Jair Bolsonaro

Brasilien: Die begründete Angst der Ureinwohner vor Jair Bolsonaro

Jair Messias Bolsonaro hat die Präsidentschaftswahl in Brasilien mit Parolen gegen Ureinwohner, Klimaschützer und NGOs gewonnen. Drei Monate nach Amtsantritt des ehemaligen Fallschirmjägers ist selbst in den abgelegenen Urwäldern des Amazonas spürbar: Seine Drohungen sind bitterernst zu nehmen.

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Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe vom 5. Mai 2019.

Es ist der größte Schwitzkasten der Welt: Nicht einmal der knatternde Ventilator kann die drückende Schwüle vertreiben – auch wenn der schwere Regen längst abgezogen ist und die Zigtausenden Wasseradern im Amazonasbecken Brasiliens genährt hat, bleibt sie. Genau wie das Ungeziefer: In der Dunkelheit des Dschungels zirpt, raschelt und tropft es. In der Hütte krabbeln Küchenschaben über den Boden. Das Hausäffchen turnt unter dem rostigen Wellblechdach. Stechmücken umschwirren die beleuchteten Gesichter.

Xami vom Stamm der Tucano im Bundesstaat Amazonas hockt im Wohnraum auf seiner fleckigen alten Matratze. Seine Haut glänzt. Der Schweiß malt Flecken auf seinem Shirt. Seine Frau Tãtupoa wuselt durchs Wohnzimmer, serviert zum Abendprogramm warme Tapioka-Fladen und heißes Wasser mit Zuckerrohr-Sirup. Geistesabwesend knabbert der Ureinwohner am gelben Getreidefladen. Sein Blick ist starr auf den neuen Flachbildfernseher an der Holzwand gerichtet.

Mit dem 55-Zoll-Bildschirm, über den das Programm des Senders Rede Globo flimmert, sind der digitale Wandel und die Außenwelt in der Abgeschiedenheit des Urwaldes angekommen – und damit auch Bild und Stimme des neuen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro.

Der Aufstieg des ehemaligen Fallschirmjägers begann 2016 mit der schwer stotternden Wirtschaft und dem Niedergang der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff. Die ehemalige Guerilla-Kämpferin wurde wegen eines Korruptionsskandals, in den große Teile der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes verwickelt waren, ihres Amtes enthoben.

Kugel, Vieh und Bibel

In dieser Situation machte der Kongressabgeordnete Bolsonaro seinen zweiten Vornamen zum Programm seiner Präsidentschaftskandidatur: Messias. Er umwarb das erboste Volk als Retter; und er erlitt sein eigenes Martyrium, das ihn endgültig zur Lichtgestalt machte – im Wahlkampf rammte ihm ein Attentäter ein Messer in den Bauch, Bolsonaro überlebte nur durch eine Notoperation.

Seine Ideologie wurde mit der Alliteration „bala, boi e bíblia“ (Kugel, Vieh und Bibel) umschrieben – zur Freude von Militär, Wirtschaft und Kirche. Gleichzeitig diskreditierte er Randgruppen, empörte, beleidigte, verängstigte und spuckte frauenfeindliche, rassistische und homophobe Töne. Die wurden auch fernab der brasilianischen Metropolen und Megastädte gehört.

Jetzt schlägt die Xenophobie auch Xami und Tãtupoa im Dorf Roxinol aus dem Fernseher entgegen. Als Bolsonaro auf dem Schirm auftaucht, wird der ansonsten besonnene Indianer erst zornig, dann traurig. Spricht erst aufgeregt in seiner Sprache Tucano, dann auf Portugiesisch: „Bolsonaro nos odeia“ – Bolsonaro hasst uns. Seine Stimme verebbt. Xami trocknet sich die Augen.

Indigenen-Hasser

Rassenhass ist in dem 209-Millionen-Einwohner-Staat Brasilien seit jeher ein Problem. Mit dem neuen Präsidenten wird er aber endgültig salonfähig. Der Präsident demaskierte sich bereits 1998 als Indigenen-Hasser, als er öffentlich bedauerte, dass die brasilianische Kavallerie nicht so effizient gewesen sei wie die amerikanische bei der Ausrottung der Indianer.

Seit Bolsonaros Wahlsieg im Oktober seien die Übergriffe gegen Indigene um 150 Prozent gestiegen, so Fiona Watson von der NGO Survival International. Gemeinden melden mehr Angriffe, berichtet auch Jean Bellini von der katholischen Hilfsorganisation CPT (Comissão Pastoral da Terra). Immer öfter endet der Widerstand mit Gewalt.

Zehn Tote zählte CPT im heurigen Jahr bereits. Das jüngste Blutvergießen forderte sechs Menschenleben im Bundesstaat Para, als Bewaffnete ein Haus unter Beschuss nahmen. Dabei kam auch ein Polizist, der als Schütze angeheuert wurde, ums Leben. Am 11. Jänner drangen 40 Männer in das Gebiet der Uru Eu Wau Wau ein, eines Stammes aus dem Bundesstaat Rondônia an der Grenze zu Bolivien, und fielen über die Ureinwohner her. Ähnliches berichteten Angehörige anderer Ethnien. Die Täter sind Holzfäller, Bauern und Großgrundbesitzer, die Boden annektieren wollen.

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Mühsam, mit der Machete in der linken Hand, den Kapuzineraffen auf dem rechten Arm, kämpft sich die elfjährige Ligiane durch den Dschungel, sechs Stunden Bootsfahrt von Manaus entfernt. Lediglich ihr Instinkt führt das Mädchen mit den farbig bemalten Nägeln, den dunklen Augen und den dreckigen Flipflops durch das Dickicht. Eine halbe Stunde über Stämme und unter Lianen hindurch, findet sie die Erdhügel auf der Lichtung, schlägt Palmblätter von Bäumen, formt Trichter und beginnt zu graben.

An Halmen lässt das Mädchen Ameisen in den Blattbehälter spazieren, manche landen in ihrer Hand und direkt im Mund. Die Sechsbeiner sind ihr Aperitif. Schnell zubeißen. Dem würzig-rauchigen Geschmack schiebt sie ein trockenes Stück Tapioka nach. Dann geht es wieder zurück in das dicht bewachsene Immergrün. Im Fachjargon heißen sie unberührte Primärwälder, und allein von ihnen wurde in Brasilien im ersten Jahresdrittel etwa drei Mal die Fläche von Wien gerodet. Das sind 1919 Fußballfelder. Pro Tag.

Seit 1988 beobachtet das brasilianische Raumforschungsinstituts INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais) mit Sitz in São Paulo den Regenwald-Schwund. In diesem Zeitraum sind in Brasilien mehr als 760.000 Quadratkilometer Regenwald verschwunden – neun Mal die Fläche von Österreich.

Anfang der 2000er-Jahre ging die Waldrodung deutlich zurück, inzwischen steigt sie rasant. Auch hier zeigt sich der Bolsonaro-Effekt: Im November 2018 – einen Monat nach der Präsidenten-Stichwahl – wurden gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 um 400 Prozent mehr Urwald vernichtet als zuvor.

Ureinwohner bei einem Ritualtanz

Am größten ist der Flächenverlust in den Bundesstaaten Mato Grosso, Roraima, Pará und Rondônia. Fehlen die Bäume, verdunstet weniger Wasser, fällt weniger Regen, und die Trockenperioden dauern länger. 2014 ließ eine der ärgsten Dürren die Flüsse fast austrocknen. Es kam zu Engpässen in der Stromversorgung, weil die Turbinen mangels Wasser irgendwann stillstanden. Unter der Trockenheit litt auch die Landwirtschaft. Brasilien – inzwischen der führende Soja-Exporteur – ist in einem Teufelskreis gefangen.

Die Urwaldzerstörung gefährdet die Artenvielfalt. Sie macht den Vielvölkerstaat zu einem der größten Treibhausgas-Verursacher überhaupt und hat weitreichende Auswirkungen auf das Klima. Der Regenwald ist ein riesiger Kohlenstoffspeicher, nimmt Kohlendioxid auf und senkt damit den Ausstoß von Emissionen, erklärt die Naturschutzorganisation WWF. Je mehr Bäume abgeholzt werden, desto stärker wird die Erderwärmung. Aber davon will der Präsident nichts wissen. Er hält den Klimawandel für eine marxistische Verschwörung und will das Pariser Klimaabkommen am liebsten sofort kündigen.

Anziehung des Geldes

Illegale Holzfäller sind für den Großteil der Zerstörungen verantwortlich. Es gibt aber auch Erzählungen über Ausnahmen: Vereinzelt würden auch die „Hüter des Waldes“, wie sich Ureinwohner bezeichnen, das Übel verursachen. Weil sie der Anziehung des Geldes nicht widerstehen können, verscherbeln sie ihr Gebiet an Goldschürfer und Großgrundbesitzer. „Wenn sie Geld bekommen, hacken sie auch ihre heiligen Bäume ab“, sagt Gero Misquita, selbst in jungen Jahren Schatzsucher in Minas Gerais. So manche Begegnungen mit den dort ansässigen Indigenen hätten sein romantisches Bild der Dschungelbeschützer verändert.

Dass Stämme wie Waimiri Atroari Wucher mit Anthropologen und Journalisten treiben, wundert den Tourveranstalter – er bietet nachhaltigen Tourismus mit Indigenen an – nicht. Für einen eintägigen Kurzbesuch verlangen die Chefs des Volks, das durch ein Staudammprojekt entwurzelt wurde, ein Bewerbungsvideo der Ankömmlinge und umgerechnet 2500 Euro. Wer gut verhandelt, kann den Preis aber deutlich drücken.

Diese „Tiere im Zoo“, wie Jair Bolsonaro die Ureinwohner in ihren Schutzgebieten despektierlich bezeichnete, möchten wie alle anderen Brasilianer auch Geld verdienen und Handel betreiben. Doch das will der Präsident mit neuen Regelungen unterbinden. Ein Vorgehen wie zu Zeiten der Militärjunta – zu der sich Bolsonaro immer wieder bekennt – zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren. Keinen Millimeter Land wolle er den etwa 900.000 Indigenen der 240 Stämme zugestehen, sagte der Bolsonaro oft in Interviews. Gleichzeitig will er Schutzvorschriften, die von früheren Regierungen erlassen wurden, rückgängig machen und stattdessen „flexiblere Lizenzen“ schaffen.

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Über dem Feuer hinter ihrer Holzhütte brutzelt die frisch gefangene und gehäutete Beute: Flügel und Herz des langhalsigen blassen Huhns aus dem Garten. Ein schuppiger Fisch. Und der kopflose, ausgelöste Körper einer Ratte.

Das Fleisch wird gewendet. Die Männer des Stammes hocken rundherum und erzählen sich die Geschichten vom Jagen. Die Frauen decken ein und laden zu Tisch. Die Idylle könnte eine Frau nachhaltig stören: Damares Alves, die von Bolsonaro neu ernannte Generalsekretärin der IndigenenSchutzbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio). Alves ist eine evangelikale Predigerin, die sich unter anderem der Missionierung indigener Völker verschrieben hat. Jetzt fordert sie, dass nicht kontaktierte Stämme aufgesucht und in die Gesellschaft integriert werden müssen – und das führt dazu, dass fundamentalistische Missionare in den Regenwald ziehen.

Noch folgenreicher dürfte aber die generelle Umstrukturierung von FUNAI sein. Wenige Stunden nach seiner Angelobung ließ Bolsonaro das Ressort vom Justiz- ins Landwirtschaftsministerium verlegen.

Die Signalwirkung war enorm: Die mächtige brasilianische Agrarlobby unter Ministerin Tereza Cristina Costa – nach einer umstrittenen Gesetzesänderung für Pestizideinsätze von brasilianischen Medien als „Göttin des Gifts“ bezeichnet – hat seit Januar direkten Zugriff auf Reservate. Fiona Watson von Survival befürchtet, dass damit Investitionen und der Rohstoffabbau noch schneller vorangetrieben werden. Geld für die Menschen. Soja für die Rinder. Rindfleisch für den Weltmarkt.

Fleischproduzent profitiert

Davon profitiert wiederum JBS (José Batista Sobrinho Sociedade Anónima). Der weltgrößte Fleischproduzent ist in Brasilien beheimatet, hat 230.000 Mitarbeiter und führt in 150 Betrieben täglich mehr als 50.000 Rinder-Schlachtungen durch. Die gestiegene Nachfrage in den USA und in Asien bescherte dem Unternehmen, das 2017 in einen Schmiergeldskandal rund um den Ex-Staatspräsidenten Michel Temer verwickelt war, vergangenes Jahr einen Rekordumsatz von 41,3 Milliarden Euro. Um elf Prozent mehr als im Jahr davor.

Währenddessen ließ Bolsonaro Luciana Evaristo feuern. Der Chef des brasilianischen „Instituts für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen“ (IBAMA) war eine treibende Kraft gegen organisierte Kriminalität und Ausbeutung des Amazonas, wie die Organisation „Observatoria do Clima“ berichtete.

Bolsonaro hasse die Umweltbehörde, heißt es intern. Der Grund sei ein privater Vorfall: 2012 wurde der damalige Kongressabgeordnete beim illegalen Fischen erwischt und von IBAMA zu einer Geldbuße verurteilt. Die Retourkutsche folgte diesen März. José Olímpio Augusto Morelli, Leiter des Luftoperationszentrums, musste als Aufdecker des Falles seinen Schreibtisch räumen. Der Präsident, der innerhalb der ersten 100 Tage bereits mit Ministerentlassungen, Bestechung und einem dubiosen Auftragsmord an einer Politikerin, in den möglicherweise einer seiner Söhne verwickelt ist, für Wirbel gesorgt hat, nutze seinen Einfluss bestmöglich aus, sagt ein Sprecher der IBAMA-Zweigstelle in Manaus.

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Gisely beobachtet jeden Schritt ihres Vaters, ihres Onkels und ihres Bruders. Mit ihrem alten Samsung S3 filmt das Mädchen, wie die drei ranghöchsten Männer Position für den Ritualtanz einnehmen, in ihre Panflöten blasen und zum Rhythmus in den staubigen Boden des Stammeshauses, genannt Maloca, stampfen.

Einmal pro Woche bringt ihr Großonkel Xami die 13-Jährige zusammen mit ihrer Cousine Ligiane mit dem knatternden einmotorigen Boot über den Rio Uaupés und Rio Negro in die Dschungelhauptstadt. Nicht weit von dem Zusammentreffen des schwarzen Flusses und dem milchkaffeebraunen Rio Solimões zeigt Gisely das Video Touristen, die mit den großen Amazonasdampfern in Manaus anlegen, und verkauft ihnen selbst gebastelte Ketten und Ohrringe aus Federn für gutes Geld.

Bolsonaro am Bildschirm

So gelingt der Spagat zwischen dem Leben, das die Tucanos im Wald führen, und dem Leben, das ihnen jeden Abend die Menschen aus dem Flachbildschirm vor Augen führen. Wieder einmal ist es Bolsonaro, der bei Xami und Tãtupoa auf dem 55-Zoll-Bildschirm im Dschungel erscheint. Wieder geht es um umstrittene Territorien. Dieses Mal ist Brasília, etwa 970 Kilometer vom abgeschiedenen Stamm der Tucano entfernt, der Schauplatz.

Der Nationalkongress in der Hauptstadt hat 120 Tage Zeit, zu entscheiden, ob die „flexiblen Nutzungsvergaben“ des Landwirtschaftsministeriums ratifiziert werden. Stichtag ist der 2. Mai. Es geht um die indigenen Schutzgebiete, die sich auf lediglich 13 Prozent der 8,5 Millionen Quadratkilometer beschränken. Auf dem Spiel steht aber viel mehr: die Zukunft von Millionen Indigenen, die im Amazonasgebiet leben und den größten ökologischen Schatz hüten: die Lunge der Erde, wie Xami sie nennt.

Geht es so weiter, könnte sie bald eine Embolie erleiden. Und die ganze Welt bekäme Atemnot.