Proteste gegen eine Grenze zwischen Nordirland und Irland. Nordirland hat - wie Schottland - mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt.

Politologe: "Ein harter Brexit wäre eine Katastrophe für Nordirland"

Was eine neue Grenze zwischen Nordirland und Irland für den Frieden auf der Insel bedeuten könnte.

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Nach Theresa May soll nun der neue britische Premier Boris Johnson Großbritannien bis zum 31. Oktober aus der Europäischen Union führen. Notfalls auch ohne Austrittsvertrag. Bis dahin will Johnson den "Deal" mit der EU nachverhandeln. Darunter auch den so genannten "Backstop". Dabei handelt es sich um jene Regel, die vorsieht, dass es keine Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland im Norden und der Republik Irland im Süden der irischen Insel geben soll. Wie der Austritt Großbritanniens inklusive Nordirland über die Bühne gehen wird, ist derzeit völlig unklar. Ein "harter Brexit", auf den Johnson derzeit zusteuert, hätte laut dem Politologen Duncan Morrow von der Ulster University in Belfast katastrophale Konsequenzen für das Land und würde das Friedensabkommen von 1998 gefährden.

Friedensabkommen in Gefahr

Das "Good Friday Agreement" hat einen jahrzehntelangen Konflikt zwischen pro-britischen, protestantisch geprägten Kräften auf der einen Seite und katholisch geprägten Gruppierungen, die eine Vereinigung mit der Republik Irland anstrebten, auf der anderen Seite befriedet. Zwischen 1969 und 1998 kamen in Folge von Attentaten und Bombenanschlägen rund 3500 Menschen ums Leben. Die Hauptstadt Belfast galt damals als eine der gefährlichsten Städte der Welt.

Jahrzehnte des Konflikts: Am "Bloody Sunday" am 30. Jänner 1972 wurden 13 katholische Bürgerrechtler bei einer Protestkundgebung in der Stadt Derry von britischen Soldaten erschoßen.  Die Gewalt konnte erst durch das "Good Friday Agreement" eingedämmt wer

Das Abkommen zwischen der Republik Irland, dem Vereinigten Königreich und den Parteien in Nordirland dämmte die Gewalt nachhaltig ein und leitete einen politischen Prozess der Zusammenarbeit ein. Derzeit herrscht im nordirischen Parlament jedoch Stillstand, da sich die beiden größten Parteien, die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die katholische Sinn Féin seit 2017 nicht mehr auf eine Zusammenarbeit einigen konnten.

Das "Good Friday Agreement" im April 1998. Der damalige britische Premierminister Tony Blair (rechts) mit dem Chefverhandler US-Senator George Mitchell (Mitte) und dem irischen Premierminister Bertie Ahern (links)

Radikale Gruppen nutzen Brexit-Unsicherheit

Im April dieses Jahres kam es um Ostern erneut zu Ausschreitungen, bei denen die Journalistin Lyra McKee in der Stadt Derry nahe der Grenze erschossen wurde. Die "New IRA" (Irish Republican Army), die das Friedensabkommen nicht akzeptiert, bekannte sich zu dem Mord und entschuldigte sich wenige Tage später dafür. Die Unsicherheit im Zuge des Brexit habe in Nordirland ein Vakuum entstehen lassen, das radikale Gruppen für ihre Zwecke ausnützten, erklärt Duncan Morrow im Gespräch mit profil. Dabei sei Vertrauen für eine gemeinsame Lösung kaputt gegangen, so der Politologe.

Professor Duncan Morrow (Ulster University Belfast)

profil: Wie war es für Sie, in Belfast aufzuwachsen? Duncan Morrow: In den 1970er- und 1980er-Jahren war das Leben fast täglich von Gewalt geprägt. Es war derartig normal, dass man sich dessen gar nicht bewusst war. Rückblickend frage ich mich: Wie normal war dieser Zustand wirklich? Man saß am Mittagstisch, eine Bombe ging in der Nähe hoch, man stand auf, schaute nach und ging dann wieder zurück zum Tisch. Als ich ein Teenager war, wurde zum Beispiel unser Auto in die Luft gejagt. Kurze Zeit später schrieb ich in der Schule meine letzte Prüfung, als eine Bombe 100 Meter von uns explodierte. Wir Schüler schauten auf und haben dann weitergeschrieben als ob nichts gewesen wäre. Das war die Normalität, die wir verinnerlicht hatten. Aber den Großteil meines Erwachsenenlebens hat sich die Situation verbessert. Es gab seit den 1980ern eine Entwicklung in eine bessere Zukunft. Bis vor kurzem.

profil: Sie meinen wahrscheinlich die Brexit-Entscheidung. Wie ist die Stimmung in Nordirland diesbezüglich? Morrow: In der Politikdebatte unterscheiden wir zwischen „negative peace“, also dem Fehlen von Gewalt, und „positive peace“, damit ist der Aufbau von funktionierenden Beziehungen gemeint. Ersteres ist uns ganz gut gelungen, zweiteres nicht so gut. Es gibt mittlerweile zwar weniger Gewalt, die Spaltung der Gesellschaft gibt es allerdings immer noch. Nach der Parlamentswahl im Jahr 2007 haben sich die Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Fein auf eine Zusammenarbeit geeinigt. Das war historisch und hat das Gewaltrisiko vermindert. Bei delikaten Themen ist die Zusammenarbeit aber immer noch schwierig. Und dann ist die Brexit-Abstimmung 2015 gekommen. Beim Brexit geht es um nationale Identität. Diese Frage ist in Nordirland besonders heikel. Aber in diesem Fall ist sie von außen durch das Referendum in das Land getragen worden. Es gab in Nordirland keine Bewegung für oder gegen den Brexit. Aber die DUP hat das Momentum genützt, um die Verbindung mit Großbritannien zu stärken; koste es, was es wolle. Das schließt auch eine harte Grenze zu Irland nicht aus. Sinn Fein hat darauf reagiert und klargestellt, dass sie keine harte Grenze akzeptieren wird. Das hat zu einem Stillstand und zu einer Pattsituation der Regierung in Nordirland geführt. Dazwischen steht die britische Regierung, die zwar als Mediator auftritt, aber der DUP verpflichtet ist. Denn die DUP unterstützt die britische Regierung im Londoner Parlament.

"Es wird nicht immer so bleiben. Es wird besser werden".  Gedenken an  die ermordete Journalistin Lyra McKee an einer Mauer in Belfast

profil: Ist daraus ein Vakuum entstanden, das von radikaleren Gruppen ausgenützt wird? Morrow: Wir sind in der sonderbaren Situation, dass wir in Nordirland aktuell keine funktionierende Regierung haben, die Menschen aber darauf warten, dass es in Sachen Brexit zu einer Entscheidung kommt. Daher liegt momentan eine Spannung in der Luft. Es besteht die Gefahr, dass jene Gruppe sich radikalisiert, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist. Da unsere Regierung sich derzeit selbst blockiert, haben wir kein Forum, um diese Spannungen zu diskutieren und zu entschärfen. Diese Spannung wurde durch den Mord an die Journalistin Lyra McKee im April deutlich. Jene Politiker, die damals beim Begräbnis waren, wurden total überrascht von der Reaktion der Menschen. Ihre Message war: Warum redet ihr nicht miteinander? Die Parteien haben danach zwar wieder Gespräche aufgenommen, aber es gibt keinen konkreten Plan für die Zukunft.

Solange der Brexit nicht gelöst ist, bleibt alles unklar.

profil: Der 31. Oktober, das Datum für den Brexit, kommt aber immer näher. Morrow: Ich habe in meinem Leben noch keine Phase erlebt, die derart unsicher war wie die jetzige. Das einzig Positive ist, dass es in der Bevölkerung kein Bedürfnis gibt, zur Gewalt von früher zurückzukehren. Es gibt einzelne Menschen und Gruppen, die diese Unsicherheit ausnutzen. Das haben die Vorfälle zu Ostern gezeigt. Aber dafür gibt es kaum Unterstützung in der Bevölkerung. Die Menschen in Nordirland wollen einfach, dass die Politiker praktikable Lösungen finden. Aber solange der Brexit nicht gelöst ist, bleibt alles unklar. Sollte es keinen Deal geben, hätte das umfassende Konsequenzen in Nordirland.

Bei der Trauerfeier für Lyra McKee: Arlene Foster (links), Vorsitzende der pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP), Mary Lou McDonald (Mitte), Chefin der Sinn Fein-Partei in der Republik Irland und Michelle O'Neill (rechts), Vizechefin von Sinn Fei

profil: Der ehemalige US-Senator George J. Mitchell, der als Vorsitzender die Friedensverhandlungen 1998 mit dem „Good Friday Agreement“ zum Abschluss gebracht hat, meinte vor kurzem, dass ein schlechter Brexit das Friedensabkommen zerstören könnte. Sehen Sie das auch so? Morrow: Ja, da hat er recht. Denn ein schlechter Brexit würde es in Nordirland unmöglich machen, eine Regierung mit einer gemeinsamen Agenda zu formen. Der nordirische Friedensprozess hat trotz aller Schwierigkeiten funktioniert, weil es eine Zusammenarbeit zwischen britischer und irischer Seite gab und man gemeinsam praktische Lösungen gefunden hat. Ein harter Brexit würde die Fronten wohl verhärten und die Kräfte, die eine Vereinigung mit Irland anstreben, stärken. Wenn wir jedoch einen Soft Brexit bekommen, wird es viel Arbeit brauchen, um wieder Vertrauen zwischen den Parteien und Gruppen herzustellen. Da hat der Brexit leider einiges kaputt gemacht.

Die Menschen möchten, dass man ihnen für ihre Taten vergibt. Aber sie sind noch nicht bereit, den Anderen zu vergeben.

profil: Was würde passieren, wenn es tatsächlich wieder Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland geben würde? Morrow: Das wäre eine Katastrophe. Nur ein Beispiel: Meine Universität hat einen Campus in Derry. Die Stadt liegt drei Kilometer von der irischen Grenze entfernt. 25 Prozent unserer Mitarbeiter und 20 Prozent unserer Studenten kommen aus Irland. Donegal, die Gegend zwischen Derry und der Küste, ist sehr schön und leicht erreichbar. Das Gebiet liegt aber in Irland. Damit der Tourismus hier wachsen kann, braucht es eine offene Grenze. Wirtschaftlich gesehen wäre eine harte Grenze mit Kontrollen noch fataler. Daher sind auch die meisten Unternehmer gegen einen harten Brexit.

profil: Wenn man sich in gewissen Gegenden von Derry oder Belfast bewegt, hat man das Gefühl, dass es noch ein weiter Weg zu einer Aussöhnung ist. Kann eine positive Bewältigung des Brexit dazu beitragen? Morrow: Wenn man als Kind, das den Konflikt damals gar nicht mitbekommen hat, durch manche Straßen in Belfast oder Derry geht, hat man das Gefühl, dass es nur um die Vergangenheit geht. Es ist wie in einem Open Air Museum für die Vergangenheit. Wir haben diese Spaltung institutionalisiert und tragen sie immer noch in uns. Das macht den Umgang teilweise immer noch sehr unversöhnlich. Die Menschen möchten aber, dass man ihnen für ihre Taten vergibt. Aber sie sind noch nicht bereit, den Anderen dafür zu vergeben, was ihnen selbst widerfahren ist. Die Frage ist: Wie kann ich eine Zukunft mit Menschen gestalten, die versucht haben, mich zu vernichten? Diese Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet. Für die Menschen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland ist das aber eine existenzielle Frage. Aber die Menschen wollen nicht zurück. Es geht ihnen nicht um die eine oder andere Seite, sondern um eine gemeinsame Lösung für eine bessere Zukunft. Im Idealfall ist der Brexit nur ein Schlagloch am Weg dorthin.