Angela Merkel

Deutschland: Die Ära Merkel wird - wieder einmal - für beendet erklärt

Deutschland ruft das Ende der Ära von Angela Merkel aus - doch die Bundeskanzlerin hört einfach weg.

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"Ain't it time we said goodbye?" "ANGIE", THE ROLLING STONES

Es gibt eine Sorte Brief, die man nur ein Mal im Lauf seiner politischen Karriere abschickt - und es ist nicht ganz zufällig dieselbe, die man in der Regel nur ein Mal erhält: Wer sie verfasst, ruft zum Sturz der Parteiführung auf; wer an der Parteiführung ist, erfährt von seinem drohenden Sturz.

"Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen", heißt es in einem derartigen Schreiben beispielsweise: "Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen."

Der offene Brief, aus dem diese Sätze stammen, wurde bereits 1999 veröffentlicht. Dass er dieser Tage wieder vielfach zitiert wird, hat mit seiner Verfasserin zu tun: Angela Merkel forderte darin als CDU-Generalsekretärin die Partei auf, sich ihres Langzeitvorsitzenden Helmut Kohl zu entledigen.

Vor 20 Jahren war Merkel die Angreiferin. Heute erinnert ihre Situation mehr als nur andeutungsweise an jene, in der sich damals Kohl befand: Nach einem Vierteljahrhundert an der Spitze der deutschen Christdemokraten zum Denkmal seiner Selbst erstarrt, wurde dieser von Teilen der Partei zunehmend als Belastung betrachtet.

Merkels Macht schwindet

Ähnlich ergeht es nun der Frau, die es der CDU damals ermöglichte, diese Bürde abzuschütteln. Die Begleitumstände sind nicht miteinander zu vergleichen: Kohl wurde von einer lästigen Parteispendenaffäre verfolgt und hatte die Unionsparteien durch eine verlorene Bundestagswahl die Regierungsmacht gekostet. Merkel - der auf die Amtszeitrekorde ihres Vorgängers einige Jahre fehlen - ist amtierende Bundeskanzlerin und, was Skandale betrifft, ohne Fehl und Tadel.

Dennoch: Seit vergangenem Dienstag herrscht in deutschen Medien kein Zweifel mehr, dass ihre Ära am Ende ist. Und tatsächlich ist bereits seit einiger Zeit evident, dass Merkels Macht schwindet.

Macht, sagte der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) einmal, sei "im Grunde die Möglichkeit, starken Einfluss auf künftige Entwicklungen zu nehmen. Zur Macht gehört auch, dass man Fehlentscheidungen unkommentiert durchsetzen kann."

Beides beschreibt die Situation von Angela Merkel auf dem Höhepunkt ihrer Macht. 2013 hat sie die Bundestagswahl triumphal gewonnen: Die Unionsparteien bekommen 41,5 Prozent, ein Plus von 7,7 Prozentpunkten. Merkel wird gefeiert "wie eine Heilsbringerin" (die "Welt"), auf den Fluren der CDU-Zentrale grölt die Parteiführung gemeinsam "Tage wie diese", den Hit der Toten Hosen.

Dann kommt der Sommer 2015, die Flüchtlingskrise und mit ihr eine Entscheidung, die der Bundeskanzlerin zwar internationale Anerkennung bringt, von Teilen der Bevölkerung und der Union aber als komplett verfehlt betrachtet wird - die Grenzen Deutschlands nicht zu schließen. Die Macht der Ereignisse ist größer als die damalige Macht der Kanzlerin: Ihr Entschluss bleibt auch parteiintern nicht unkommentiert. Vor allem aus der CSU kommt umgehend heftige Kritik.

Hat Merkel damals richtig gehandelt?

Noch ist die Geschichtsschreibung weit von einem validen Urteil darüber entfernt: Hat Merkel damals richtig gehandelt, weil die Situation sowohl in praktischer Hinsicht als auch aufgrund der Verpflichtung zu humanitären Werten tatsächlich alternativlos war - oder eben nicht?

Klar ist allerdings: Mit keinem anderen Thema hat Merkel, bewusst oder unbewusst, ihr politisches Erbe derart eng verknüpft wie mit diesem; über keines lassen sich Zustimmung oder Ablehnung ihr gegenüber klarer definieren; keines wirkt auch derart auf Entwicklungen der folgenden Jahre.

Mit den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht 2015/2016 von Köln dreht sich die Stimmung in Deutschland. Was erst Hilfsbereitschaft war und dann zum Unbehagen wurde, mutiert nun zu Feindseligkeit. Auch in der CDU, die offiziell unerschütterlich hinter dem Kurs der Regierung steht, beginnt es zu grummeln.

Im Berliner Bundeskanzleramt wird weggehört. Sei es, weil Merkel so tief davon überzeugt ist, richtig zu handeln, dass sich jede Reaktion von selbst verbietet; sei es, weil sie bis dahin immer Erfolg damit hatte, Problemen so zu begegnen wie lästigen Wespen im Biergarten: ruhig sitzenbleiben und nicht fuchteln, bis sie sich irgendwann verziehen.

Dass die Methode diesmal nicht wirklich anschlagen will, ignorieren Merkel und ihr Umfeld. Dass die Presse immer unfreundlicher formuliert, ebenfalls. "Die Entrückten. Wie späte Kanzler ihr Volk verlieren" schlagzeilt der "Spiegel" im September 2016, am Cover prangen Konrad Adenauer (1963 im 14. Jahr als Bundeskanzler weggemobbt), Helmut Kohl (1999 nach vier Legislaturperioden geschasst) und Angela Merkel (damals elf Jahre im Amt). Auch derlei irritiert die Kanzlerin offenbar nicht -Abgesänge der Presse hatte es schon gegeben, als sie noch gar nicht im Amt war: "Der Anfang vom Ende der Ära Merkel lässt sich, wenn man den deutschen Medien glaubt, ziemlich exakt auf den Anfang der Ära Merkel datieren", bringt es der Blogger Stefan Niggemeier spöttisch auf den Punkt.

Respekt von ausländischen Medien

Abgesehen davon: Je mehr die deutschen Medien an der Kanzlerin herummäkeln, desto mehr zollen ihr die ausländischen Respekt. Der britische "Economist" wünscht sich 2017 sogar eine weiter Amtszeit der deutschen Bundeskanzlerin: "Why Angela Merkel deserves to win Germany's election" (Warum Angela Merkel verdient, die deutsche Wahl zu gewinnen), heißt es dort.

Merkel zögert die Bekanntgabe, ob sie bei der Bundestagswahl 2017 nochmals antritt, lange hinaus. In Wahrheit führt aber wohl nichts daran vorbei. Anders wäre es nicht möglich, nachträglich eine demokratische Legitimation für die Entscheidungen des Jahres 2015 zu bekommen. Das Ergebnis lässt alle Interpretationen offen. Die Union bleibt mit knapp 33 Prozent zwar stärkste Kraft, verliert aber 8,6 Prozentpunkte.

Die Regierungsbildung wird zum Alptraum, am Ende steht eine Große Koalition mit dem zweiten Wahlverlierer: der SPD, die auf einen historischen Tiefstand von 20,5 Prozent abgesackt ist. Dennoch erklärte Merkel, sie wisse nicht, was man im Wahlkampf und davor "hätte anders machen können".

Allerdings scheint (auch wenn Merkel sich nicht dazu äußert) zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass sie keine vierte Legislaturperiode mehr anstreben wird, und dadurch wird ihre Macht antastbar: "Es gibt das Phänomen, dass Autorität zwangsläufig sinkt, wenn sich erst einmal das Ende einer Amtszeit abzeichnet", schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Wenige Monate nach der Bundestagswahl scheitert Merkel daran, ihre enge Vertraute Annette Schavan als Vorsitzende der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung zu installieren. Die frühere Bundesbildungsministerin hat Plagiatsvorwürfe am Hals, ihre Bestellung für den prestigeträchtigen Posten wird durch parteiinternen Widerstand verhindert.

Wenig später sorgt Landwirtschaftsminister Christian Schmidt mit einem Alleingang beim Reizthema Glyphosat in Brüssel für koalitionsinternen Ärger. "Während ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel ein Mal einen Minister entlassen, Norbert Röttgen war das, 2012, auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber Schmidt, der sich offen gegen sie gestellt hatte, konnte sie schon nicht mehr entlassen", analysiert die Wochenzeitung "Die Zeit".

Eigene Fraktion gegen Merkel

Schon Monate zuvor hat sich die Parlamentsfraktion der Union in einer europapolitisch heiklen Angelegenheit gegen sie gestellt - durch ein Papier, das hart mit den Vorschlägen von Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron für eine Reform der EU ins Gericht ging. Merkel hätte Medienberichten zufolge lieber mehr Entgegenkommen für ihr Gegenüber in Paris gesehen. Die Mandatare beurteilten Macrons Vorstoß für eine stärkere europäische Integration aber vor allem skeptisch.

Federführend bei der Formulierung war der Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus, damals einer größeren Öffentlichkeit unbekannt. Und niemand konnte ahnen, dass er Merkels Machterosion wenige Monate später zur Tatsache machen würde.

Am Dienstag vergangener Woche gewann Brinkhaus völlig überraschend die Wahl zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - diese ist mit der österreichischen Funktion eines Klubobmanns vergleichbar. Er war gegen den erklärten Willen der Parteiführung angetreten, der es nach ungeschriebenem Unions-Gesetz alleine zusteht, Kandidaten für den Posten zu bestimmen. Noch dazu schlug er ausgerechnet Volker Kauder, einen Merkel-Vertrauten der ersten Stunde, aus dem Feld.

"Selbst die SPD hat Kanzler Gerhard Schröder in schwersten Zeiten nie so eine Niederlage beigebracht", schrieb die "Süddeutsche Zeitung": Die Kanzlerin könne sich "des Rückhalts der eigenen Leute nicht mehr sicher sein." Ein "Signal gegen ein System, das die eigenen Leute als verkrustet empfanden. Und das sie nicht anders loswerden konnten als in einem geheim geführten Befreiungsschlag", sah die "FAZ". Und die tendenziell Merkel-freundliche "Zeit" diagnostizierte nun auch offiziell "Machtverlust", Untertitel: "Wie eine große Kanzlerin erst das Gespür für das Volk und dann für ihre eigene Partei verloren hat."

Seither heißt es, sie habe den Zeitpunkt des Abgangs verpasst. Kommentatoren benutzen Worte wie "würdevoll" und "selbstbestimmt", die ein bisschen nach Palliativpflege klingen. Währenddessen versuchte die Union den Eindruck zu erwecken, es sei überhaupt nichts Nennenswertes passiert - Demokratie am Werk, so what?

CSU-Desaster droht

Aber am 14. Oktober sind Landtagswahlen in Bayern, der CSU droht dabei allen Umfragen zufolge ein Desaster. Ende Oktober wählt Hessen, dort wird der CDU ein Ergebnis unter 30 Prozent vorausgesagt. Und im Dezember ist CDU-Bundesparteitag und damit die erste Chance, einen geordneten Übergang einzuleiten.

Die Frage ist allerdings mit einer Richtungsentscheidung verbunden, die auf ganz Europa ausstrahlt, weil sie mit dem Kurs der Migrationspolitik verbunden ist: Bekommt der rechte Flügel der CDU, repräsentiert beispielsweise von Gesundheitsminister Jens Spahn, mehr Einfluss? Oder jener, der sich an Merkels Linie orientiert und zu dem etwa Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer gehört?

Die öffentlich Totgesagte selbst macht allerdings ohnehin keine erkennbaren Anstalten, sich auf das politische Sterbebett zu legen. Sie kündigt an, am Parteitag erneut als CDU-Vorsitzende zu kandidieren. Und sie lässt wissen, dass diese Funktion und das Amt des Bundeskanzlers untrennbar miteinander verbunden sind. Auch ein neuerliches Antreten bei der Wahl 2021 will Merkel nicht ausschließen.

Steht dahinter die Hybris der Überzeugung, immer richtig gehandelt zu haben? Realitätsverweigerung? Die unstillbare Lust an der Macht? Das Gefühl, unersetzbar zu sein? Oder doch: Die selbst auferlegte Verpflichtung, sich nicht aus der Verantwortung zu stehlen? Wahrscheinlich von allem ein bisschen, in einem Mischungsverhältnis, das nur Angela Merkel selbst kennt.

Möglich, dass vorerst alle weitermachen wie gewohnt, allen maßgeblichen Einschätzungen außerhalb der Partei zum Trotz. Möglich, dass das noch eine Weile funktioniert, bis Merkel von sich aus geht.

Möglich aber auch, dass irgendjemand - in welcher Form auch immer - zuvor einen Brief schreibt. Wer das tut, tut es nur ein Mal: Wenn er sich mit seiner Forderung nicht durchsetzt, ist seine Karriere beendet. Und wenn er gewinnt, ist er an der Macht. Er (oder sie) muss jedoch befürchten, den gleichen Brief von jemand anderem zu bekommen. Niemand sollte das besser wissen als Angela Merkel selbst.

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