Ärztin Umyme Eljelede

Corona ruft bei Migranten und Flüchtlingen schlimme Erinnerungen wach

Die Pandemie ruft bei Migranten und Flüchtlingen schlimme Erinnerungen wach. Mitarbeiterinnen einer Corona-Hotline, freiwillige Helfer und ein Gastronom aus dem Kosovo erzählen.

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Es war eine Nuance, doch sie wurde registriert. Vor einem Monat wandte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit einer "Halten wir durch!"-Botschaft nicht nur an die "lieben Österreicherinnen und Österreicher", sondern an sämtliche Bewohner dieses Landes. Fortan fiel auf, wen der Kanzler, sein Vize oder der Gesundheitsminister ansprachen. Oder eben nicht ansprachen. Pflegekräfte aus Rumänien, Gastarbeiter aus der Türkei, philippinische Krankenschwestern, bosnische Gewerbetreibende, Flüchtlinge aus Syrien durften sich mitgemeint fühlen - oder auch nicht. Die Pandemie schließt jedenfalls alle ein.

Wie geht es jenen, die vor Krieg und Verfolgung flüchteten oder ihre Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben verließen? Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Hilde Wolf kann aber Einblicke gewähren. Sie leitet das Zentrum Fem Süd im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital, wo sich Psychologinnen, Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen um die Problemlage von Frauen kümmern. Drei von vier Klientinnen haben nichtösterreichische Wurzeln. Fast alles kommt hier zur Sprache: körperliche Beschwerden, Depressionen, Eheprobleme, Erziehungsfragen, häusliche Gewalt. Nach dem Lockdown schaltete man auf Telefon- und Videobetrieb um und besetzte eine Corona-Hotline, die man sich wie ein riesiges Ohr vorstellen darf, in das seit Wochen die Geschichten aus diversen Migranten-Communities im Ausnahmezustand einströmen. Wolfs Mitarbeiterinnen sprechen Türkisch, Somali, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Arabisch, Farsi, bringen sich in Wertekurse ein, halten Kontakt zu Moscheen und Kulturvereinen, moderieren Gruppen auf Facebook und WhatsApp. Bei vielen Migranten und Flüchtlingen ruft die Pandemie schlimme Erinnerungen wach. profil protokollierte die Erfahrungen und sprach mit einem kosovarischen Gastronomen, der vor den Trümmern seiner Existenz steht.

Natalija Kutzer, Psychologin und Traumabehandlerin

In der ersten Woche war alles Improvisation. Es riefen vor allem Bosnierinnen an, die Anfang der 1990er-Jahre vor dem Krieg flüchteten. Viele hatten ihre letzten Kräfte zusammengenommen, um sich in Österreich eine neue Existenz aufzubauen. Es ging um Wohnen, Arbeit, die Kinder und zuletzt um sie selbst. Erst nach 15, 20 Jahren holte die Vergangenheit viele ein. Plötzlich brachen Frauen unter Flashbacks zusammen und fielen in schwarze Löcher, aus denen sie oft nur mit psychologischer Hilfe herausfanden. Ihnen setzt die Corona-Krise besonders zu. Leere Supermarktregale und Schlangen vor der Apotheke lösen Panikattacken aus. Zwar erkennen die Betroffenen, dass sie nicht im Keller Schutz suchen müssen und genug zu essen da ist, aber die Gefühle sind überwältigend. Außerdem fehlt Menschen, die erlebt haben, dass auf den Staat im Ernstfall kein Verlass ist, das Vertrauen. Was, wenn wieder alles zusammenbricht?

„Leere Supermarktregale und Schlangen vor der Apotheke lösen
Panikattacken aus.“  Natalija Kutzer, Psychologin und Traumabehandlerin

Für mich als Psychologin ist nicht die Zeit, in die Tiefe zu gehen. Ich habe ein Video mit Übungen gedreht, die bei Angstzuständen beruhigen oder bei Konflikten in der Familie helfen. Damit zeige ich auch, dass wir alle in einer ähnlichen Lage sind. Nach ein, zwei Wochen häuften sich die Anrufe älterer Frauen, die in den 1970er-Jahren gekommen sind. Sie arbeiteten als Reinigungskräfte, Krankenpflegerinnen oder in der Fabrik und sind mittlerweile in Pension. Viele kämpfen mit gesundheitlichen Problemen. Sie haben Angst, sich anzustecken und in Österreich zu sterben. Anders ist die Lage bei den unter 30-Jährigen, die zwischen Arbeit, Familie und schulischen Aufgaben aufgerieben werden. Neuerdings drehen sich die Beratungen oft um häusliche Spannungen, die sich gewaltsam entladen. Ich versuche zu schlichten und schließe mich mit den Interventionsstellen bei Gewalt in der Familie kurz. Im Moment sind wir alles: Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Medizinerinnen.

Özlem Akar, systemische Familientherapeutin

Im Gesundheitszentrum rufen meist Frauen an, die vorbelastet sind. Ich bin bei "Fem Süd" für alle zuständig, die aus der Türkei kommen. Das ist eine heterogene Community. Was auffällt, ist der starke Bezug zur Heimat. Man verfolgt täglich türkische Nachrichten. Die Generation der ersten Gastarbeiter leidet sehr darunter, dass die Grenzen dicht sind. Viele wären im März in die Türkei gefahren, um die nächsten Monate dort zu verbringen. Sie fürchten, hier an Covid-19 zu erkranken. Gedanken an den Tod sind allgegenwärtig. Anfangs war ich sehr damit beschäftigt aufzuklären. Selbst gebildete Menschen waren mitunter überfordert, offizielle Informationen richtig zu deuten, ältere Menschen mit geringer Schulbildung waren verloren. Eine 55-Jährige saß wochenlang zu Hause, weil ihr der Arzt angeblich verboten hat hinauszugehen. Dass sie im Wald spazieren darf, ist bei ihr nicht angekommen.

„Die Generation der ersten Gastarbeiter leidet sehr darunter,
dass die Grenzen dicht sind.“  Özlem Akar, systemische Familientherapeutin

Man erzählt Geschichten von Leuten, die zu viert im Auto saßen und jeweils 700 Euro Strafe zahlten, weil sie zu wenig Abstand eingehalten haben. Ich weiß nicht, ob sie stimmen. Die Angst vor der Polizei ist jedenfalls groß. Am meisten interveniere ich bei Alleinerziehenden. Viele sind Reinigungskräfte oder Supermarkt-Angestellte, die das System erhalten und mit Kinderbetreuung und Haushalt überfordert sind. Ich unterstütze, wo ich kann, und bin mir auch nicht zu gut, einen AMS-Fragebogen auszufüllen. Manchmal schafft es schon Entlastung, Ängste zulassen zu dürfen.

Umyma Eljelede, Ärztin

Ich begleite vor allem Frauen aus Syrien und dem Irak. In den ersten Wochen wurden AMS-, Arzt-und OP-Termine abgesagt, e-cards gesperrt, Mindestsicherungsbezüge gestrichen. Danach ging es stark um die Schule. Manche entwickelten plötzlich Symptome, die an Covid-19 erinnern, aber vom Stress herrühren. In sozialen Medien kursieren falsche Informationen, etwa dass ein bestimmter Tee vor Ansteckung bewahrt. Ständig müssen wir richtigstellen, wie sich das Virus ausbreitet und man sich schützt. Ich betreue eine neunköpfige Familie, die auf 50 Quadratmetern lebt. Wie sollen die Kinder hier Aufgaben machen? Oft können wir nicht mehr tun, als die Mütter zu instruieren, viel zu lüften, spazieren zu gehen, sich winzige Freiräume zu schaffen. Psychologische Hilfe ist kaum möglich, wenn sie keine Minute ungestört sind.

Viele halten sich an das, was im Koran steht. Das versuche ich im
Ramadan zu nützen.“ Umyme Eljelede, Ärztin

Wenn ich höre, wie es den Bosnierinnen ergangen war, denke ich, dass meine Klientinnen sich noch im Überlebensmodus befinden und nicht genug Stabilität haben, um schreckliche Erlebnisse hochkommen zu lassen. Außerdem sind psychische Probleme tabuisiert. Bisher berichtete eine einzige Frau über Panikattacken. Viele halten sich an das, was im Koran steht. Das versuche ich im Ramadan zu nützen. Wenn ich morgens meine WhatsApp- Gruppen aufmache, lese ich eine Sure, die sich auf das Verhalten in der Corona-Krise umlegen lässt.

Omar Tamador, Psychologin

Ich bin Doktor der Psychologie. Als die Armee Aleppo angriff, schloss ich meine Praxis und flüchtete in die Türkei. Dort gründete ich eine Anlaufstelle für Frauen, Schulen und medizinische Zentren für Flüchtlinge, musste aber erneut weg, weil der Islamische Staat mich bedrohte. In Österreich erhielt ich Asyl. Ich konnte Englisch, Türkisch, Arabisch, trotzdem fragte mich die AMS-Beraterin: Glauben Sie, mit Kopftuch können Sie hier arbeiten?

„Ich schätze, dass ein Drittel psychische Probleme hat, aber
keine Hilfe bekommt, weil die sprachlichen und kulturellen Hürden
zu hoch sind.“  Omar Tamador, Psychologin

Derzeit mache ich meine klinische Ausbildung und arbeite bei Fem Süd. Nebenbei startete ich die Facebook-Initiative "Hoffnung ohne Grenzen", um Menschen in der Corona-Krise zu helfen. Nicht nur Flüchtlingen, auch Österreicherinnen und Österreichern. Wir sind mehr als hundert Freiwillige, die einkaufen gehen, Medikamente besorgen, Essen kochen, Masken nähen, bei Ärzten übersetzen. Anfangs hatten wir bis zu 50 Anrufe am Tag, inzwischen sind es weniger. Kürzlich rief eine Syrerin aus dem Frauenhaus an. Sie sagte, sie müsse ständig nachdenken und könne nicht mehr atmen. Eine Mutter erzählte, ihr Sohn habe zehn Kilo zugenommen, er wolle nicht lernen, sitze vor dem Fernseher und stopfe Essen in sich hinein. Eine 50-jährige Syrerin, die im Krieg ihren Mann und beide Kinder verloren hat, schafft es nicht, Deutsch zu lernen. Das AMS drängt sie, Arbeit aufzunehmen. Über Facebook halte ich Kontakt mit 5000 geflüchteten Syrerinnen in ganz Europa. Ich schätze, dass ein Drittel psychische Probleme hat, aber keine Hilfe bekommt, weil die sprachlichen und kulturellen Hürden zu hoch sind.

Ahmad Jaber, Flüchtling und Freiwilliger

Die Corona-Krise ist meine Chance, Österreich etwas zurückzugeben. Ich war sofort dabei, als Frau Tamador mich fragte, ob ich bei ihrer Initiative mitmache. Als Erstes meldete sich eine Dame, die am Knie operiert wurde. Ich sollte mit ihrem Hund "Gassi" gehen. Das Wort habe ich zwar nicht gekannt, aber ich bin drei Wochen lang Gassi gegangen. Wenn ich für meine Nachbarinnen einkaufe und etwas auf ihrer Liste nicht verstehe, frage ich die Mitarbeiter bei Lidl und Hofer. Sie helfen mir immer. Zwei Alleinerzieherinnen haben mich gebeten, Lebensmittel zu besorgen. Sie waren überrascht, wie günstig ich einkaufe. Bei einem Markt im 10. Bezirk in Wien bekommt man drei Salat um einen Euro. Viele arabische Familien sitzen nur zu Hause. Ich habe mich bei der Polizei erkundigt und erfahren, dass man frische Luft schnappen darf.

„Die Corona-Krise ist meine Chance, Österreich etwas
zurückzugeben.“  Ahmad Jaber, Flüchtling und Freiwilliger

Lulzim Fejzullahi, Gastronom und Hotelier

2002 kam ich nach Österreich. Ich war 18 und habe als Tellerwäscher angefangen. Das Restaurant in Gmunden, die Weinbar in Ebensee, die Frühstückspension habe ich selbst aufgebaut. Vergangenen Herbst eröffnete ich ein Pub. Mitte März musste ich alles schließen. Nun stehe ich vor den Trümmern meiner Existenz. Ich weiß, was es bedeutet, alles zu verlieren. Im Krieg im Kosovo habe ich Sachen erlebt, die sich andere Menschen nicht vorstellen können. Danach war alles zerstört. Nun habe ich seit vielen Jahren wieder schlaflose Nächte und denke ständig daran, was alles passieren kann, hier und im Kosovo.

„Ich habe schon einmal einen nichtfunktionierenden
Staat erlebt. Hoffentlich kommt es nicht wieder so weit.“ Lulzim Fejzullahi, Gastronom und Hotelier

Meine Mutter lebt in der Stadt im Kosovo, wo die ersten Corona-Fälle auftauchten. Am Anfang habe ich täglich mit meiner Schwester telefoniert, um zu erfahren, wie es allen geht. Im Krieg hatte man Angst, das Leben zu verlieren. Manchmal aber war die Panik, die Gerüchte verbreiteten, schlimmer als das, was dann tatsächlich passierte. Jetzt geht es um die wirtschaftliche Existenz. Dazu kommt wieder eine große Ungewissheit. Einmal heißt es, die Bäder sperren Mitte Mai auf, dann ist es Ende Mai. Die Vorgaben sind enorm und ändern sich ständig. Im Strandbad bräuchte ich zwei Mitarbeiter, die nur WCs, Tische und Stühle desinfizieren. Manchmal frage mich, wie das Gesundheitssystem bestehen soll, wenn die Wirtschaft kaputtgeht. Im Kosovo musste man für Medikamente und den Arzt zahlen. Ich habe schon einmal einen nichtfunktionierenden Staat erlebt. Hoffentlich kommt es nicht wieder so weit.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges