Interview

Historiker über Melonis Partei: „Wurzeln liegen in der faschistischen Zeit“

Wie viel Mussolini steckt in Giorgia Meloni? Diese Frage gehört zum Spezialgebiet des Faschismus-Forschers und Historikers Joshua Arthurs. Ein Gespräch anlässlich der Wahl in Italien.

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Mit Giorgia Meloni könnte in Italien erstmals seit 1945 eine Frau an die Macht kommen. Und mit ihr eine Postfaschistin. Ist das historisch gesehen korrekt?
Joshua Arthurs
Die Frage, ob Meloni eine Postfaschistin ist, halte ich für kompliziert. Ihre Partei „Fratelli d’Italia“ hat im Laufe der Jahrzehnte viele verschiedene Formen angenommen und oft ein doppeltes Spiel gespielt. Einerseits präsentiert sie sich dem Mainstream als eine konventionelle, konservative Partei. Meloni hat bereits angekündigt, dass sie die Ukraine im Krieg unterstützen und in Bezug auf die EU und NATO auf eine Politik der Kontinuität setzen wird. Andererseits benutzt „Fratelli d’Italia“ Symbole, die mit der Zeit des italienischen Faschismus (1922 – 1943) und mit dem Diktator Benito Mussolini in Zusammenhang stehen. Melonis Partei hat immer wieder geschichtsrevisionistische Referenzen gezogen und versucht, diese Periode zu beschönigen.
Beginnen wir ganz am Anfang. Wo liegen die Wurzeln von Giorgia Melonis Partei?
Arthurs
Die Wurzeln von „Fratelli d’Italia“ liegen in der faschistischen Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete eine Gruppe von Mussolini-Loyalisten eine neofaschistische Partei namens „Italienische Sozialbewegung“.

Joshua Arthurs ist Historiker und Professor für Europäische Geschichte an der „University of Toronto“.  Er forscht zum Alltag während des Mussolini Regimes und der extremen Rechten in Italien. Sein letztes Buch „45 Days: Emotion, Experience and Memory after Mussolini“  ist bei Oxford University Press erschienen und beschäftigt sich mit dem Kollaps des faschistischen Regimes in Italien und der Erinnerungskultur nachfolgender Generationen. 

Der so genannte Movimento Sociale Italiano (MSI) existierte von 1946 bis 1995. Ihr Gründer Giorgio Almirante, ein ehemaliger Propagandist Mussolinis, kollaborierte nach dessen Sturz 1943 mit den Nationalsozialisten.
Arthurs
Das faschistische Regime Italiens brach 1943 zusammen, als die Alliierten in Italien einmarschierten. Mussolini wurde vom König Italiens entfernt, aber auch von einigen Mitgliedern der Faschistischen Partei, die dachten, dass er ein zu großes Problem und eine Belastung darstellte. 1943 fällt Nazideutschland in Italien ein, besetzt Norditalien und bringt Mussolini als Marionette Hitlers wieder an die Macht. So entsteht die so genannte Republik von Salò.
Hitlers vorübergehender faschistischer Satellitenstaat in Norditalien.
Arthurs
Die engsten Anhänger des Faschismus liefen zu diesem neuen Nazi-Marionettenregime über. Einer davon war Giorgio Almirante, der davor als Journalist eine Art Propagandasprachrohr des Faschismus war. Zwischen 1943 und 1945 befand sich Italien de facto im Bürgerkrieg. Auf der einen Seite standen die kollaborierenden Faschisten,  auf der anderen der antifaschistische Widerstand, der von der Kommunistischen Partei dominiert wurde, aber auch andere Gruppen umfasste.
Über siebzig Jahre später nutzt „Fratelli d’Italia“ immer noch das Parteilogo der ehemaligen Faschisten: Eine Flamme in den Nationalfarben Italiens.
 
Arthurs
Der Movimento Sociale Italiano wandelte sich über die Jahrzehnte. Bis Ende der 1980er Jahre hatte „MSI“ nur sehr wenige Unterstützer, maximal 8 Prozent. Es war eine Randpartei für faschistische Nostalgiker, die von der Regierung ausgeschlossen wurde. 1989, mit dem Ende des Kalten Krieges, veränderte sich nicht nur Europa, sondern auch Italien. Die alten Parteien, die das Land bis dato dominiert hatten, brachen zusammen und der „MSI“ nahm eine neue Form an. Fortan hieß er „Alleanza Nazionale“.
Giorgia Meloni war in deren Studentenorganisation aktiv.
Arthurs
Die „Alleanza Nazionale“ versuchte sich in den 1990er Jahren von der faschistischen Vergangenheit zu distanzieren. Ihr damaliger Parteichef trug Anzüge wie ein Geschäftsmann und reiste nach Israel, um sich für Italiens Rolle im faschistischen Antisemitismus zu entschuldigen. Damals geschah eine Art Rebranding der extremen Rechten. Die „Alleanza Nazionale“ trat 1994 sogar in die Regierung von Berlusconi ein und gründete später mit ihm eine Partei. Viele Abgeordnete, darunter auch Meloni, waren mit dieser Entwicklung unzufrieden. Aus ihrer Sicht bewegte sich die Partei zu weit von ihren faschistischen Wurzeln weg. Also trennten sie sich und gründeten 2012 die „Fratelli d'Italia“.
Die „Brüder Italiens“ sind also die Nachfahren und der radikale Flügel einer neofaschistischen Partei.
Arthurs
Institutionell ja. Aber Faschismus ist nicht etwas, das in der DNA der Menschen eingebaut ist und fortbesteht. Die Partei hat sich im Laufe der Zeit geändert. Heute ist „Fratelli d'Italia“ eine Partei, deren Anhänger den Mythos der faschistischen Vergangenheit nutzen, um eine Geschichte über Italien zu erzählen.
Welche Geschichte?
Arthurs
Es ist eine Geschichte des Grolls. Sie beginnt so, dass die faschistischen Italiener gute Menschen waren und nach dem Krieg für ihren Patriotismus bestraft wurden. Ihre Rhetorik klingt in etwa so: Okay, es gab ein paar schlimme Dinge im Faschismus. Zum Beispiel der Antisemitismus oder der Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg. Aber beides ist aus ihrer Sicht nicht auf italienische Initiative erfolgt, sondern von außen. Der einzige Fehler, den Mussolini aus ihrer Sicht gemacht hat, war es, ein Bündnis mit Hitler einzugehen.
Auch Österreich sah sich lange als ein Opfer Nazi-Deutschlands. Aber dieser Mythos begann in den 80er Jahren zu bröckeln, angestoßen durch eine kritische Nachkriegsgeneration, die ihre eigenen Eltern hinterfragte.
Arthurs
Mussolinis Projekte sind in Italien aber bis heute sichtbar. Die Anhänger von „Fratelli d’Italia“ betonen, wie viel Infrastruktur damals gebaut wurde. Sie erzählen die Geschichte Mussolinis als eine Geschichte der Modernisierung. Italien war im 20. Jahrhundert ein sehr ländlicher, unterentwickelter Ort. Im Faschismus wurden viele Sümpfe trockengelegt, um Malaria zu bekämpfen und Ackerland zu schaffen. Bis heute sagen viele Menschen in Italien: „Mussolini hat auch Gutes getan! Schaut euch die Gebäude und die Kanäle an!“
Warum ist das so?
Arthurs
Ich denke, dass in Italiens Schulen nicht ausreichend über die faschistische Zeit gesprochen wird. So ist es für viele Menschen einfach, zu solchen Schlussfolgerungen zu kommen. In jeder italienischen Stadt finden sie Gebäude, die während der faschistischen Zeit gebaut wurden, manche sogar noch mit den Symbolen des Faschismus. Bis heute gibt es alte Menschen, die sagen: „Bei Mussolini mussten wir nachts nie die Türe abschließen, weil es keine Kriminalität gab.“ Oder die erzählen, dass es damals kostenlos Milch für die Kinder gab.

Bis heute sehen sich viele Italiener als ein Opfer im Zweiten Weltkrieg.

Sie behaupten, dass das Leben zur Zeit des Faschismus besser war?
Arthurs
Ja, aber ohne die Maßnahmen von damals zu hinterfragen. Die Faschisten verteilten Milch an Mütter, damit es mehr Babys und mehr Soldaten gab. Sie bauten neue Infrastruktur, um die Militärindustrie voranzutreiben. Bis heute sehen sich viele Italiener als ein Opfer im Zweiten Weltkrieg. Über die Tatsache, dass Italien Griechenland und Jugoslawien überfallen hat und schwere Verbrechen im heutigen Äthiopien begangen hat, sprechen sie nicht.
Gott, Vaterland, Familie. Woher kommt der Slogan von Melonis Partei?
Arthurs
Mir ist nicht bekannt, dass dieser Slogan von Mussolini häufig verwendet wurde. Aber sicher ist: Insbesondere das Vaterland und die Familie waren auch für den historischen Faschismus wichtig. Damals wurden Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenrate von „echten“ Italienern, also weißen Italienern, ergriffen. Aus jener Zeit stammt auch die Idee, dass Italien einen demografischen Kampf gegen nichteuropäische Völker verliert. In der faschistischen Zeit waren Verhütung und Abtreibung illegal. Man wollte eine größere Bevölkerung schaffen und damit auch mehr Soldaten für den Krieg.
Heute kann Meloni Abtreibung nicht verbieten lassen, aber zumindest stark einschränken.
Arthurs
Ja, aber vieles ist auch anders als vor 70 Jahren. „Fratelli d'Italia“ sind – anders als ihre Vorfahren – nicht expansionistisch. Die Partei interessiert sich nicht für Krieg und Imperium, sondern für das exakte Gegenteil. Sie sind Isolationisten. Sie wollen sich in gewisser Weise vom Globalismus, von der Einwanderung und von Europa lösen. Sie reden ständig von nationaler Souveränität. Sie behaupten nicht, dass Istrien, Dalmatien oder Nordafrika ein Teil von Italien sind, wie das die historischen Faschisten getan haben.
Meloni sagt, der Faschismus gehört der Vergangenheit an. Stimmen Sie zu?
Arthurs
Meloni spielt ein doppeltes Spiel. Wenn es unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche bringt, wollen sie und ihre Partei lieber nicht über den Faschismus sprechen, weil das eine Angriffsfläche bietet. Aber gleichzeitig dreht sich Meloni zu ihren Anhängern um und sagt: „Reden wir über die guten Dinge, die damals passiert sind!“ Sie will nicht Postfaschistin genannt werden, aber gegenüber ihren Anhängern nimmt sie diese dunkle Zeit immer wieder in Schutz. 
Gibt es eine Parallele zwischen Mussolini und Meloni?
Arthurs
Mussolini hat es nicht geschafft, all seine Anhänger zu Faschisten zu polen. Aber er war gut darin, Menschen in passive Bürger zu verwandeln, die sich nicht mehr aktiv am zivilen Leben beteiligten oder Informationen hinterfragten. In einer gewissen Weise trifft das auch auf Meloni zu. Sie will, dass die Menschen ihre Poster und Slogans sehen und sagen: Okay, das reicht mir. Und sich dann wieder ihrem Leben widmen.
Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.