Vier Wege nach Parndorf

Flüchtlinge: Schlepper-Drama - Vier Wege nach Parndorf

Eine Tragödie öffnete uns vor zwei Jahren erstmals die Augen für die wahre Dimension der Flüchtlingskrise: 71 Tote in einem Schlepper-Lkw, aufgefunden an der Ostautobahn im Burgenland. Eine Rekonstruktion am Beispiel von Menschen, deren Lebenswege sich dabei einen Moment lang kreuzten - oder endeten.

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Dieser Artikel erschien erstmals im profil Nummer 34/2016*.

47°59’37 N, 16°49’56 E: Manchmal verdichtet sich Geschichte an einem ganz konkreten Punkt zur Kenntlichkeit. Die Koordinaten bezeichnen eine Pannenbucht bei Kilometer 41 der A4 (Ostautobahn) in Fahrtrichtung Wien. Dort hält am 27. August 2015 gegen 10.45 Uhr vormittags ein Streifenwagen der Autobahnpolizei Potzneusiedl. Zwei Beamte steigen aus, um einen Fleischtransporter zu inspizieren, der dort seit Stunden abgestellt ist. Da vom Fahrer jede Spur fehlt, öffnen sie schließlich den Laderaum.

Um 10.50 Uhr setzen die Beamten eine Meldung an die Einsatzleitung ab. Die luftdicht verschlossene Kühlkammer des Lkw ist voll mit Toten: 71 Kinder, Frauen und Männer aus Syrien, dem Irak, dem Iran und Afghanistan, allesamt hilflos erstickt.

Wenig später tritt die Flüchtlingskrise, die ganz Europa bestimmen wird, zum ersten Mal ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Tragödie von Parndorf ist weder ihr Beginn (er datiert bereits viel früher) noch ihr Höhepunkt: Dieser folgt erst mit der massenhaften Einreise von Kriegsvertriebenen und Migranten nach Österreich, Deutschland und Schweden ab dem 5. September 2015.

Dennoch kommt bei 47°59’37 nördlicher Breite, 16°49’56 östlicher Länge bereits am Donnerstag, 27. August, alles zusammen, was diese Krise ausmacht: die Flüchtlinge und ihre Bereitschaft, für ein besseres Leben alles zu riskieren; die Hilflosigkeit der Politik gegenüber einer globalen Dynamik, für die es keine Erfahrungswerte gibt; die Skrupellosigkeit krimineller Schlepperbanden, für die ein Menschenleben wenig zählt.

Fassbar wird das große Ganze am Beispiel einzelner Personen, deren Lebenswege sich an diesem Donnerstag im August kreuzen - oder enden: der syrische Kurde Massoud Youssef, der bulgarische Kleinkriminelle Metodi G., die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil.

Es sind vier Personen, die stellvertretend für unzählige andere stehen, deren Schicksal sich in dieser Krise entschieden oder zumindest eine wesentliche Wendung genommen hat. Und sie haben, ohne es zu ahnen, ihre Reise Richtung 47°59’37 N, 16°49’56 E schon lange zuvor begonnen.

1981: Eine Geburt in Qamishli, eine Kindheit im Burgenland und eine Karriere in der DDR

Es gibt im Grunde nichts, was man an Qamishli im Nordosten von Syrien beeindruckend finden könnte. Erst in den 1920er-Jahren gegründet, ohne jegliche historische Bedeutung und weitgehend reizlos, dient die 200.000-Einwohner-Stadt im Wesentlichen als Grenzposten zur Türkei.

Hier wird im Jahr 1981 Massoud Youssef geboren.

Seine Familie ist kurdisch, wie die meisten hier; der Vater arbeitet auf dem Bau, um seine zwölf Kinder zu versorgen. Es ist ein ärmliches, aber ruhiges Leben. Unter dem damaligen Diktator Hafez al-Assad dürfen die Kurden ihre kulturelle Identität nicht offen ausleben. Ihre Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg sind eng begrenzt - Massoud wird sie dennoch bekommen, dank dem Verständnis seines Vaters.

Als Massoud Youssef im Nordosten Syriens zur Welt kommt, ist Hans Peter Doskozil ein elfjähriger Schüler im burgenländischen Pinkafeld. Angela Merkel macht währenddessen in der DDR Karriere; sie arbeitet an der Akademie der Wissenschaften in Berlin in der Abteilung Theoretische Chemie.

1989: Eine Befreiung in Berlin, ein Elend in Bulgarien und ein Diensteintritt in Wien

Angela Merkel weiß, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben, ohne tatsächlich Teil des Systems zu sein: ein ständiger Balanceakt zwischen dem Druck, sich zu arrangieren, und dem Versuch, sich abzugrenzen. In Syrien ist Massoud Youssef noch zu jung, um das rational zu erfassen.

Im Gegensatz zu Angela Merkel ändert das Jahr 1989 für ihn auch nicht viel. Während in Deutschland die Mauer fällt und die Demokratie Einzug hält, bleibt in Syrien alles beim Alten: Der Assad-Clan hat das Land fest im Griff.

Immerhin: Der achtjährige Massoud hat eine Perspektive. Schon in der Volksschule unterscheidet er sich von seinen Klassenkameraden dadurch, dass er Bücher liest, auch wenn er eigentlich nicht müsste. Seine Eltern bestärken ihn darin. Massoud soll in höheren Schulen weiterlernen und, wenn möglich, sogar studieren.

1989 ist auch das Jahr, in dem Hans Peter Doskozil seinen Dienst als Sicherheitswachebeamter bei der Wiener Polizei antritt. In einem Roma-Ghetto der bulgarischen Stadt Lom spielt Metodi G., drei Jahre alt, von seinen Eltern "Mitko“ gerufen, auf der Straße zwischen Müllbergen und Autowracks. Sein Vater ist Bauarbeiter, so wie der Vater von Massoud Youssef.

Hans Peter Doskozil löste im  Jänner 2016 Gerald Klug als Verteidigungsminister ab.

2004: Ein Aufstand in Syrien, ein Führerschein in Lom und ein Wahlkampf in Deutschland

Es ist, wenn man so will, ein Vorbeben des Arabischen Frühlings, das im März 2004 Massoud Youssefs Geburtsstadt erschüttert. Bei einem Fußballspiel der Heimmannschaft von Qamishli gegen ein syrisch-arabisches Team kommt es zu Krawallen, die Polizei feuert in die unbewaffnete Menge, neun Menschen sterben. Beim Begräbnis beginnen einige Kurden, Parolen gegen Bashar al-Assad zu skandieren, der nach dem Tod seines Vaters vier Jahre zuvor das Präsidentenamt übernommen hat. Wieder fallen Schüsse, die Unruhen greifen auf andere kurdische Städte über, Demonstranten stürmen örtliche Regierungsgebäude. Das Regime rächt sich mit einer Verhaftungswelle, bei der 2000 Kurden, darunter auch zahlreiche Kinder, gefangen genommen und gefoltert werden. Danach verstärkt sich der Druck des Regimes auf die kurdische Minderheit.

Massoud studiert zu dieser Zeit in Damaskus Agrarwissenschaften. Seine Familie bestärkt ihn in seinem Bildungshunger - und lässt ihm auch andere Freiheiten, die nicht selbstverständlich für eine konservative, religiös geprägte Gesellschaft sind. Die Moschee besucht Massoud nur, wenn es sein muss. Die Haare trägt er lang, er kleidet sich stilbewusst: ein moderner, intellektueller Typ.

1600 Kilometer entfernt verläuft die Jugend von Metodi G. im bulgarischen Lom weitaus weniger verheißungsvoll. Sein Vater lässt den Erstgeborenen aber gewähren, als dieser im Alter von 16 Jahren die Schule hinschmeißt und sich darauf verlegt, alte Autos zu kaufen, zu reparieren und weiterzuverkaufen. 2004 hat Metodi bereits den Führerschein, einen Haufen Verkehrsstrafen und einen zusätzlichen Erwerbszweig: Er chauffiert Arbeiter nach Italien und Deutschland. 100 Euro kassiert er dafür pro Passagier, wird der "Spiegel“ später berichten.

In Deutschland steht Angela Merkel knapp davor, Kanzlerin zu werden. Ihren Wahlsieg im darauf folgenden Jahr bereitet sie unter anderem mit öffentlichkeitswirksamer Kritik an der Integrationsunwilligkeit von Muslimen vor: "Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert“, wettert sie bei einer Rede im November.

In Österreich beteiligt sich Hans Peter Doskozil, inzwischen studierter Jurist, als Beamter der Wiener Polizei federführend an der Reform des Fremdenrechts, das die illegale Einwanderung in Österreich begrenzen soll. Währenddessen kommen aus Italien immer häufiger Meldungen über afrikanische Bootsflüchtlinge, die auf der Insel Lampedusa landen - und auch über Schiffskatastrophen mit 100 Toten und mehr.

2011: Ein Frühling in Damaskus, ein Rückzug im Burgenland und eine Fahndung in Bochum

Hans Peter Doskozil ahnt ebenso wenig wie alle anderen, was auf die Welt zukommt, als der Arabische Frühling beginnt. Noch weniger ahnt er, dass die Umwälzungen, die, von Tunesien ausgehend, Nordafrika und den arabischen Raum erfassen, in ein paar Jahren auch das Burgenland erreichen werden. 2011 leitet Doskozil das Büro von Landeshauptmann Hans Niessl. Dabei hat er sich unter anderem damit herumzuschlagen, dass das Verteidigungsministerium seinen Assistenzeinsatz an der ungarischen Grenze beendet - eine weitgehend psychologische Maßnahme, der im Burgenland jedoch hohe politische Bedeutung zugemessen wird.

Auch für Angela Merkel ist der Arabische Frühling noch ein Randthema. Priorität für die deutsche Kanzlerin hat nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima vorerst der Ausstieg aus der Atomenergie.

Massoud Youssef treffen die Auswirkungen des Arabischen Frühlings bereits jetzt. Als sich auch in Syrien die Opposition erhebt, ist er in Damaskus mitten in seinem Doktoratsstudium. Er entschließt sich, die Hauptstadt vorerst zu verlassen, um das Ende des Aufstands abzuwarten. Die Kurden halten sich aus dem Kampf gegen Diktator Bashar al-Assad vorerst heraus. Massoud, knapp über 30, kehrt in seine Heimatregion zurück und nimmt einen Job als Arbeiter in einer Baumwollfabrik an.

Metodi G. hingegen hat eine kriminelle Karriere eingeschlagen. Sein Strafregister umfasst bald elf Anzeigen: Fahren ohne Führerschein, Trunkenheit am Steuer, Betrug, Unterschlagung, Dokumentenmissbrauch. Mehrmals wird er zu Geldstrafen oder bedingter Haft verurteilt.

Irgendwann wird es aber auch der bulgarischen Justiz zu viel. Metodi soll wegen der Vielzahl seiner Verkehrsdelikte acht Monate ins Gefängnis - und taucht daraufhin unter. Längst wird auch in Deutschland nach ihm gefahndet: Er soll 2009 in Bochum eine Tankstelle überfallen haben.

Angela Merkel spricht bei einem Empfang der CDU.

2013: Eine Flucht aus Syrien, eine Prioritätenliste in Berlin und ein paar Fahrten auf der Ostautobahn

Zu Beginn ihrer dritten Amtszeit als Bundeskanzlerin nennt Angela Merkel drei Prioritäten für Deutschland: solide Finanzen, Energiewende und demografischen Wandel.

Noch ist unklar, in welche Richtung sich der Arabische Frühling tatsächlich entwickeln wird. Tunesien scheint stabil, in Ägypten hat das Militär die kurzzeitig regierende Muslimbruderschaft weggeputscht, in Libyen rittern politische Bewegungen und Milizen um die Macht. In Syrien gerät das Regime offenbar immer mehr unter Druck durch die Rebellen - und der Vormarsch der Terrorgruppe IS bleibt im Westen weitgehend unbemerkt.

2013 ist das Jahr, in dem die Familie von Massoud Youssef ihre Heimat verliert. Qamishli ist in der Hand der Assad-Truppen und liegt tief in kurdisch dominiertem Territorium. Dennoch rücken die Ultra-Islamisten immer weiter an die Stadt heran. In dieser Situation entschließt sich Massouds Vater, in den Irak zu flüchten. Während Massoud vorerst in Qamishli bleibt, landen Eltern und Geschwister unter erbärmlichen Bedingungen in einem Zeltlager jenseits der Grenze.

Hans Peter Doskozil amtiert mittlerweile als Landespolizeidirektor in Eisenstadt. Gut möglich, dass Metodi G. immer wieder das Burgenland auf der Ostautobahn durchquert: Genaues ist über die Aktivitäten des Bulgaren in dieser Zeit bislang nicht bekannt. Vielleicht arbeitet er bereits damals für eine Schlepperbande, die von einem Afghanen und einem libanesisch-stämmigen Bulgaren geführt wird.

2015: Eine Entscheidung im Irak, eine Krise in Europa, ein Ansturm auf Ungarn

Man könnte tatsächlich auf die Idee kommen, die Welt sei aus den Fugen geraten: In Westafrika breitet sich das Ebola-Virus rasend schnell aus. Europa liegt mit Russland wegen des Ukraine-Konflikts in einer Art Kaltem Krieg, die Schuldenkrise von Griechenland droht die EU zu zerreißen, der syrische Bürgerkrieg ist zum endlosen Massaker geworden. Dass immer größere Teile des Landes unter das grausame Terrorregime des IS geraten, ist nur einer von vielen Gründen dafür, dass zahllose Flüchtlinge keine Perspektive mehr sehen. Mehrere Jahre haben sie bereits in der Region ausgeharrt, nun brechen sie Richtung Europa auf.

Im Irak fällt die Familie Youssef eine Entscheidung: Massoud soll gehen. Er ist am besten ausgebildet, er hat die größten Chancen. Der Vater verkauft die Hälfte des Hauses in Qamishli, um die Reise des Erstgeborenen zu finanzieren.

Es ist jetzt Sommer, und auch wenn es keiner der Beteiligten weiß: Sie alle kommen Parndorf schnell immer näher.

Notversorgung in einem syrischen Krankenhaus 2016.

25. Juli

Metodi, genannt Mitko, Erstgeborener der Familie G. in Lom, pfercht 38 Flüchtlinge in einen Lieferwagen. In Bayern lässt er sie an der Autobahn aussteigen und nimmt Reißaus. Die Staatsanwaltschaft Deggendorf leitet Ermittlungen wegen Schlepperei gegen ihn ein.

4. August

Massoud lässt sich aus dem Irak über die Grenze in die Türkei schmuggeln und fährt von dort mit dem Bus nach Istanbul.

12. August

Merkel konferiert telefonisch mit Regierungschef Alexis Tsipras in Athen über das Spar- und Hilfspaket, das die EU zur Lösung der Schuldenkrise mit Griechenland verhandelt.

14. August

Massoud setzt von der Türkei aus mit einem überfüllten Flüchtlingsboot nach Griechenland über. Unterdessen sind Zehntausende Kriegsvertriebene und Migranten auf der Balkanroute unterwegs oder in Ungarn gestrandet.

16. August

Doskozils Chef, der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl, fordert zum wiederholten Male die Wiedereinführung von Grenzkontrollen.

19. August

Massoud macht sich von Griechenland auf den Weg Richtung Norden. Sein Ziel ist Österreich, wo er Verwandte und Freunde hat.

25. August

Massoud überquert zu Fuß die serbisch-ungarische Grenze.

26. August: Eine Verhaftung in Neusiedl, eine Schimpftirade in Sachsen, ein Abend in Südungarn

Niemandem kann verborgen bleiben, welche ungeheure Fluchtbewegung im Sommer 2015 quer durch Europa stattfindet. Tag für Tag werden in Österreich und Deutschland Kriegsvertriebene und Migranten von Schleppern ausgesetzt, stolpern aus den überfüllten Laderäumen von Lastautos und Lieferwägen - und die Politik sieht im Wesentlichen rat- und hilflos zu.

Im Burgenland beginnt der 26. August mit der Festnahme eines Schleppers im Bezirk Neusiedl, der 30 Personen von Ungarn nach Österreich geschmuggelt hat - für Doskozil mittlerweile eine vertraute Meldung. In Deutschland wird Angela Merkel bei einem Besuch in der sächsischen Stadt Heidenau mit wüsten Beschimpfungen empfangen: "Volksverräter“, "elende Fotze“, "Schlampe“ brüllen ihr aufgebrachte Bürger ins Gesicht. "Das hat sie getroffen“, zitiert der "Spiegel“ einen Beamten aus dem Umfeld der Kanzlerin.

Und irgendwo an einem abgelegenen Waldweg im Süden Ungarns wartet Metodi G. auf seinen heutigen Job. Eine Gruppe von Flüchtlingen soll in einem Kühltransporter nach Deutschland geschmuggelt werden, die Aufgabe des Bulgaren besteht darin, in einem Begleitfahrzeug vorauszufahren und vor möglichen Polizeikontrollen zu warnen.

Gegen Abend werden 71 Flüchtlinge zum Sammelplatz gebracht. Um 18 Uhr hat ein Passagier zum letzten Mal telefonisch Kontakt mit seinen Angehörigen, die sich noch in Serbien befinden. Er stehe mit anderen Flüchtlingen im Wald und sei von Polizisten umringt, erzählt er. Dann bricht die Verbindung ab.

Vieles spricht nach Recherchen von profil dafür, dass die Gruppe zum Einsteigen gedrängt oder gar gezwungen wird. Unter den späteren Opfern sind ausgebildete Techniker, die erkannt haben müssen, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen luftdicht verschlossenen Kühltransporter handelt; ein Mann leidet an schwerer Klaustrophobie, ein anderer an Asthma.

Ein Syrer, der tags darauf von derselben Schlepperbande nach Ungarn gebracht wird, schildert den Ablauf gegenüber profil so: "Plötzlich hatten die Männer Waffen in der Hand. ,Schnell, schnell!‘, haben sie gebrüllt und uns ins Wageninnere gescheucht.“

Gut möglich, dass es am 26. August so oder ähnlich brutal zugeht. Massoud ist einer der Letzten, die in den Kühlraum gedrängt werden. Dann schließen sich die Türen.

27. August: Eine Pannenbucht an der A4, ein Flug nach Wien und ein Foto in der Zeitung

Sie sind längst tot, als sie bei 47°59’37 N, 16°49’56 E ankommen: Für 71 Menschen reicht der Sauerstoff in einem abgeschlossenen Raum mit 24 Kubikmetern Volumen knapp über eine Stunde. Irgendwo an der ungarischen Autobahn A5, vermutlich weit vor Budapest, dürften alle Flüchtlinge im Kühlraum erstickt sein.

Als die Autobahnpolizei den Lastwagen in der Pannenbucht im Burgenland entdeckt, haben sich Metodi G. und der Fahrer des Kühllasters längst abgesetzt.

Der LWK mit den Flüchtlingen wurde auf einem Pannenstreifen auf der A4 in der Nähe von Parndorf abgestellt

Hans Peter Doskozil besucht gemeinsam mit der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner das Flugdach auf dem alten Zollgelände des Grenzübergangs Nickelsdorf, das zum Auffanglager für Flüchtlinge umfunktioniert wurde und wird dort über die Auffindung des Todes-LKWs informiert.

Angela Merkel befindet sich auf dem Flug von Berlin nach Wien, wo bei der Westbalkan-Konferenz das Thema Flüchtlinge behandelt werden soll. Eine viel benutzte Anflugroute führt in der Nähe von Parndorf über die Ostautobahn hinweg.

Als der Todes-Lkw kurz geöffnet wird, macht ein Polizist ein Foto, das wenig später an die Öffentlichkeit gelangt. Es zeigt direkt an der Tür den zusammengesunkenen Körper eines jungen Mannes mit langen Haaren.

Nach Parndorf: Viele Fragen in Europa, zwei Karrieren in der Politik und ein Begräbnis in Qamishli

Es gibt einige wesentliche Wendepunkte in der Flüchtlingskrise, und einer davon ist mit Sicherheit die Tragödie. Sie zeigt im August 2015 nicht nur zum ersten Mal die Dimension der Flüchtlingskrise - sie wirft auch jene großen Fragen auf, die zuvor nur in einem überschaubaren Kreis von Fachleuten diskutiert wurden und auf die Europa bislang noch keine wirklich überzeugende Antwort gefunden hat.

Etwa: Wie gehen wir mit Millionen von Flüchtlingen und Migranten um, die aus unterschiedlichen Weltregionen und Gründen zu uns drängen? Wo muss unsere Hilfsbereitschaft beginnen, und wo darf sie enden?

Angela Merkel geht der Tod der 71 Flüchtlinge erkennbar nahe: "Wir sind alle von der entsetzlichen Nachricht erschüttert“, sagt sie bei der Westbalkan-Konferenz in Wien. Das sind, wenn man ihrer Umgebung glaubt, keine leeren Worte. Parndorf und die Beschimpfungen tags zuvor in Sachsen dürften nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin wenig später weigerte, die Grenze vor dem großen Flüchtlingsstrom zu schließen - und jenen Satz formulierte, der ihre Amtszeit definieren dürfte wie kaum ein anderer: "Wir schaffen das.“ Inzwischen hat Merkel in den Umfragen deutlich verloren, hofft aber auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr.

Hans Peter Doskozil ist keiner, der große Emotionen zeigt. Doch irgendwann habe er versucht, sich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen: "Wenn du dir vorstellst, wie das sein muss, in dem Lastwagen zu stehen, gedrängt, in der Dunkelheit und mit immer größerer Atemnot … das ist ein Gefühl, das kaum auszuhalten ist.“ Nach Parndorf fällt ihm in der Flüchtlingskrise ein guter Teil der Verantwortung dafür zu, Hunderttausende Menschen zu versorgen, kurzfristig unterzubringen und anschließend weiterzutransportieren. Seit vergangenem Jänner bekleidet er das Amt des Verteidigungsministers und vertritt in der Flüchtlingsfrage einen restriktiven Kurs.

Metodi G., genannt Mitko, sitzt in Ungarn in Untersuchungshaft. Der junge Bulgare und der Rest der Bande wurden binnen kürzester Zeit aufgrund von Geheimdienstinformationen gefasst.

Unter schwerer Bewachung und in Handschellen sind am 21. Juni 2017 zehn der elf Angeklagten im Schlepperprozess in Ungarn vorgeführt worden.

Massoud Youssef wurde inzwischen in seiner Heimat beigesetzt. Er war das erste Opfer, das identifiziert werden konnte. Freunde hatten ihn bereits am nächsten Tag auf dem Zeitungsfoto, das den geöffneten Kühlraum des Lkw zeigt, erkannt: an seinen langen Haaren.

*Anmerkung: Metodi G. wurde in der gedruckten Version des Artikels irrtümlich als Fahrer des Kühllasters bezeichnet. Dieser Fehler wurde in der Aktualisierung korrigiert.