Brief an die Ärzte in Ost-Ghouta: "Euer unaufhörlicher Einsatz macht uns alle demütig"

Gastkommentar von Lorena Bilbao, Programmkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen für Syrien.

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mehr als ein Monat ist vergangen, seit die syrische Regierung und ihre Verbündeten ihre militärische Offensive in Ost-Ghouta intensiviert haben. Auf fünf Jahre Belagerung folgten mehrere Wochen, in denen gnadenlos Bomben aus der Luft abgeworfen und Granaten abgefeuert worden sind. Woche für Woche haben wir versucht, euch zu unterstützen, während Tausende Verwundete und Tote zu euch in die Kliniken gebracht wurden. Tag für Tag haben wir euch zugehört, wenn Ihr uns eure wachsende Erschöpfung und Verzweiflung geschildert habt.

Wir haben an die syrische Regierung, ihre Verbündeten und alle anderen involvierten Parteien appelliert, die Kämpfe zu beenden. Wir haben alles getan, was wir konnten, um aus der Ferne für euch da zu sein. Doch seit dem 18. Februar realisieren wir immer mehr, dass wir euch in den vielen Momenten schwerster Bedrängnis nicht ausreichend unterstützen können.

Wir sind eine Organisation, die stolz darauf ist, nahe an ihren Teams im Einsatz und bei den Patientinnen und Patienten zu sein. Darum ist es für uns besonders schwer zu akzeptieren, dass die Unterstützung, die wir euch geben können, auf unregelmäßige WhatsApp-Unterhaltungen und magere Nachschublieferungen beschränkt ist. Wir konnten nichts daran ändern, dass dringend benötigte medizinische Versorgungsgüter nicht für offizielle humanitäre Konvois zugelassen wurden, und wir können es nicht ändern, dass die medizinischen Geräte in unseren Lagerhäusern in Ost-Ghouta nicht ausreichen, um euren Bedarf bei der Behandlung eurer Patienten auch nur annähernd abzudecken.

Jetzt haben wir praktisch keinerlei Möglichkeit mehr, euch bei der medizinischen Versorgung der Menschen in Ost-Ghouta zu unterstützen. Zu Beginn der jüngsten Offensive haben wir 20 Krankenhäuser und Kliniken geholfen, einen Monat später können wir nur noch eine einzige Klinik unterstützen. Und selbst dorthin können wir keine medizinische Ausrüstung mehr bringen. Die anderen 19 Gesundheitseinrichtungen mussten geschlossen werden oder wurden verlassen, nachdem Regierungstruppen das Gebiet erobert hatten. Manche waren nach mehreren Treffern während der Offensive nicht mehr betriebsfähig. Die medizinische Not bleibt überwältigend: Menschen verschwinden nicht einfach, wenn sich Fronten verschieben.

Angesichts unserer wenigen verbliebenen Möglichkeiten wird mir bewusst, was ihr trotz allem erreicht habt und wie unglaublich wichtig eure Arbeit ist. Während die Todes- und Verletztenzahlen steigen, realisieren nur wenige, wie viele Leben gleichzeitig gerettet wurden. Was wäre geschehen, wenn ihr nicht dort gewesen wärt? Wieviel mehr Tote hätte es tagtäglich in Ost-Ghouta gegeben? Während unsere Möglichkeiten zur Unterstützung geschwunden sind, bleibt meine Hochachtung vor eurer Arbeit bestehen. Euer unaufhörlicher Einsatz macht uns alle demütig.

Wann immer es euch gelungen ist, eine Pause zu machen, die Arbeit ruhen zu lassen und nach Hause zu gehen, ist Euch dasselbe Grauen begegnet wie den Patientinnen und Patienten in euren Wartesälen.

Wann immer es euch gelungen ist, eine Pause zu machen, die Arbeit ruhen zu lassen und nach Hause zu gehen, ist Euch dasselbe Grauen begegnet wie den Patientinnen und Patienten in euren Wartesälen. Ich erinnere mich noch an die Nachricht, die uns einer von euch vor zwei Wochen geschrieben hat. Darin schilderst du, wie du mit deiner Familie mitten in der Nacht fliehen musstet und wie die Kampfflugzeuge über eure Köpfe kreisten. Du berichtetest von Menschen, die sich durch die Straßen schleppten, von weinenden und schreienden Kindern, von armen Seelen, die von Trümmern eingeklemmt wurden. Du schriebst davon, wie erleichtert du warst, als du glaubtest, einen sicheren Unterschlupf erreicht zu haben. Aber es kamen neue Bomben. Ich erinnere mich noch genau an die letzte Zeile deiner Nachricht: “Meine Kinder, meine Frau und alle Menschen um mich herum hätten in diesem Moment sterben können und ich hätte nichts für sie tun können. Diesen Moment werde ich niemals wieder vergessen.”

Trotz aller Versuche haben wir es nicht geschafft, den Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu helfen.

Der Krieg hält nun mehr als sieben Jahre an. Während dieser Zeit haben wir immer wieder versucht, Zugang zu verschiedenen Teilen des Landes zu bekommen, um medizinische und humanitäre Hilfe zu leisten. Wir haben versucht unsere Hilfe dort zu leisten, wo sie gebraucht wurde, unabhängig davon, wer die Region kontrollierte. Doch trotz aller Versuche haben wir es nicht geschafft, den Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu helfen. Seit Mai 2011 haben wir uns immer wieder an die syrische Regierung gewandt, um Zugang zu erhalten. Bis heute verlief das ohne Erfolg - wir es weiter versuchen.

In den Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, steigt der Bedarf an medizinischer Hilfe weiter, so wie in Ost-Ghouta. Dort haben wir uns entschieden, ohne offizielle Erlaubnis medizinische Hilfe auf den Weg zu bringen. Dadurch können wir keine ideale Versorgung bieten und euch mit der richtigen Ausstattung, Medikamenten und Beratung versorgen, aber angesichts der Umstände tun wir unser Möglichstes.

Ich möchte, dass ihr wisst, dass die wiederholte Verweigerung der syrischen Regierung und all die anderen Schwierigkeiten niemals unsere Entschlossenheit schmälern werden, eure Arbeit zu unterstützen. Wir wissen, wie wichtig eure Arbeit ist, wo auch immer ihr jetzt seid, ob weiterhin in Ost-Ghouta oder anderswo in Syrien. Wir werden weiter versuchen, Zugang zu den Gebieten zu bekommen, in denen die medizinische und humanitäre Hilfe am dringendsten notwendig ist. Wir werden unser Bestes tun, euch dabei zu unterstützen, Menschenleben zu retten. Trotz unseres extrem reduzierten Zugangs werden wir euch weiterhin jede noch mögliche fachliche und moralische Unterstützung zukommen lassen. Wenn auch durch das Ausmaß der Brutalität die Menschlichkeit kaum mehr sichtbar ist, seid ihr der Grund, warum ein Teil davon noch lebendig ist.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt seit 2013 medizinische Einrichtungen in Ost-Ghouta aus der Ferne. Zu Beginn der jüngsten Offensive unterstützte die Organisation in dem Gebiet 20 medizinische Einrichtungen. Die Unterstützung wird durch die Lieferung von medizinischem Material und finanziell bei den Gehältern von medizinischem Personal geleistet; zudem durch medizinische und Management-Expertise wie z.B. im Umgang mit Masseneinlieferungen von Verletzten.

Ärzte ohne Grenzen ist nicht in Gebieten aktiv, die vom so genannten Islamischen Staat kontrolliert werden, da von dessen Führung keine Sicherheit gewährleistet wird. Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sind wir nicht aktiv, da uns bis heute keine Erlaubnis erteilt wurde. Um unsere politische Unabhängigkeit zu gewährleisten, nehmen wir keine Regierungsmittel für die Arbeit in Syrien an.