Martin Staudinger: Macht euch keine Hoffnungen!

Warum tun alle so, als gäbe es in der Türkei ausschließlich Erdoğan und seine Anhänger?

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Was fällt einem als Erstes ein, wenn man an die Türkei denkt? Abgesehen von Sommerurlaub nichts Gutes: verfolgte Regierungsgegner, niedergeknüppelte Demonstranten und ein Staatsoberhaupt, das immer wieder ostentativ vorführt, wie laut man auf alle rechtsstaatlichen Standards pfeifen kann.

Anfang Mai erzwang Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit geradezu skandalös durchsichtigen Begründungen die Annullierung der Istanbuler Bürgermeisterwahl, die der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu von der säkularen CHP (Republikanische Volkspartei) gewonnen hatte. Wenn die Wahl im Juni wiederholt wird, erwartet sich das Erdoğan-Lager das gewünschte Resultat: einen Sieg der religiösen Regierungspartei AKP. Derartige Manipulationen gehören in der Türkei mittlerweile zum politischen Alltag Passt ein Land, das sich immer weiter von Anspruch und Praxis der liberalen westlichen Demokratie entfernt, zu Europa? Ein Land, das erkennbar längst auf dem Weg in die Despotie ist? Auf Anhieb würde man sagen: ganz bestimmt nicht. Diesen Abwehrreflex kann auch die österreichische Politik nicht unterdrücken – zumal sie sich selbst gerade mitten im EU-Wahlkampf befindet.

Insofern überrascht es nicht, dass angesichts der Farce von Istanbul wieder einmal die vehemente Forderung laut wurde, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei umgehend abzubrechen, und zwar endgültig. Weil: „Enorme demokratiepolitische Defizite“ (Karoline Edtstadler, EU-Listenzweite der ÖVP), „zunehmend diktatorische Verhältnisse“ (Andreas Schieder, EU-Spitzenkandidat der SPÖ), „starke systematische Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit“ (Bundeskanzler Sebastian Kurz, ÖVP).

Soweit damit Erdoğan und sein Machtklüngel, die türkische Regierung und die AKP gemeint sind, sind diese Positionen durchaus nachvollziehbar. Doch das Ansinnen, ein für alle Mal mit der Türkei Schluss zu machen, ist auch recht kurzsichtig. Es ignoriert all jene, die sich – mutig, weil tatsächlich unter persönlichem Risiko – der umfassenden Erdoğanisierung entgegenstellen.

Statt der Opposition in der Türkei den Rücken zu stärken, wird sie entmutigt.

Und das sind keineswegs nur wenige. Bei den jüngsten Kommunalwahlen hat die AKP nicht nur Istanbul, sondern auch die Hauptstadt Ankara und zahlreiche andere, vor allem wirtschaftlich bedeutsame Kommunen verloren. Bereits bei den Parlamentswahlen 2018 musste die Partei eine schmerzliche Niederlage hinnehmen – sie fiel um fast sieben Prozentpunkte auf 42,6 Prozent und büßte damit auch die absolute Mehrheit der Parlamentssitze ein. Damit setzte sich ein Trend fort, der bereits vier Jahre lang anhält und nur kurzfristig durch vorgezogene Neuwahlen unterbrochen werden konnte. Auch das Verfassungsreferendum, mit dem Erdoğan 2017 seinen absoluten Machtanspruch als Präsident festigte, ging mit 51,4 Prozent Zustimmung denkbar knapp zu seinen Gunsten aus – wobei selbst dieses Ergebnis offenbar nur unter stärkstem Druck seitens der Regierung zustande kam.

Die politische Opposition gegen Erdoğan ist nicht nur zahlenmäßig stark. Sie beweist auch genau das, was Europa ständig von der Türkei fordert: demokratisches Bewusstsein. Auf die Zumutungen und Repressalien der Regierung hat sie bislang nicht mit Gewalt reagiert, sondern mit friedlichen Demonstrationen; auf die flagrante Missachtung von Wahlergebnissen nicht mit Obstruktion, sondern mit Rechtsmitteln – etwa dem Antrag, nicht nur die Bürgermeister-, sondern auch die unter gleichen Bedingungen durchgeführten Präsidentschaftswahlen zu wiederholen (was erwartungsgemäß abgelehnt wurde).

Aber all das kommt in der Wahrnehmung der österreichischen Politik derzeit gar nicht (bei ÖVP, FPÖ, NEOS und Liste Jetzt) oder nur am Rande (bei der SPÖ) vor.

In der österreichischen Außenpolitik gab es lange Zeit die ehrenwerte Tradition, gerade in Diktaturen, Despotien und Autokratien nicht nur mit den Machthabern Kontakt zu halten, sondern auch auf die jeweilige Opposition ­zuzugehen. Das hatte nicht nur moralische, sondern ­durchaus auch pragmatische Gründe: Nicht selten werden aus den Unterdrückten von heute die Regierenden von morgen.

Das ist angesichts der jüngsten Wahlergebnisse auch bei den Gegnern des Erdoğan-Systems alles andere als ausgeschlossen. Dennoch gibt es in Österreich (und auch Europa) keine erkennbaren Versuche, ihnen den Rücken zu stärken. Zugegeben, die Frage, wie diese Versuche aussehen müssten, ohne kontraproduktive Nebenwirkungen zu riskieren, ist schwierig zu beantworten.

Die Art und Weise jedoch, wie Europa und ganz besonders Österreich die türkische Opposition behandelt, ist durchwegs entmutigend. Das Signal an sie lautet: Macht euch keine Hoffnungen. Egal wie sehr ihr euch bemüht, Erdoğan loszuwerden und die Demokratie in der Türkei zu retten – bei uns habt ihr niemals eine Chance.

Und das wirkt ein wenig so, als würde man den Opfern einer Geiselnahme die Tür nach draußen verrammeln, statt ihnen einen Fluchtweg zu zeigen.