Wahlurnen im Logistikzentrum der MA 54 in Wien.

Stimmengewirr: Wahlkarten auf dem Prüfstand

Ursprünglich gedacht für Weltenbummler oder Zweitwohnsitzer, sind Wahlkarten zum Massenphänomen geworden. Fünf Gründe, warum die Briefwahl-Mania mit dem geheimen, persönlichen Wahlrecht nicht mehr vereinbar ist.

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Fall 1.

Bei der Wiener Wahl am 11. Oktober sind im 2. Bezirk 82 Wahlkarten verschwunden. Das zeigt eine Niederschrift der Bezirkswahlbehörde vom 12. Oktober, die profil vorliegt. Die FPÖ hat Einspruch erhoben und will den Fall zum Verfassungsgerichtshof bringen, sagt der Wiener Landtagsabgeordnete Dietbert Kowarik. Bekommt die Partei Recht, könnte es zu einer Neuwahl im Bezirk kommen - für alle Wahlberechtigten oder nur für die Briefwähler. Die FPÖ macht sich Hoffnung auf den Bezirksvertreter-Stellvertreter. Diesen stellen derzeit die Grünen mit 10.035 Stimmen. Die Blauen kamen auf 10.010 Stimmen. Bei einer Neuauszählung wäre - bei nur 25 Stimmen Abstand - ein grün-blauer Stimmenkrimi programmiert. Die Stadtwahlbehörde will den Fall erst nach einer Sitzung am 20. Oktober kommentieren. Update 22.10.: Völlige Verwirrung herrscht nach der Sitzung und einer Neuauszählung. Nun gibt es plötzlich 23 Stimmen zu viel. Neu aufgetaucht sind 100 Stimmen für die ÖVP und, wie die „Kronen-Zeitung“ berichtet, drei Wahlkarten mit identen Unterschriften. Die FPÖ sieht sich in ihrem Neuwahl-Plan bestärkt.

Fall 2.

Bei der niederösterreichischen Gemeinderatswahl 2015 hat ein gewisser Herr K. per Wahlkarte für 16 Verwandte gewählt, die bei ihm gemeldet waren. Bestellt hatte er die Wahlkarten übers Internet. Dann wählte er damit und unterschrieb sowohl auf Wahlkarten als auch auf Kuverts. Das Gericht sprach ihn Ende Juli vom Verdacht der Urkundenfälschung frei, weil die "subjektive Tatseite“ fehlte. Begründung: Er habe sich auf Vollmachten der Verwandten gestützt, stellvertretend für sie ÖVP zu wählen. Die Staatsanwaltschaft ging wegen der gefälschten Unterschriften in Berufung, nun ist das Oberlandesgericht am Zug. Es könnte ein wegweisendes Urteil werden.

Willkommen in der schönen neuen Welt der Briefwahl! Seit 2007 ist es möglich, außerhalb des Wahllokals eine Partei anzukreuzen. Bei der vergangenen Wien-Wahl gaben 175.000 der 832.000 Wähler ihre Stimme als Brief auf; einige Tausend Kuverts sind allerdings nie eingelangt.

Wahlkarten sind inzwischen ein Massenphänomen, das eine zentrale Frage erneut aufwirft: Ist die Briefwahl mit dem "persönlichen und geheimen Wahlrecht“ vereinbar? Fünf Gründe, warum das nicht so ist - und Ideen für eine weitere Reform.

Die Post muss eingeschriebene Wahlkarten nicht persönlich übergeben.

Grund 1: Eine Wahlkarte können die Bürger persönlich, schriftlich oder über das Internet beantragen. Online reicht dafür Pass-, Personalausweis- oder Führerscheinnummer und die ausstellende Behörde.

In Wien gehen außerdem Parteien auf Tuchfühlung zu potenziellen Wählern, indem sie ein Wahlkartenservice anbieten; auf Sammel-Listen notieren sie Ausweisdaten und Unterschriften und lassen die Wahlkarten zustellen - wohin auch immer. Mit Zugang zu den richtigen Daten kann eine Person theoretisch fremde Wahlkarten beantragen. Weiß man, dass diese Personen sicher nicht wählen, könnten im Extremfall selbst falsche Unterschriften und somit falsche Wählerstimmen unbemerkt bleiben.

Verfassungsrechtler Theo Öhlinger regt an, dass die Wahlkarte wieder persönlich abgeholt werden muss: "Das wäre eine ziemliche Bremse für das organisierte Ausfüllen durch Fremde.“ Geht es nach dem Wiener FPÖ-Abgeordneten Dietbert Kowarik, könnte die Wahlkarte weiterhin auch stellvertretend beantragt oder abgeholt werden, aber nur mit einer vom Gericht oder Notar beglaubigten Vollmacht.

Grund 2: Um seine teils ausländischen Verwandten bei sich zu melden, reichte Herr K. eine Unterschrift. In Niederösterreich dürfen Zweitwohnsitzer wählen, in Wien EU-Bürger, die hauptgemeldet sind. Wer es theoretisch darauf anlegt, kann über das liberale Meldewesen spielend neue Wähler aktivieren. Die Leiterin der Wiener Wahlbehörde MA62, Christine Bachofner, regt an, die Meldekriterien zu verschärfen und einen Mietvertrag oder eine Bestätigung der Hausverwaltung zur Pflicht zu machen.

Grund 3: Hilde Friedrich (Name von der Redaktion geändert) beantragte die Wahlkarte für ihren Mann mit dessen Passnummer. Adresse: ORF. Der Hausbriefträger stellte sie in ihr Büro zu wie ein Paket von Zalando. Die Post muss eingeschriebene Wahlkarten nicht persönlich übergeben, wenn Kollegen oder andere Personen an der angegebenen Adresse unterschreiben, bestätigt die Post. Das heißt: In Parteizentralen, Dart-Clubs oder muslimischen Kulturvereinen dürfte der Parteikassier, der Dart-Kollege oder der Vereinssprecher die Stimmzettel übernehmen. Der grüne Wiener Landtagsabgeordnete Martin Margulies fordert deswegen, dass sich der Wähler entweder beim Beantragen oder Abholen persönlich ausweisen muss: "Das war eigentlich die Idee bei der Reform.“

Die Beisitzer und Ersatzbeisitzer können sich frei bewegen und müssen nicht hudeln.

Grund 4: In der Wahlkabine ist die geheime Stimmabgabe garantiert, im Wohnzimmer, Dartclub, Islamverein oder Heim für Demenzkranke nicht (Demenzkranke sind wahlberechtigt). Der Briefwähler erklärt mit seiner Unterschrift, dass der amtliche Stimmzettel "persönlich, unbeobachtet und unbeeinflusst“ ausgefüllt wurde. Nicht Wahlbeisitzer diverser Parteien kontrollieren die Einhaltung des demokratiepolitisch heiligen Wahlrechts, sondern allein der Wähler. Das gilt auch für Demenzkranke.

Im Verein, Parteilokal oder in der Firma könnte der Briefwähler allerdings einem Gruppendruck ausgesetzt sein, kollektives Ausfüllen ist dort nie auszuschließen. Die Möglichkeit, die Wahlkarten für andere Personen an jede x-beliebige Adresse zu schicken und einzusammeln, leistet dem sogar Vorschub. Eine Kontrolle bei Verdacht ist de facto unmöglich. Laut Bachofner gibt das Magistrat keine Auskünfte, wie viele Wahlkarten an welche Adresse gehen - zum Schutz des Wahlgeheimnisses.

Das Problem würde wegfallen, wenn Wahlkarten nur noch an die Heimatadresse zugestellt werden dürfen. Für Seniorenheime gibt es ohnedies die mobilen Wahlkabinen.

Grund 5: In den 23 Bezirkswahlbehörden ergossen sich am Tag nach der Wahl Zigtausende Briefwahlkuverts auf die Tische. In Wien zählten fünf Beisitzer von der SPÖ, zwei von den Freiheitlichen und je einer von ÖVP und Grünen mit jeweils zwei Vertrauenspersonen die Stimmen aus. Kuvert auf, abhaken, in Bezirk und Gemeinde trennen, Stimmen eintragen, schauen, ob die Kollegen eh nicht tricksen. Der FPÖ-Mann Kowarik spricht von Zigtausenden Kontrollblicken, die in großen Bezirken nötig sind. Bachofner vom Magistrat meint dazu: "Die Beisitzer und Ersatzbeisitzer können sich frei bewegen und müssen nicht hudeln. Es gibt kein Zeitlimit.“ So weit die Theorie. Kowarik meint: "Wir bräuchten dafür fünf Tage.“ Je größer die Mengen an Briefwahlkuverts, desto größer ihr Einfluss auf das Ergebnis, umso unrealistischer, tagelang auf das eigentliche Endergebnis zu warten. Der Politiker regt an, die Bezirkswahlbehörden für die Briefwahl deutlich aufzustocken.

Die Sinnfrage

Oder man schafft die Briefwahl einfach wieder ab. "Nimmt man die Grundsätze des Wahlrechts ernst, ist die Briefwahl problematisch. Man steigert damit die Wahlbeteiligung um einen Preis, der es nicht wirklich wert ist“, sagt Verfassungs-Experte Öhlinger. Und: "Der Akt des Wählens ist ein Ritual, der eine Bewusstseinswirkung hat. Früher warf man sich dafür ins Feiertagsgewand.“ Heute reicht ein Jogging-Anzug, um die Zukunft des Landes auf der Couch mitzuentscheiden. Der Demokratie steht Ersteres jedenfalls besser.