Cover verlorene Lust

profil 51/52/1988: „Die verlorene Lust“

Vor fast 40 Jahren suchte profil in einer Titelgeschichte nach Orgasmen – und fand einen zentralen Diskurs der 2020er-Jahre.
Eva Sager

Von Eva Sager

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Ich wünschte, ich könnte hier schreiben, dass sich die ganze Sache mit der Lustlosigkeit mittlerweile erledigt hat. Dass dieses Hin- und-Hergehetze zwischen Begehren, Konsumkapitalismus und Narzissmus ein Phänomen der 1980-Jahre war, dass heute alles gut ist und wir so hemmungslos lieben wie noch nie. Patriarchat abgeschafft, Tabus wegdiskutiert, sexuelle Revolution Nummer zwei – juhu!
Ich muss Sie leider enttäuschen. 

Wobei, ein bisschen hat sich schon getan. Die Psychologin Sandra Konrad schreibt in ihrem Buch „Das beherrschte Geschlecht“ aus dem Jahr 2017: „Sexuelle Freiheit bedeutet heute wie damals: Sie will, was er will.“ Nach wie vor gelte bei Frauen: „Lieber Lust spenden als Lust empfangen.“ Das untermauert auch eine Studie, wonach im Durchschnitt 30 Prozent mehr Männer als Frauen beim Heterosex regelmäßig einen Orgasmus haben. Die Debatte um das weibliche Begehren ist allerdings – immerhin – im Mainstream angekommen. Wenn wir heute über Lust reden, fast 40 Jahre nach dem profil-Artikel von Sibylle Fritsch, dann tun wir das dediziert auch über die, die Frauen empfinden – oder eben nicht. 

In der Popkultur ist das momentan sogar Thema Nummer eins. Was bei Madonna in den 1980er-Jahren noch eine bewusste Provokation war, gehört bei den heutigen Popstars wie Chappell Roan und Sabrina Carpenter zum guten Ton. In ihren Songtexten geht es immer wieder um das eigene Verlangen. Schon 2020 rappte die amerikanische Musikerin Cardi B Songzeilen wie „Now get a bucket and a mop, that’s some wet ass pussy“ und heimste dafür Lob für die sexpositive Botschaft und offen zur Schau gestellte weibliche Sexualität ein. Auch in Filmen und Serien der vergangenen Jahre – „Poor Things“ (2023), „Babygirl“ (2024), „Bridgerton“ (2024) – wird der weibliche Blick auf Lust immer wieder zum zentralen Motiv. 

Was die Sache mit dem Narzissmus und dem Abverkauf der Libido betrifft, ging es, so ehrlich muss man sein, in den letzten Jahrzehnten eher bergab. Zu Leistungsdruck und kapitalistischem Wettbewerb, die es der Lust schon in den 1980er-Jahren schwer gemacht haben, gesellen sich heutzutage Dating-Apps – die absoluten Lustendgegner. Sie machen uns austauschbar, bringen Nutzerinnen und Nutzer dazu, einander wie Konsumentinnen und Konsumenten zu begegnen. Die Liebe ist durch die Kommerzialisierung des Privatlebens zur Tauschware verkommen, sagt die israelische Soziologin Eva Illouz. „Während wir uns in eine Individualität, Emotionalität und Innerlichkeit zurückziehen, die uns als Schauplätze der Selbstermächtigung erscheinen mögen, schaffen und erfüllen wir ironischerweise gerade die Voraussetzungen einer ökonomischen und kapitalistischen Subjektivität, die die soziale Welt fragmentiert und ihre Objektivität unwirklich werden lässt.“ So formuliert es Illouz in ihrem Buch „Warum Liebe endet“.

Wir können also nur hoffen, dass es in 40 Jahren, wenn wir auf diesen Text zurückblicken, besser um die Lust steht. 1988 hat profil jedenfalls schon gewusst, dass die Leistungsgesellschaft auch vor unseren Gefühlen nicht Halt macht. In diesem Sinne ein kleiner Appell für eine lüsterne Zukunft: Löschen Sie Ihre Dating-Apps!

Eva Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Kultur, Gesellschaft und Gegenwart.