"Wir gehen einen selbstmörderischen Weg"

Eskalation im Nahost-Konflikt: Israel geht "einen selbstmörderischen Weg"

Israel. Historiker Tom Segev über Eskalation im Nahostkonflikt

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Interview: Michael Hesse

Es ist eine Tat, die weit über Israel hinaus für Empörung sorgt: Vergangene Woche wurden in der Nähe der Stadt Hebron die Leichen von drei jungen Israelis gefunden, die zweieinhalb Wochen zuvor im besetzten Westjordanland entführt worden waren.

Die israelische Regierung macht für das Verbrechen die radikal-islamische Hamas verantwortlich und reagierte unter anderem mit Luftschlägen auf militärische Einrichtungen der Palästinenserorganisation im Gaza-Streifen. Von dort wurden wiederum Raketen auf Israel abgefeuert.

Damit droht der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ein weiteres Mal zu eskalieren.

profil: Ist als Reaktion auf den Tod der drei jugendlichen Siedler ein neuer Krieg zwischen Israelis und Palästinensern zu befürchten?
Tom Segev: Ich war niemals gut darin, Voraussagen zu treffen. Wenn Sie mich vor 40 Jahren gefragt hätten, ob Anfang des 21. Jahrhunderts im Nahen Osten Frieden herrschen würde, hätte ich mit "Ja, natürlich“ geantwortet. Jetzt weiß niemand genau, was passieren wird.

profil: Wie sind die Rachedrohungen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu verstehen?
Segev: Ich glaube, dass Netanjahu es nicht einfach hat. Militärisch hat er nicht viele sinnvolle Optionen. Aber die politisch extrem rechten Mitglieder seines Kabinetts verlangen kriegerische Handlungen, die zum Teil der Stimmung in Israel entsprechen. Die wichtigste Aussage in Netanjahus Rede am Tag der Beerdigung bezog sich darauf, dass es eine moralische Kluft zwischen Israel und seinen Feinden gebe. "Wir tun solche Dinge nicht“, sagte er. Das kann man als ein vorweggenommenes Alibi verstehen, etwas sehr Dramatisches zu unternehmen.

profil: Entspricht das der Stimmung in der israelischen Gesellschaft?
Segev: Die Stimmung in Israel ist unglaublich aufgeheizt. An der Beerdigung der drei Mordopfer nahmen 100.000 Menschen teil. Viele verlangen Rache. In der israelischen Bevölkerung stellen Einigkeit und Solidarität national-religiöse Werte dar. Sie werden nicht von jedem Israeli geteilt, dennoch handelt es sich um eine Art von tief verankertem Patriotismus. Gleichzeitig ist Israel eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Die drei getöteten Burschen gehören zum radikalen rechten Teil der Bevölkerung. In den ersten Tagen nach ihrem Verschwinden waren daher viele kritische Stimmen zu hören: Warum treiben sie sich in den besetzten Gebieten herum? Was haben sie dort verloren? Warum sind sie dort überhaupt?

profil: Diese Fragen werden inzwischen aber nicht mehr gestellt. Warum?
Segev: Inzwischen hat sich erwiesen, dass die Sicherheitskräfte vom ersten Moment an wussten, dass die drei tot sind - aufgrund eines Telefonats, das einer der Gekidnappten mit seinem Handy führte. Darauf waren die tödlichen Schüsse zu hören. Das israelische Fernsehen spielt das immer wieder ab. Ich selbst habe in den vergangenen Tagen 15, 16 Mal mitangehört, wie der junge Mann seinen eigenen Tod aufgezeichnet hat.

profil: Welchen Einfluss hat dieses Verbrechen auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern?
Segev: Er wird im Großen und Ganzen so weitergehen wie vorher. In Bezug auf die Palästinenser ist es wie seit vielen Jahren: Mal schlagen sie uns, mal schlagen wir sie. Aber im Grunde treten wir auf der Stelle.

profil: Angeblich wurden die Jugendlichen von Mitgliedern der Hamas getötet.
Segev: Wenn man Hamas sagt, meint man oft verschiedene Dinge. Es ist nicht so, dass die Hamas-Führung den Beschluss fasste, drei junge Männer umzubringen. Die Hamas hat sich auch nicht zur Tat bekannt. Das können ebenso gut lokale Sympathisanten gewesen sein - und die Morde eine Art "Arbeitsunfall“. Die Hamas als Organisation hat damit jedenfalls nichts gewonnen. Es gibt unter den Palästinensern die gleiche Abscheu gegenüber dem Verbrechen wie bei allen anderen anständigen Menschen auch.

profil: Vergangenen Mittwoch wurde dann offenbar aus Rache ein junger Paläsinenser ermordet. Wie bewerten Sie diese Tat?
Segev: Es ist noch unklar, ob sie einen kriminellen oder politischen Hintergrund hat. Ich kann nur sagen, dass die Atmosphäre hier in Israel im Augenblick sehr schlimm ist. Ich erwarte gerade einen Freund zu Besuch. Er ist Palästinenser und wurde gestern auf der Straße geschlagen.

profil: Welche Schlüsse sind aus all diesen Verbrechen zu ziehen?
Segev: Eigentlich sollten wir daraus etwas über die Gefahren für unsere Zukunft und die Zukunft Israels als einem Land lernen, das es wert ist, weiter fortzubestehen. Leider lernen die meisten Israelis daraus nur, dass man nun noch mehr Siedler in die besetzten Gebiete schicken muss. Und während ich von Jerusalem aus mit Ihnen spreche, beschießen Palästinenser aus Gaza das nah an der Grenze gelegene israelische Stadtchen Sderot mit Raketen.

profil: Wie groß ist der Gegensatz zwischen Palästinensern und Israelis geworden?
Segev: Sie haben sich sehr weit voneinander entfernt. Mit jedem neuen Siedler in den besetzten Gebieten wird es schwieriger, eine Lösung zu finden. Vergessen wir nicht: Dort leben inzwischen fast eine halbe Million Israelis, und man kann sie nicht einfach so aus der Welt schaffen.

profil: Und die Palästinenser?
Segev: Auch die Positionen der Palästinenser hinken der Wirklichkeit hinterher. Das ist schon immer so gewesen. Ich sehe tragischerweise keine Lösung. Wie Sie hören, bin ich nicht sehr optimistisch. Die Nachricht vom Tod der drei Jugendlichen macht mich furchtbar traurig, ist aber nicht der Grund für meinen generellen Pessimismus.

profil: Wo hat der Konflikt seine Wurzeln?
Segev: Ich schreibe im Augenblick die Geschichte von Ben Gurion, dem Gründer Israels. Ich war immer der Meinung, dass der Konflikt 1917 anfing. Nein, Ben Gurion wurde bereits im Jahr 1909 beinahe von einem Araber getötet. Er war damals gerade 23 Jahre alt. Die Wurzeln liegen so weit zurück, dass man gar nicht mehr sagen kann, wo falsche und richtige Entscheidungen getroffen wurden und was anders hätte laufen können.

profil: Und heute?
Segev: Heute sind wir immer noch genau an diesem Punkt. Im Grunde ist es ein Konflikt zwischen Identitäten, der jüdischen und palästinensischen. Beide Identitäten definieren sich durch das Land - und zwar das ganze Land. Deshalb reicht es niemals, Kompromisse über Wasser oder Grenzen oder Boden zu suchen. Es müssen immer Kompromisse über die Identität selbst verhandelt werden. Deshalb ist es auch so schwierig, eine Lösung zu finden.

profil: Welche Gefahr geht von den blutigen Konflikten in Syrien und dem Irak für Israel aus?
Segev: Es gibt höchst dramatische Entwicklungen im Nahen Osten um uns herum. Das kann vielleicht zu einem Krieg führen. Aber meiner Meinung nach liegt die Hauptgefahr für Israel innerhalb der israelischen Gesellschaft. Es ist die Unfähigkeit, Beschlüsse zu fassen, die uns vielleicht noch vor uns selbst retten würden. Es gibt in Israel etwa keine Mehrheit für einen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Das Resultat wird sein, dass in Israel irgendwann eine arabische Mehrheit herrschen wird. Der ganze Zionismus wird nicht mehr existieren. Wir gehen einen selbstmörderischen Weg. Das ist furchtbar tragisch und erschreckend zu beobachten. Aber es kann nur schlimmer werden, wenn nicht irgendetwas radikal Neues beschlossen wird.

profil: Was genau meinen Sie?
Segev: Wenn wir die besetzten Gebiete nicht räumen, leben wir mit den Palästinensern in einem einzigen Staat - und dieser wird dann von anderen Werten, andere konstitutionellen und anderen religiösen Einflüssen bestimmt. Es wird kein jüdischer Staat mehr sein und auch nicht mehr das Israel, wie wir es kennen. Vielleicht wird man in 50 Jahren dann zurückblicken und sagen: Es war eigentlich eine gute Idee, dass wir alle zusammenleben.

profil: Und?
Segev: Im Moment sieht es nicht danach aus. Die meisten Israelis und Palästinenser sind nicht daran interessiert. Ihre Religion, Geschichte, Grundwerte, ihre Identitäten sind zu unterschiedlich. Aber bis dahin werden noch viele Jahre der Unterdrückung von Palästinensern und der Eroberung ihrer Gebiete vergehen, weil es noch zu viele Israelis gibt, die meinen, dass dies in ihrem nationalen Interesse liegt.

Tom Segev, 69,

wurde als Sohn deutscher Einwanderer in Jerusalem geboren. Seit seinem Buch "Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“ (1995) gilt der Historiker als bekanntester Vertreter einer "neuen Geschichtsschreibung“ in Israel. 2010 erschien seine große Biografie über Simon Wiesenthal.