ihrem Song „Wenn ich ein Turnschuh wär“ beschrieben: „Über euer scheiß Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär. / Oder als Flachbild-Scheiß – ich hätte wenigstens einen Preis.“

Dazu eine Preisfrage: Was würde es kosten, das Flüchtlingsdrama zu beenden? Am billigsten wäre es natürlich, sich dazu moderner Technologien zu bedienen. Also: Suchanfrage bei Google: „Flüchtlingsproblem lösen“. Erster Eintrag, ein Artikel aus der „Welt“: „Das Flüchtlingsproblem lässt sich nicht lösen.“ Weitere Einträge: selbes Bild.

Dabei ließe sich das Flüchtlingsproblem natürlich lösen. Es braucht nur drei Dinge. Zwei davon haben leider damit zu tun, dass wir uns ändern müssen. Erstens: Wir müssen unsere Angst verlieren. Vor den anderen, vor dem Fremden, vor der Veränderung. Zweitens: Wir müssen auf fast nichts verzichten. Nämlich nur auf die wohlige Gewissheit, dass die Dinge, die wir kaufen wollen, rasch und sicher zu uns kommen, aus Ländern, in denen wir nicht leben wollten, während die Menschen, die dort leben und zum Beispiel das Plastik in unseren Turnschuhen herstellen, besser bleiben, wo das Plastik wächst, weil sonst bekämen wir es ja mit der Angst zu tun. Anders gesagt: Das Problem sind wir selbst.

Dabei können wir uns sehr wohl ändern. Zum Beispiel können wir echt hilfsbereit werden. In den Tagen nach der Katastrophe vom 19. April registrierte die Caritas eine „unvorstellbare Solidarität“, zahlreiche Menschen zeigten sich bereit, privaten Wohnraum für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Das ist eine gute Nachricht, aber auch eine beschämende. Es kann nicht reichen, Gutes zu tun, wo so viel besser gemacht werden muss. Das Private ist in dem Fall leider nicht politisch genug. Es geht mir nicht darum, freiwilliges Engagement zu diskreditieren, sondern darum, politische Gestaltung einzumahnen. Das wäre Punkt drei. In diesem Punkt versteckt sich Wien leider gewohnheitsmäßig hinter Brüssel, pocht auf „eine gesamteuropäische Regelung“. Was nicht gesagt wird, ist, was gemeint ist: eine bloße Umverteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas.

An der Küste Libyens würde sich damit natürlich nichts verändern. Eine echte, reale Veränderung wäre: die Festung Europa aufsperren, Flüchtlinge hereinlassen (und zwar alle, die es versuchen) und ihnen eine faire Chance geben. Das wäre nur eigennützig: Migration erzeugt Nachfrage (und damit Jobs), Migranten zahlen Steuern (wenn sie arbeiten dürfen), verjüngen eine Gesellschaft (die ohnehin an Altersschwäche leidet) und erleichtern insgesamt den Druck auf die sozialstaatlichen Systeme. Zumindest sieht das die – der Sozialromantik relativ unverdächtige – OECD so.

Philippe Legrain, ein britischer Ökonom und Berater des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, formulierte es in der Vorwoche so: „Öffne dich, Europa!“

Und was tut Österreich? Vergangenen Mittwoch einigten sich die Landeshauptleute darauf, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge laut der gängigen Quote auf die Bundesländer aufzuteilen. Wobei: „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind natürlich nicht so abzuhandeln, wie es bei erwachsenen Flüchtlingen der Fall ist.“ (Michael Häupl). Wie erwachsene Flüchtlinge abzuhandeln sind, wurde einen Tag später im Innenausschuss des Nationalrats besprochen, wo eine Novelle des Asylgesetzes zur Debatte stand: Ausweitung der Anhalteermächtigung (sprich: Freiheitsentzug), Streichung der Grundversorgung für bestimmte Asylwerber.

Ja, gegen die Angst kann man ansingen, notfalls auch mit Schlagermelodien. Heile, Welt. Aber merke: Wie man in den Kanal hineinsingt, so schallt es auch heraus.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.