HAMID KARZAI: "Verpflichtet, den Gesetzen des Gastlandes zu gehorchen"

Afghanistans Ex-Präsident Karzai: "Das schmerzt und empört mich"

Der ehemalige afghanische Staatspräsident Hamid Karzai über Abschiebungen, straffällige Landsleute, die Sicherheit Europas - und die Verantwortung der USA für den Zustand seines Heimatlandes.

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INTERVIEW: MARTIN STAUDINGER UND CHRISTOPH ZOTTER

profil: Vermuten wir zu Recht, dass Sie in Interviews immer nur über die Probleme Ihres Heimatlandes befragt werden? Karzai: Im Großen und Ganzen: Ja.

profil: Geht Ihnen das nicht schon ein bisschen auf die Nerven? Karzai: Aber nein. Es beschäftigt und fesselt uns doch alle. Also warum nicht?

profil: Anfang Dezember 2017 wurden Sie in einem Interview in Deutschland zur Frage der Abschiebung afghanischer Asylwerber folgendermaßen zitiert: "Fehlende Sicherheit, Hoffnungslosigkeit, deshalb ist unsere Jugend weggerannt nach Europa - schickt sie nicht zurück in die Gefahr." Diese Woche haben Sie in der "ZIB 2" der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass möglichst viele Afghanen aus Europa zurückkommen. Ist Afghanistan in den sechs Wochen dazwischen ein anderes Land geworden? Karzai: Die beiden Aussagen widersprechen sich im Grunde nicht. Die erste beschreibt die Fakten vor Ort, die andere bringt einen Wunsch zum Ausdruck: dass Afghanistan wieder uns gehört und wir es selbst aufbauen. Das wird nämlich niemand anderer für uns übernehmen. Die afghanische Jugend ist die wichtigste Kraft, die uns dafür zur Verfügung steht. Klarerweise kann man niemanden in Regionen mit hohem Sicherheitsrisiko zurückschicken. Aber es gibt auch viele Gegenden, die sicher sind. Und diejenigen, die zurückkehren wollen, sind herzlich eingeladen, das zu tun.

profil: Österreich und andere europäische Länder versuchen, abgelehnte oder straffällig gewordene Asylwerber aus Afghanistan möglichst rasch abzuschieben. Ist das Ihrer Meinung nach die richtige Herangehensweise? Karzai: Diejenigen von uns, die nach Österreich kommen, sind unserer eigenen moralischen Disziplin nach verpflichtet, den Gesetzen des Gastlandes zu gehorchen und seine Normen, Standards und Traditionen zu respektieren. Wenn wir mit diesen Gesetzen und Vorschriften nicht im Einklang stehen, ist es das souveräne Recht Österreichs, uns zu bitten, das Land zu verlassen. Aber diejenigen, denen hier Asyl gewährt wird, müssen voll und ganz dem Geist und der Praxis der österreichischen Gesetzgebung folgen und sicherstellen, dass sie sich bestmöglich als produktive Mitglieder in die Gesellschaft integrieren. Das heißt auch: hart arbeiten und sich nicht auf die Sozialhilfe verlassen.

Ich möchte die Afghanen auf diesem Weg auffordern, sich wie respektable Mitglieder der Gesellschaft zu verhalten.

profil: Gerade das Image afghanischer Asylwerber in Österreich ist allerdings nicht wirklich gut. Das liegt zum Teil an Vorurteilen, zum Teil aber auch am Faktum, dass sie in der Kriminalstatistik prozentuell überrepräsentiert sind. Karzai: Im Ernst? Das ist mir völlig neu. Generell nehmen wir afghanische Flüchtlinge nämlich als besonders integrationsfähig und fleißig wahr: Sie wissen selbst, wie man zurechtkommt. Möglicherweise ist es bei denjenigen, die Probleme haben, auf die außergewöhnlichen Umstände zurückzuführen, unter denen sie nach Österreich gekommen sind. Aber das zu hören, schmerzt und empört mich. Ich möchte die Afghanen auf diesem Weg auffordern, sich wie respektable Mitglieder der Gesellschaft zu verhalten.

profil: Die Vorwürfe stehen häufig im Zusammenhang mit Sexualdelikten. Kann das daran liegen, mit welchem Frauenbild afghanische Männer sozialisiert werden? Karzai: Ich habe keine Erklärung dafür. Es scheint mir ungewöhnlich, denn traditionell ist die afghanische Gesellschaft extrem respektvoll gegenüber Frauen.

profil: In Deutschland geraten Afghanen überdurchschnittlich oft unter Terrorismusverdacht - von den 952 einschlägigen Verfahren, die dort im vergangenen Jahr eingeleitet wurden, betrafen nicht weniger als 299 afghanische Staatsbürger. Karzai: Das ist aber eine andere Sache. Nach Erklärungen für diese Zahl müssen wir anderswo suchen als bei diesen Individuen. Dahinter muss es eine lenkende Hand geben. Und man kann sagen, dass Afghanistan bereits seit Jahren das Opfer derartiger Umtriebe ist. Besonders Pakistan versucht mit großem Aufwand, junge Afghanen zu gewaltsamen Aktivitäten zu verleiten -nicht nur in Afghanistan, sondern offenbar auch in Europa.

profil: Aktuell droht Pakistan damit, Hunderttausende afghanische Flüchtlinge in ihrer Heimat abzuschieben. Was passiert, wenn die Regierung in Islamabad mit dieser Drohung ernst macht? Karzai: Zunächst einmal: Die pakistanische Bevölkerung war für Millionen von Afghanen in den vergangenen Jahrzehnten ein so guter Gastgeber, dass es in der Geschichte der Menschheit fast keinen Vergleich dafür gibt. Dafür sind wir sehr dankbar. Man muss auch zugestehen, dass sich die pakistanische Regierung während der sowjetischen Besatzung und des Bürgerkrieges sehr löblich verhalten hat, als es darum ging, Afghanen aufzunehmen und ihnen ohne jede Einschränkung Zugang zu Arbeit und Ausbildung zu geben. Als nach 9/11 eine neue Ordnung in Afghanistan entstanden ist, sind Millionen in ihre Heimat zurückgekehrt. Diejenigen, die noch in Pakistan sind, wünschen sich eine würdige Rückkehr. Ich denke also nicht, dass die pakistanische Regierung diese Maßnahme durchsetzen wird. Ich appelliere an sie, die sehr gute Erinnerung an Pakistan nicht zu zerstören.

profil: Gleichzeitig weiß man aber, dass der pakistanische Geheimdienst die Taliban für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert. Karzai: Ja, das ist die andere, dunkle Seite der Geschichte. Und die Kosten dafür trägt nicht nur Afghanistan, sondern in vielerlei Hinsicht auch Europa und Österreich - denken wir nur an das Beispiel mit den Terror-Verdächtigen, das Sie gerade zitiert haben. Nicht zuletzt leidet aber auch die pakistanische Bevölkerung darunter.

Die Taliban sind Afghanen: Sie gehören zu uns, und wir müssen so oder so mit ihnen umzugehen lernen, besser früher als später.

profil: Vor drei Jahren hat die NATO ihren Kampfeinsatz in Afghanistan offiziell beendet. Seither haben die Taliban große Teile des Landes zurückerobert. Zudem scheinen auch Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" aus Syrien ins Land zu kommen. Fürchten Sie nicht, dass in Afghanistan ein Gottesstaat nach dem Vorbild des IS-Kalifats entsteht? Karzai: Nein, das fürchte ich nicht. Ich mache mir allerdings Sorgen, was die Kosten betrifft, die Afghanistan durch den IS entstehen - nicht finanziell, sondern durch menschliches Leid. Die Taliban sind Afghanen: Sie gehören zu uns, und wir müssen so oder so mit ihnen umzugehen lernen, besser früher als später. Der IS und seine Ziele hingegen sind uns völlig fremd und wir wollen ihn nicht.

profil: Das heißt: Sie wollen, dass sich die Taliban gleichberechtigt am politischen Prozess beteiligen? Karzai: Aber sicher. Als Afghanen sind wir jederzeit dazu bereit, Gespräche zu führen. Aber größeren Einfluss haben externe Faktoren, in erster Linie die Amerikaner und die Pakistanis. Verständigen sich diese beiden auf eine Friedensvereinbarung, dann gibt es Frieden. Sind sie negativ gegenüber Afghanistan oder uneinig, dann scheitern alle Bemühungen. US-Präsident Donald Trump hat gerade darauf hingewiesen, dass Pakistan die Freundschaft Amerikas jahrelang missbraucht hat. Wir hoffen, dass die Vereinigten Staaten im Einklang mit dieser Erkenntnis handeln und Wege finden, Pakistan auf einen Weg der Vernunft und des zivilisierten Verhaltens zurückzubringen.

profil: Wie bewerten Sie die Strategie der USA in Afghanistan in den vergangenen Jahren generell? Karzai: Sie war falsch, sehr falsch sogar. Das ist ja der Grund meines Zerwürfnisses mit den Amerikanern. Wenn sie offener für Ratschläge gewesen wären und uns zugehört hätten, wäre alles nicht so weit gekommen. Warum ist das Land denn unsicherer geworden? Warum gibt es mehr Probleme, warum mehr Extremismus, mehr Gewalt? Warum haben wir plötzlich den IS hier? Und wer ist der wichtigste Player? Die USA.

profil: War die westliche Intervention von Anfang an ein Fehler? Karzai: Das würde ich so nicht sagen. Die Intervention fand ja als einhellige Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Tragödie von 9/11 statt. Niemand war dagegen, nicht einmal Staaten, die in allen möglichen anderen Bereichen Konflikte mit den USA haben - China, Russland, der Iran beispielsweise, sogar Pakistan. Die eigentliche Intervention war richtig. Sie hat die schleichende pakistanische Invasion beendet, die tatsächlich im Gang war. In der Folge wurden die Dinge aber schlecht gehandhabt.

Anstatt das Problem anzugehen, dass die Extremisten in Pakistan Rückzugsräume haben, begannen die Amerikaner, unsere Leute und unser Land zu bombardieren.

profil: Inwiefern? Karzai: Die ersten Anzeichen dafür gab es bereits 2004, 2005. Damals sind Afghanen aus den ländlichen Gebieten zu mir gekommen und haben gesagt: "Herr Präsident, es ist nicht richtig, wie sich die Amerikaner verhalten. Sie sind gehen brutal mit den Dorfbewohnern um, und sie hindern die Extremisten nicht daran, aus Pakistan über die Grenze zu kommen." Anstatt das Problem anzugehen, dass die Extremisten in Pakistan Rückzugsräume haben, begannen sie, unsere Leute und unser Land zu bombardieren. Sie haben Gefängnisse eingerichtet und unsere Souveränität in extremem Ausmaß verletzt. All das hat für Ärger gesorgt, aber die Amerikaner waren nicht in der Lage, das zu erkennen. Und als ich dagegen protestierte, haben sie es nicht als Vorschlag betrachtet, das Richtige zu tun, sondern als Widerstand gegen ihre Macht.

profil: Hat sich der Westen in Afghanistan zu sehr auf den militärischen Aspekt konzentriert und zu wenig auf andere, etwa den Aufbau ziviler Strukturen? Karzai: Nicht der Westen - nur die Amerikaner. Die Deutschen, die Franzosen, sogar die Briten hatten weitaus vernünftigere Ansätze.

profil: Was erwarten Sie sich jetzt von Europa? Karzai: Europa war ein sehr guter Partner. Es war ganz vorne dabei, Afghanistan zu unterstützen, und dafür sind wir sehr, sehr dankbar. Unser Anliegen jetzt ist, dass Europa einen unabhängigeren Kurs als eigenständige Entität mit direktem Interesse in Afghanistan verfolgt. Sicherheit in Afghanistan heißt: keine ungewollten Flüchtlinge mehr in Europa. Es heißt: Geschäftsmöglichkeiten. Es heißt: Eure eigene Sicherheit in vielerlei Hinsicht. Wir sind euch nämlich in Bezug auf Geografie und Erreichbarkeit weitaus näher als den Amerikanern, die äußerst ungeschickt waren. Und dafür zahlen wir jetzt den Preis.

profil: Es ist aber nicht so, dass nur immer alle anderen schuld sind. Afghanistan trägt auch selbst Verantwortung, denken wir nur an die allgegenwärtige Korruption. Karzai: Aber Korruption ist nicht der Grund für Unsicherheit. Es gibt Länder, die sind weitaus korrupter als Afghanistan, aber sehr sicher. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht, um das Land besser zu machen. Wir haben den Demokratisierungsprozess vorangetrieben, Parlaments-und Präsidentschaftswahlen abgehalten. Kinder sind in die Schulen zurückgekehrt, Frauen an Arbeitsplätze - und sogar die Taliban in ihre Dörfer. Ja, wir haben unsere Probleme als Gesellschaft. Aber das sind keine Probleme, die einen Krieg auslösen.

Zur Person

Hamid Karzai, 60, war in den Jahren 2001 bis 2014 Staatspräsident von Afghanistan. Der Paschtune, der aus einer Dynastie von Politikern stammt, musste 1996 vor den Taliban aus seiner Heimat flüchten. Nach 9 / 11 arbeitete er mit den US-Amerikanern zusammen, entfremdete sich ihnen später jedoch. Er überlebte mehrere Attentate durch religiöse Extremisten, setzt sich aber dennoch für die Einbindung der Taliban in den politischen Prozess ein. Sein Besuch in Österreich erfolgte auf Einladung des in Wien angesiedelten Thinktanks AIES (Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik).