Gottes Stadt und Sergios Beitrag

Brasilien: Die Gewalt kehrt in die Favelas zurück

Brasilien. Die Gewalt kehrt in die Favelas zurück

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Text und Fotos: Hanna Silbermayr, Rio de Janeiro

Es drängt Sergio Barriga regelrecht bis ganz nach oben. Mit schnellen Schritten schlängelt er sich durch die engen, immer steiler werdenden Gassen; er steigt unzählige Treppenstufen hinauf, vorbei an nacktem Mauerwerk, provisorisch abgeklemmten Stromkabeln und dröhnender Funk-Musik. Kurz vor dem Ziel lehnt er eine Holzleiter gegen einen roten Felsen und klettert hinauf. Er breitet die Arme aus und deutet Richtung Horizont: "Das ist sie, die Stadt Gottes.“

Über den Dächern ragen die Hügel von Rio de Janeiro, der Stadt mit dem Beinamen "die Wunderbare“, empor.

"Bang, Bang, Bang, Bang!"
"Du hast noch nie eine Schießerei gesehen?“, fragt Sergio ungläubig, während er Daumen und Zeigefinger zu einer Pistole formt: "Bang, Bang, Bang, Bang!“

"Cidade de Deus“ (Stadt Gottes) ist die bekannteste Favela Brasiliens, berühmt geworden durch den Kinohit "City of God“, das den brutalen, von Armut, Drogen und Bandenkriegen geprägten Alltag in den Armenvierteln von Rio zeigt.


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Sergio, 55 Jahre, ist hier aufgewachsen, und sieht so aus, wie man sich gemeinhin den Bewohner eines solchen Viertels vorstellt: Er trägt eine große Uhr am Handgelenk, am Hals baumelt eine schwere Goldkette, der Kopf ist kahl geschoren, Arme und Beine sind von dunklen Narben überzogen. Wie viele Schießereien er schon miterlebt hat?

Er zuckt mit den Schultern: "Viele.“

Ein Drittel lebt in Favelas
Die "Stadt Gottes“ wurde Mitte der 1960er-Jahre gegründet, um die Armut an die Peripherie zu drängen. Heute beherbergt sie etwa 47.000 Menschen. Ein Drittel der Bevölkerung von Rio de Janeiro lebt in derartigen Favelas, von denen es in der Stadt rund 1000 gibt.

Zählt man die Bewohner aller Elendsviertel Brasiliens zusammen, kommt man fast auf die Bevölkerungszahl von Portugal: 11,3 Millionen.

Die "Stadt Gottes“ ist eine Stadt in der Stadt - ohne Staat. Nur die wenigsten Straßen sind asphaltiert, in den Bächen sammelt sich der Müll, es fehlt an funktionierenden Strom- und Wasserleitungen. Wer hier Probleme hat, sucht nicht Polizisten oder Anwälte auf, sondern die Drogenbosse. Und diese wiederum sind nicht nur für die Sicherheit zuständig, sondern auch für Kinderbetreuung, Altenpflege, Internetverbindung - und sogar für die Organisation der selbst bei reichen Kids angesagten Funk-Partys.

Seit ihrem Bestehen funktionierten die Armenviertel nach ihren eigenen Regeln, weil Drogenbanden die Leere ausfüllen, die der fehlende Staat hinterlassen hat.

"Rückeroberung" für Großereignisse
Das änderte sich, als Brasilien den Zuschlag für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele im Sommer 2016 bekam. Die Regierung sah sich gezwungen, das Gewaltproblem in den Griff zu bekommen. Seit 2008 versuchen die Behörden, die Banden mithilfe von schwer bewaffneten Sondereinheiten zu vertreiben. In Rio wurden bisher 38 Favelas mit insgesamt über einer Million Einwohner "rückerobert“, wie Politiker es nennen. Bis zum Jahr 2016 soll die Zahl auf 100 steigen.

Die "Stadt Gottes“, eine Autostunde von Rios berühmter Strandpromenade Copacabana entfernt, war das zweite Viertel, das im Zuge der Befriedungsprogramme unter staatliche Kontrolle gebracht wurde. Seither patrouillieren "Friedenspolizeieinheiten“ (UPP) durch die Gassen. Der Name der Militäroperation: "Die Stadt Gottes gehört Gott.“

Wer in seinem Viertel Gott repräsentieren soll, weiß Sergio Barriga nicht. Seit die Fußball-WM zu Ende gegangen ist und die Polizei ihre während der Spiele ausgesetzten Operationen wieder aufgenommen hat, bricht erneut eine Welle der Gewalt über die Armenviertel herein.

Misshandlungen, Entführungen, Tötungen
"Die Stadt Gottes ist auch heute kein Paradies“, sagt Sergio. Von der UPP, die leicht bewaffnet und bürgernah auftritt, hält er wenig. Ihr Image ist angekratzt: Immer wieder ist in den Zeitungen von Misshandlungen, Entführungen und Tötungen unbescholtener Favela-Bewohner durch Friedenspolizisten zu lesen.

"Die bestehlen unsere Leute“, sagt Sergio mit dem Misstrauen eines Mannes, der die Exekutive bisher ausschließlich als Bedrohung kennengelernt hat. Brasiliens Sicherheitsorgane gelten selbst für lateinamerikanische Verhältnisse als besonders repressiv. Die Gewalttätigkeit und die Kultur der Straflosigkeit sind ein Erbe der 20 Jahre dauernden Militärdiktatur, die hier im Gegensatz zu den Nachbarländern bisher kaum aufgearbeitet wurde. Bis heute werden Polizisten in der Ausbildung darauf getrimmt, gegen all jene anzukämpfen, die aus Sicht der Elite der Gesellschaft schaden, statt Sicherheit für die gesamte Bevölkerung zu garantieren.

Hunderte Menschen bringt die Polizei laut Berichten von NGOs allein in Rio jedes Jahr um, die meisten Opfer zählt man in den Armenvierteln.

"Nur" Pistolen statt Maschinengewehre
Die "Stadt Gottes“ sei ein Ort, an dem die Menschen zusammenhalten, sagt Sergio. Angst vor den Nachbarn habe hier niemand, die meisten Türen stünden immer offen. Die Drogenbanden seien zwar noch da, sagt Sergio, sie verhielten sich nur unauffälliger - etwa indem sie "nur“ mit Pistolen schießen, statt wie früher mit Maschinengewehren. Auch Sergio hat eine Waffe: "Um meine Familie zu schützen“, sagt er, und zwar "vor der Polizei“. Denn wirklich viel geändert habe sich in der Favela bisher nichts.

Die Friedenspolizei sieht das freilich anders. Das Hauptgebäude der UPP befindet sich in einer der wenigen Straßen der "Stadt Gottes“, die keinen biblischen Namen tragen, in der Edgard-Werneck-Avenida. Es ist ein geschäftiger Ort, der zu keiner Uhrzeit zur Ruhe zu kommen scheint. In einem Anfang des Jahres veröffentlichten Bericht verweist die Bürgerpolizei darauf, dass vergangenes Jahr in der "Stadt Gottes“ kein einziger Mord begangen wurde. Fünf Jahre zuvor waren es noch 36 gewesen. Auch die Zahl der Raubüberfälle sei deutlich gesunken.

Stolz ist die UPP auch auf die Sozialprogramme im Viertel. Sie reichen von Alphabetisierungsmaßnahmen über Capoeira-, Karate-, und Boxunterricht bis hin zu Unternehmer- und Computerkursen. Auch die Infrastruktur wurde verbessert - etwa durch neue Elektrizitätsleitungen, an die sich Haushalte zu verminderten Preisen anschließen lassen können, um nicht darauf angewiesen zu sein, die Drogengangs für das illegale Abzapfen von Strom bezahlen zu müssen.

Benta fühlt sich sicherer
In einer kleinen Querstraße der Avenida, in einem bescheidenen Haus mit einer Tür aus festem Metall, lebt Benta Neves do Nascimento. Im Gegensatz zu Sergio schätzt sie die Präsenz der Befriedungspolizei. "Ich fühle mich inzwischen sicherer“, sagt die alte Dame. Heute könne sie vor ihrem Haus in der Sonne sitzen, ohne Angst haben zu müssen, dass von einer Sekunde auf die nächste eine Schießerei ausbricht.

Benta Neves do Nascimento ist 81 Jahre, sie hat die Höhen und Tiefen in der Geschichte der "Stadt Gottes“ miterlebt, und außerdem ist sie hier inzwischen so etwas wie eine Berühmtheit: Ihr Gesicht schmückt einen Geldschein. 2011 führte das "Staatssekretariat für Solidarökonomie“ eine Währung ein, mit der ausschließlich in der "Stadt Gottes“ gezahlt werden konnte. Sie sollte die Wirtschaft der Favela ankurbeln und den Geldfluss nach außen eindämmen, um den Unternehmern so ein neues Selbstbewusstsein geben zu können. CDD steht für den portugiesischen Namen der Favela: "Cidade de Deus“, und das Konterfei von Frau Benta ist auf der Fünf-CDD-Banknote abgebildet.

Anfang 2014 musste das Projekt, das von den Bewohnern dankbar angenommen worden war, einen empfindlichen Rückschlag verkraften. Seit im vergangenen Jänner bei einem Banküberfall Geldscheine im Wert von umgerechnet 2000 Euro gestohlen wurden, wartet die zuständige Bank vergeblich auf Nachschub.

Protest auf der Autobahn
Aber auch die neue Elektrizitätsversorgung funktioniert nicht zufriedenstellend: Kaputte Leitungen werden oft tagelang nicht repariert. Erst Ende Juli besetzten Bewohner der Favela stundenlang die nahegelegene Autobahn, um auf den Missstand hinzuweisen.

Der Protest sorgte weit über die Grenzen der "Stadt Gottes“ hinaus für Aufsehen - bis hin zu Brasiliens sozialdemokratischer Präsidentin Dilma Rousseff. Sie braucht bei den für Oktober anberaumten Präsidentschaftswahlen die Unterstützung der ärmeren Bevölkerungsschichten, welche die Kernwählerschicht der Arbeiterpartei stellen.

Immerhin ist ihr mit der früheren Umweltministerin Marina Silva eine veritable Gegnerin erwachsen. Die Grüne Silva hat es schaffte, zur Heldin der Protestbewegung aufzusteigen, die sich im Vorfeld der WM formiert hatte. Die Wut der Demonstranten richtete sich damals auch gegen die Polizeigewalt.

"Mit jedem Politiker hat sich ein bisschen etwas verbessert"
Deswegen schleichen dieser Tage Mitglieder der Arbeiterpartei in Dreiergruppen durch die Straßen der "Stadt Gottes“. Sie gehen von Haus zu Haus, dicke Plakate unter dem Arm, und wirken fehl am Platz, während sie unsicher an die Türen klopfen - auch bei Benta Neves do Nascimento. "Mit jedem Politiker hat sich in der Stadt Gottes ein bisschen etwas verbessert“, sagt die alte Frau. Die einen brachten Licht, die anderen Wasserleitungen. Benta lässt die Wahlwerber ein Plakat neben der Haustüre anbringen.

Sergio Barriga hingegen glaubt nicht daran, dass sich die Politiker nun tatsächlich für ihn und sein Viertel interessieren. "Die haben sich früher nicht einmal in die Nähe der, Stadt Gottes’ gewagt“, sagt er. Er glaubt viel eher, die Favela würde nach ihren eigenen Gesetzen viel besser funktionieren.

So ist Sergio hier aufgewachsen: Er richtet sich die Dinge, wie er sie braucht. Deswegen taucht er jetzt eine Malerrolle in weiße Farbe und streicht die Wände einer kleinen, einstöckigen Wohnung unter dem roten Felsen ganz oben am Hügel des Viertels. In ein paar Tagen muss sie für die neuen Bewohner bezugsfertig sein. Vor zehn Jahren hat Sergio sein erstes Grundstück in der "Stadt Gottes“ gekauft, danach hat er das Haus darauf renoviert, heute besitzt er acht davon. Sergio hat nichts gelernt, kann aber alles, er ist Immobilienbesitzer, Maurer, Fliesenleger, Taucher und bietet Maniküre an. Und er hat den Zeitgeist erkannt: Seit immer mehr Menschen aus der Mittelschicht aus den angrenzenden Stadtvierteln in die nunmehr befriedeten Favelas ziehen, sind die Immobilienpreise um 40 Prozent gestiegen.

Wert der Immobilien wird steigen
Wie viel das Anwesen hier gekostet hat? "Mein Motorrad“, sagt Sergio und grinst. Umgerechnet 160 Euro Miete verlangt er für die Wohnung. Und er weiß: In den nächsten Jahren wird der Wert seiner Immobilien steigen, vielleicht sogar auf das Doppelte. Darum wird Sergio demnächst auf dem flachen Dach seines eigenen unverputzten Ziegelhauses einfach ein weiteres Stockwerk bauen. Eine Genehmigung dafür hat er nicht, es fragt aber auch niemand danach. Und falls doch, werde das nötige Kleingeld ausreichen, sagt Sergio.

Am frühen Abend unterbricht er seine Arbeit, weil seine Freunde vorbeikommen. Auch sie sind in der "Stadt Gottes“ groß geworden. Sergio führt sie auf das Dach vor dem roten Felsen. Dort trinken sie ein Bier, rauchen einen Joint und genießen den Ausblick auf ihre Stadt. In der Ferne rauscht die Autobahn, über ihnen funkeln die Sterne und Sergio Barriga überlegt noch immer, wer denn nun Gott in der "Stadt Gottes“ sein soll.

Seine Freunde lachen laut: "Na du, Barriga!“, sagt einer. Schließlich habe kaum jemand aus dem Viertel das erreicht, was Sergio geschafft hat: den Aufstieg von einem Favela-Kind zu einem stolzen Immobilienbesitzer.