Tunnelblick

Nahostkonflikt: Der dramatische Überlebenskampf in Gaza

Nahostkonflikt. Der dramatische Überlebenskampf in Gaza

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Von Petra Ramsauer, Rafah

Saker Kashef spielte vergangenen Sonntag, am Vormittag, neben dem Eisentor der Schule. Wie fast jeden Tag, von morgens bis abends, nachdem er am 26. Juli mit seinen Eltern und den drei Geschwistern vor drohenden Raketenangriffen hierher geflohen war. Oft spielen die Kinder von Gaza Krieg. Etwa mit abgebrochenen Rundbürsten, die Projektilen ähneln, und die von Besenstielen „abgefeuert“ werden, als wären es Raketen. Sie versuchen auf ihre Weise, die Unerträglichkeit dessen zu verdauen, was um sie herum geschieht – und was geschehen kann.

In jedem Moment.

„Rafah Preparatory ‚A‘ Boy School“, so der Name dieser Schule, im weißen Schriftzug auf der hellblauen Plakette. Wie alle Gebäude hier in den Farben der UNO gehalten. Auch das Tor ist blau gestrichen. Die Schule in der Stadt Rafah, im äußersten Süden des Gazastreifens, wird vom Palästinenserinnenhilfswerk Unrwa betrieben. Auch jetzt, allerdings dient sie zur Zeit nicht als Schule, sondern als heillos übervölkertes Flüchtlingslager für rund 3000 Menschen.

Am vergangenen Sonntag, um 10.45 Uhr, starb der achtjährige Saker bei einem Angriff der israelischen Armee. Mit ihm kamen neun Menschen um; darunter vier weitere Kinder im Alter zwischen drei und 15 Jahren. Augenzeuginnen erzählen, es sei eine Bombe gewesen, die ein Kampfjet abwarf. Sie detonierte auf der Straße, sieben Meter vor dem blau bemalten Tor. Da, wo Saker spielte. Die Leichen und die Schwerverletzten lagen in einer Blutlache neben dem Emblem der Vereinten Nationen – ein Bild mit verheerender Symbolkraft. Von einem „moralisches Vergehen, einem krimineller Akt“, sprach UN-Generalsekretär Ban Ki-moon.

„Wir zielten auf drei Kämpfer der Terror-Gruppe ‚Islamischer Dschihad‘, die gegenüber der Schule mit ihren Motorrädern standen“, so die Stellungnahme der israelischen Streitkräfte (IDF): „Der Vorfall wird untersucht.“

„Wir haben die IDF 33 Mal exakt vom Standort der Schule informiert. Es hätte nicht passieren dürfen“, entgegnet wütend Yousef Mousa, der für das UN-Palästinenserhilfswerk Unrwa für das Gebiet um die Stadt Rafah, im Süden des Gazastreifens zuständig ist.

Aussage gegen Aussage
Einmal mehr steht Aussage gegen Aussage, Schuldzuweisung gegen Schuldzuweisung. Fast ein Dutzend Angriffe gab es auf Einrichtungen der Unrwa in diesem erneuten Krieg in Gaza; drei Mal wurden Schulen getroffen, in denen Tausende Flüchtlinge untergebracht waren und sind. Einmal mehr rechtfertigten die israelischen Streitkräfte den Tod dieser Zivilistinnen mit dem Argument, dass in oder nahe dieser Schulen Raketen versteckt und Kämpfer untergebracht gewesen seien. Auch dieser Vorhalt trieb UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zur Weißglut. Einmal mehr beteuert Yousef Mousa, ein Vertreter der UN, im Gespräch mit profil, dies sei so nicht wahr. „Wir haben immer darauf geachtet, dass sich im Umkreis von 700 Metern um unsere Schulen keine Regierungs- oder Polizeieinheiten, Kämpfer oder Militäranlagen befinden.“

Sakers Tod soll Teil einer Anklage Israels vor dem Internationalen Strafgerichtshof werden, fordern zahlreiche Vertreterinnen der Palästinenserinnen – als Symbol der empfundenen Ungerechtigkeit. 1872 Tote zählt das Gesundheitsministerium in Gaza mit Stand Ende letzter Woche; drei Viertel davon Zivilistinnen, 430 davon Kinder. Im selben Zeitraum starben in Israel 67 Menschen in dem Krieg; drei davon Zivilisten. Die Kakophonie der wechselseitigen Beschuldigungen beider Seiten ist ohrenbetäubend und leichtsinnig. Es gärt so genug Sprengstoff für die nächsten Konflikte, die sich an der verbitterten Suche nach der einen Wahrheit wieder und wieder entzünden können.

Vielleicht bringt alleine deshalb Sakers Mutter kaum noch ein Wort heraus. Weil die unfassbare Wahrheit des Todes ihres Kindes im Schatten des qualvollen Ringens um die eine Wahrheit steht.

„Aus seinem Kopf lief Blut. So viel Blut“, sagt Hasna Kashef, 28 Jahre alt. Ein paar Mal wiederholt sie dies, mit kaum hörbarer Stimme. An etwas anderes scheint sie sich kaum mehr zu erinnern, sie ist wie in Trance, sie friert trotz der unerträglichen Schwüle in dem Klassenzimmer. Sie teilt sich diesen Raum mit zwei Dutzend Frauen und Kindern. Auch die 50 anderen Unterrichtsräume in dem zweistöckigen Schulgebäude dienen als Notunterkunft. In den Klassen wird gekocht, gewaschen, geschlafen. Schimmel kriecht die Decke hoch. Die feuchte Luft verstärkt den Geruch, der von den heillos überlasteten Toiletten ausgeht, von überfüllten Schlafräumen, von schweißgebadeten Nächten und Sommertagen ohne ordentliche Waschgelegenheit.

Teilnahmslos lehnt Hasna Kashef an der Wand. Im Schneidersitz hüllt sie ihren Unterleib in eine Decke aus Kunststofffasern, in der das Motiv der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem in Türkis, Pink und Gelb eingewebt ist. Auch vergangenen Sonntag, als sie die Detonation hörte, lehnte sie hier. Der Schock fuhr ihr in die Glieder: „Saker! Ich dachte: Saker! Er ist draußen!“ Vier Kinder hat sie, ihre zweijährige Tochter Hana, deren Hand leicht verletzt wurde, liegt in ihrem Schoß. Der Vater ist, anders als die Mutter, atemlos, hektisch, redselig. Er reicht sein Mobiltelefon herum, darauf sind Fotos von Saker am Display zu sind.

Verloren habe sie nicht bloß den erstgeborenen Sohn, sondern jede Hoffnung, sagt dann die Mutter. „Wir bekamen einen Anruf am 25. Juli, in der Nacht. Eine Tonband-Nachricht von der israelischen Armee. Wir müssen unser Haus evakuieren. Wir hörten dann, es ist sicher in der Schule. Wir sollten hierher kommen. Und jetzt? Wo ist Sicherheit? Wohin kann ich mich retten, wenn nicht in eine Schule der UN

Wer würde hier gegen die Hamas protestieren wollen?
Die Klassenzimmer sind für die Unterbringung von Frauen und Kindern reserviert. Die Männer schlafen draußen. Auf dem Schulhof, am Kinderspielplatz, in den offenen Korridoren. Ob es Kämpfer sind? Die Trennlinie zwischen Zivilisten und Mitgliedern der Hamas, ist beim männlichen Teil der Bevölkerung kaum zu ziehen. Uniformen tragen die wenigsten. Seit 2006 der politische Flügel der islamistischen Terrorgruppe die Wahlen in Gaza gewann, stellt die Hamas hier die Regierung, die Verwaltung und auch die Polizei. Es sind die wichtigsten der wenigen Arbeitgeberinnen.

Wer würde hier gegen die Hamas protestieren wollen? Sie aus einem Lager verweisen? Frauen wie Hasna Kashef sind wie der Großteil der Zivilbevölkerung Geiseln beider Seiten des Konflikts. So ist der Verlust jeglichen Gefühls der Sicherheit für die Menschen der schlimmste Kollateralschaden des neuen Kriegs, gleich nach den Toten. Der Angriff auf die Schule geschah während eines Waffenstillstandes, gebrochen von der Hamas, die einen Trupp israelischer Soldatinnen ins Visier nahm, der hier in Rafah einen Tunnel zerstörte, den wiederum die Hamas-Kämpfer (ausschließlich Männer) bauten, um Israel anzugreifen. Abermals flackerte der Krieg auf. Traf abermals die Unbeteiligten am heftigsten.

„Es ist kaum noch in Worte zu fassen, was die Leute hier an Drama zu verdauen haben“, sagt Unwra-Vertreter Yousef Mousa: „Ein Kind in Gaza, das heute acht Jahre alt ist, also 2006 geboren wurde, hat mittlerweile bereits drei Kriege erlebt. Raketen, Bomben, die Panik der Eltern gespürt. Kaum ist es uns in der Vergangenheit gelungen, ein Kind wieder auf die Beine zu bekommen, wurde es erneut traumatisiert.“

Und es sind nicht bloß die seelischen Schäden, die für viele Tragödien außerhalb des Rampenlichts sorgen. Enaia Karfarna ist mit ihrem Sohn Mohammed seit 2009 fast durchgehend in Spitälern. Eine Kopfverletzung während des Krieges damals überlebte er als Baby. Seither ist er schwer beeinträchtigt und braucht rund um die Uhr medizinische Hilfe. „Es ist immer das Gleiche“, sagt die 29-jährige Enaian Kafarna erschöpft. „Die Kämpfe beginnen, hören auf, gehen weiter. Ich bin müde. So müde wie mein Kind.“

Nun sind bereits knapp 10.000 Menschen abermals schwer verletzt worden, davon 2500 Kinder. Abermals ist das ohnehin kaum lebensfähige Gaza mit einer zusätzlichen Herausforderung konfrontiert: die Wunden ihrer Heranwachsenden zu versorgen.

Geschichte wiederholt sich
Es sei die Generation der Kinder der ersten Intifada, des ersten Aufstandes der Palästinenser im Jahr 1987, die zu den heutigen Kämpfern der islamistischen Gruppen des palästinensischen Widerstandes geworden seien, sagt die Journalistin Sanaa Kamal. „Und jetzt erleben wir einmal mehr, dass sich die Geschichte wiederholt. Abermals radikalisiert sich eine ganze Generation. Kurz vor Ausbruch dieses Konflikts war die Hamas unpopulär. Dieser Krieg war so etwas wie eine Verjüngungskur“, sagt die 28-Jährige, die wie viele Menschen in Gaza kaum dazu bereit ist, die „Schuld“ des Krieges bei der Hamas zu sehen, die seit Jahren Tausende Raketen auf Israel abfeuert. Auch während des aktuellen Krieges erreichten die Geschoße Tel Aviv und Jerusalem.

Auch über Raketenabschuss-Anlagen, die direkt in Wohngebieten stehen, will sie sich nicht empören: „Hier gibt es nichts, was nicht in der Nähe von Wohnhäusern ist. Es ist so eng!“ Ihre jüngste Schlagzeile lautet: „Die Menschen in Israel sind verrückt geworden.“ Dazu schreibt Kamal einen Bericht über das Ausmaß der Zerstörung Rafahs. Die Journalistin muss zugeben, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keiner Israelin begegnet sei. Wie der Großteil der 1,8 Millionen Menschen hier hat sie den hermetisch abgeriegelten Gaza-Streifen noch nie verlassen. Oder besser: noch nie verlassen können.

53 Prozent der Bevölkerung sind unter 18 Jahre alt. Der Streifen Land ist nur geringfügig größer als das Wiener Stadtgebiet, seit 2009 hat Israel nach dem damaligen Krieg eine Blockade verhängt, den Export und Import von Waren massiv beschränkt. Gaza zu verlassen, wurde erschwert.
Die Folge war, dass sich Armut und Arbeitslosigkeit abermals verschärften. 43 Prozent haben keinen Job, jetzt gingen weitere 500.000 Arbeitsplätze verloren, da tausende Betriebe ausgebombt sind. Sechs Milliarden an Schäden haben alleine die ersten 28 Tage Krieg hinterlassen. Vor allem in Rafah, dem Epizentrum des Krieges.

Anders als im Rest Gazas entstanden in dieser Stadt mit 150.000 Einwohnern während der letzten Jahre Oasen der Prosperität inmitten der Armseligkeit. Häuser, manche in Villen-Größe, schossen aus dem Boden, Einkaufszentren wurden errichtet. Viele der Insignien der Neureichen liegen nun in Trümmern, aus denen Verwesungsgeruch aufstiegt. In den Gärten liegen mumifizierte Tiere. Überstanden hat den Krieg hingegen der Mythos der Zähigkeit von Rafah.

Die Stadt barg das illegale Tor zur Außenwelt. Neben dem offiziellen, teilweise offenen Grenzübergang zu Ägypten entstand ein gigantisches Tunnelnetz samt einem professionell gestalteten Logistikzentrum für Lkws, von wo aus die Schmuggel-Waren in ganz Gaza verteilt wurden. Hier wurde der Blockade getrotzt, und einige Wenige verdienten gut daran. „Ehrlich gesagt, hat es irgendjemanden gewundert, dass man auf die Idee kam, dieses Know-How für kommerzielle Tunnel auch für andere Zwecke zu nutzen und Widerstands-tunnel zu bauen?“, fragt Abdel Lida, Angestellter der Stadtverwaltung Rafahs. 16 Jahre hat er in Deutschland, in Frankfurt gelebt, dort Tiefbau studiert, seit 1996 ist er zurück in Gaza: „Ich bin darauf spezialisiert, mit wenig Material viel zu bauen“, sagt er. Und verweist auf eine Asphaltstraße, die von tiefen Kratern aufgerissen wurde. „Die habe ich gebaut. Für nichts“, sagt er. „Von israelischen Panzern zerstört.“
Die Straße, die er herzeigt, führt zu einem zerschossenen Haus inmitten von hunderten weißen Planen, unter denen Gemüse angebaut wird. Bagger heben hier noch immer emsig Erdgut aus, und keiner der vielen Männer in Vollbart und zerschlissener Camouflage möchte, dass fotografiert wird. 32 unterirdische Wege sollen von hier aus gegraben worden sein, um Israel angreifen zu können.

Laut einem Sprecher des israelischen Militärs sind nun alle zerstört. Verdeckt unter Gemüseplantagen waren die Tunnel eine Geheimwaffe. Heute, nach ihrer Enttarnung, bleiben sie eine Quelle des Stolzes der neu erstarkten Hamas. „Wir haben unterirdische Triumphbögen errichtet. Und wir werden es wieder tun. Sie sind unser Pfad nach Jerusalem.“ Plakate mit dieser Aufschrift zieren jetzt die Straßen der Stadt.

Nach den ersten Schreckmomenten beginnt die Hamas nun an der Legende eines Sieges über Israel zu basteln. „Sie wollten uns erobern, den Gaza-Streifen belagern, aber wir haben gesiegt“, so der Ingenieur Abdel Libi: „Jetzt müssen wir den Moment nutzen und die Blockade beenden. Wir werden wir nicht ruhen, ehe Israel nachgibt.“ Drei Stunden vor dem Ende der dreitägigen Feuerpause feuerte die Hamas am Freitag vergangener Woche erneut Raketen von Rafah nach Israel ab. Eine Entmilitarisierung als Bedingung für einen dauerhaften Waffenstillstand lehnte die Gruppe ab. Die Raketen wollten sie als Ausdruck der Unbeugsamkeit verstanden wissen.
„Es ist wie ein Fluch“, seufzt Fausea Budene. Die 55 Jahre alte Frau steht vor einem platt gewalzten Geröllfeld, das einmal ihr Haus war. „Drei Mal haben wir von irgendwelchen Fonds Hilfe bekommen, damit wir wieder auf die Beine kommen. Drei Mal haben wir alles wieder aufgebaut. Und jetzt? Ein viertes Mal?“ Ihr Haus lag an der Zufahrtsstraße zu den „Widerstandstunnels“ und damit im Kriegsgebiet.

Wie ein Viertel der Bevölkerung des Gaza-Streifens ist sie nun auf der Flucht vor der nächsten Etappe des Krieges. „Bevor ich das Haus ein viertes Mal aufbaue, will ich eine Garantie, dass der Krieg endlich ganz aufhört.“ Doch einige Helfer stehen bereits für den Wiederaufbau in den Startlöchern. Mit frisch gestärkten Uniformen tauchen dieser Tage an vielen Orten der Zerstörung in Gaza Teams des neu gegründeten „Katar Wiederaufbaukomitees“ auf. „Wir evaluieren, wer unsere Hilfe braucht, und werden natürlich Gaza, wenn der Krieg einmal vorbei ist, wieder auf die Sprünge helfen“, so Mazin Mohammed, ein Mitglied eines dieser Teams.
Katar zählt zu den wichtigsten Sponsoren der Hamas, die ihrerseits zum internationalen Netzwerk der Muslimbruderschaft gehört. Jetzt nutzt das Emirat den Konflikt, um blitzschnell seine Pflöcke einzuschlagen. Ein wenig verfrüht, wie es scheint. „Unsere Finger bleiben am Abzug. Wir haben noch 3000 Raketen für Israel übrig, und im Visier ist Tel Aviv“, prahlte Mosheer Maris, der Sprecher des militärischen Flügels der Hamas vergangenen Freitag. Kurz danach feuerte die Hamas wieder drei davon auf Israel. „Sie dürfen uns nicht auf die Probe stellen. Wir werden jede Rakete mit Angriffen von unserer Seite beantworten“, entgegnete postwendend Yair Lapid, eine der mächtigsten Figuren im israelischen Kabinett. Nur wenige Minuten später geriet die An-Nour-Moschee in Gaza-Stadt unter Feuer. Der erste Tote nach dem Bruch der Waffenruhe am Freitag war Ibrahim Dwawsa, ein zehn Jahre alter Bub. Er hatte wie jeden Tag im Vorhof der Moschee gespielt.