Politologe Roy: "Der IS hat sein Limit erreicht“

Der französische Politologe, Islamwissenschafter und Diplomat Olivier Roy über die Grenzen des "Islamischen Staats“, Terrorismus als Jugendrevolte und die Unmöglichkeit vollkommener Sicherheit.

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profil: Wie besiegt man den sogenannten "Islamischen Staat“ (IS)? Olivier Roy: Das Problem ist, dass ihn niemand wirklich bekämpfen will - außer den Franzosen: Sie stehen ziemlich allein da. Die lokalen Akteure haben jeder für sich schlimmere Feinde als ISIS. Für die Kurden sind es die Türken, für Baschar al-Assad ist es die eigene Opposition, für die Schiiten im Allgemeinen sind es die Sunniten und umgekehrt, für die Iraner ist es Saudi-Arabien, und für die Saudis ist es der Iran. Keiner ist bereit, Truppen zu schicken. Das ist das große Problem.

profil: Und die Luftschläge des Westens und der Russen nützen auch nichts? Roy: Die Strategie der Bombardierung ist nur dann sinnvoll, wenn es auch Bodentruppen gibt.

profil: Wie viele bräuchte man? Roy: Wir reden von 100.000, und zwar Soldaten aus der Region, keine westlichen. Aber ich denke ohnehin nicht, dass in den USA der Wille dazu vorhanden ist - es sei denn, es gäbe einen großen Terroranschlag auf amerikanischem Boden.

profil: Was folgt daraus? Roy: Ganz einfach: Wenn keiner Truppen schicken will, kann man den IS nur bekämpfen, indem man eine politische Koalition schmiedet. Es geht darum, einen Kompromiss zwischen den lokal handelnden Akteuren zu finden, mit Rücksichtnahme auf die jeweiligen Probleme. Und davon gibt es jede Menge. Zum Beispiel muss die Türkei mit den türkischen Kurden zu einer politischen Übereinkunft kommen. Früher oder später müssen auch die Iraner und Saudis miteinander reden.

profil: Das sind aber Todfeinde. Roy: Ja, aber die Iraner können nicht mehr erreichen, als sie jetzt schon haben: Sie haben Teheran, sie haben Bagdad, sie haben Damaskus. Das heißt auch: Sie haben viel zu verlieren. Die Saudis wiederum haben das Problem, dass sie Truppen ins Ausland geschickt haben, zum Beispiel in den Jemen, und nun feststellen müssen, dass dies nicht besonders gut läuft. Es gibt im Establishment der Saudis und der Iraner vermehrt Stimmen, die sagen: Es ist Zeit, miteinander zu verhandeln.

profil: Das wird aber seine Zeit brauchen. Roy: So ist es. Die Vorstellung, IS in den nächsten sechs Monaten zerstören zu wollen, ist purer Unsinn.

profil: Gibt es auch gute Nachrichten? Roy: Durchaus. Der IS hat im Hinblick auf das Territorium sein Limit erreicht. Überall dort, wohin er sich noch ausbreiten könnte, wird er abgelehnt: Die Schiiten, die Kurden, die Alawiten wollen ihn nicht. Der schlimmste Feind des IS ist er selbst. Er wird früher oder später von der Bildfläche verschwinden. Wir wissen nur nicht, wann.

profil: Auf Jugendliche im Westen übt er aber immer noch eine starke Anziehungskraft aus. Roy: Die Radikalisierung der Jugend ist keine Folge der Existenz des IS. Sie hat schon existiert, bevor er entstanden ist. Der IS liefert zwar ein wirkungsvolles Narrativ für den Erfolg des Dschihad. Aber er bringt die Jugend nicht dazu, in den Dschihad zu ziehen.

profil: Wer oder was sonst? Roy: Was wir beobachten, ist keine Radikalisierung der muslimischen Bevölkerung in Europa als solche, sondern eine Jugendrevolte. Woher wir das wissen? Es gibt keine Militanten, die älter als 35 Jahre sind. Diese Jungen gehören zwei Kategorien an. Die einen zählen zur zweiten Generation der Muslime in Frankreich. Und die anderen sind Konvertiten. Die Zahl der Konvertiten ist sehr sehr hoch. Es gab einige Konvertiten in der Terrorgruppe, die Paris attackierten, und es gab Anschläge, bei denen die Terroristen hauptsächlich aus Konvertiten bestanden. Die Konvertiten haben einen anderen sozialen Hintergrund als die Muslime zweiter Generation.

profil: Was aber verbindet sie? Roy: Ihr Islam ist nicht der überlieferte Islam, nicht der kulturelle Islam, nicht der traditionelle Islam. Es ist ihr eigener Islam, dem sie folgen. Ich meine den Salafismus. Er ist der Kitt, um sich den eigenen Islam zu basteln, der sich von seiner Kultur entfernt hat und keiner seiner Ausprägungen in irgendeiner Gesellschaft oder Gemeinschaft mehr entspricht. Diese soziale Bewegung ist daher meiner Meinung nach keine generelle Auflehnung der Muslime.

profil: Sondern? Roy: Eine individuelle Revolte, die auf Frustration beruht und auf Menschen, die sich als Verlierer fühlen und Gewinner werden wollen. Es ist bekannt, dass eine große Zahl der Terroristen keine Ausbildung hat. Viele waren auch nicht als besonders glaubenstreue Muslime bekannt, sie tranken Wein, hatten Mädchen und so weiter. Es läuft also nicht so, dass sie zunächst immer fundamentalistischer wurden und dann erst zu Dschihadisten. Vielmehr werden sie Fundamentalisten und Dschihadisten zur selben Zeit.

profil: Lassen sich die islamistischen Extremisten mit Terrorgruppen aus der Vergangenheit vergleichen? Roy: Diese Gruppen ähneln keinen klassischen Untergrundbewegungen und sind auch keine politischen Organisationen. Sie bestehen vielmehr aus Freunden und Verwandten. Sie treffen sich in der Nachbarschaft, lernen sich in Gefängnissen kennen und schließen familiäre Verbindungen. Ein klassisches Muster ist beispielsweise, dass ein Dschihadist die Schwester eines anderen heiratet. Es gibt auch viele Brüderpaare, die in den Dschihad ziehen, denken Sie etwa an die Kouachis (die "Charlie Hebdo“-Attentäter, Anm.). Es gibt Familien, die drei oder vier Mitglieder verlieren, wenn sie Anschläge verüben. Aber genau da gibt es auch einen gemeinsamen Punkt mit Terrorgruppen wie der Rote Armee Fraktion in den 1970er-Jahren: das Schweigen der Eltern.

profil: Das bezog sich im Umfeld der linken Terroristen in Deutschland aber auf die Nazi-Vergangenheit. Roy: Bei den Muslimen sind es Fragen wie: Warum sind wir in Europa? Warum leben wir im Milieu der Migranten? Die Eltern können es ihren Kindern nicht zufriedenstellend erklären. Ihr Argument ist: Wir sind für ein besseres Leben hierher gekommen. Aber die Kinder fragen: Was für ein besseres Leben? Wir haben kein gutes Leben. Und die Eltern sind hilflos. Das war schon bei den algerischen Familien der Fall, die nach dem Bürgerkrieg und der Unabhängigkeit 1962 nach Frankreich kamen. Sie konnten ihren Kindern diesen Schritt nicht erklären.

profil: Das ist nicht nur in Frankreich so. Roy: Nach Deutschland sind die Gastarbeiter nur gekommen, um einen Job anzunehmen. Sie hatten nicht vor, sich dauerhaft anzusiedeln. Nach zehn, 15 Jahren erkannten sie, dass es zu spät war zurückzukehren. Das galt für die Türken in Deutschland ebenso wie für die Marokkaner oder Algerier in Frankreich. Sie konnten den Kindern ihre Kultur nicht mehr vermitteln. Die Kinder wurden verwestlich. Sie waren froh, Deutsche oder Franzosen zu sein, doch sie wurden zu Verlierern.

Man muss den Menschen hier zeigen, dass sie in Europa als normale und gute Muslime leben können. Man muss sie von der Story befreien, dass der Islam in Europa eine unterdrückte Religion und Muslime Opfer seien.

profil: Das klingt nicht danach, als ob es eine Lösung gäbe. Roy: Es gibt zumindest ein neues Phänomen: Viele Eltern sind mittlerweile gegen den Dschihad und versuchen, ihre Kinder herauszuholen - indem sie zur Polizei gehen oder mitunter sogar nach Syrien fahren, um sie zur Rückkehr zu überreden. Das war zur Zeit des Anschlags auf "Charlie Hebdo“ (im vergangenen Jänner, Anm.) noch anders.

profil: Warum? Roy: Viele Muslime mögen "Charlie Hebdo“ nicht. Das gilt, nebenbei, auch für viele Katholiken. Der Papst selbst sagte beispielsweise: "Ich bin nicht Charlie.“ Es gab also einen gewissen Riss in der französischen Bevölkerung. Viele demonstrierten für das Magazin, aber viele andere, wie die Muslime, lehnten die Unterstützung für die Cartoons ab. Bei der jüngsten Anschlagsserie war das anders. Die Terroristen haben die französische Gesellschaft als ganze angegriffen: Menschen, die zu einem Fußballspiel gehen wollten beispielsweise - ein demokratischeres Publikum gibt es nicht.

profil: Wie kann man radikalisierte Menschen zumindest davon abbringen, andere zu töten? Roy: Wenn sich ein junger Mann dazu entschließt, auf die andere Seite zu gehen, wird man ihn nicht aufhalten können. Man muss den Menschen hier zeigen, dass sie in Europa als normale und gute Muslime leben können. Man muss sie von der Story befreien, dass der Islam in Europa eine unterdrückte Religion und Muslime Opfer seien. Man muss also den moderaten Islam unterstützen, um den radikalen Islam zu bekämpfen. Die Burschen werden sich nicht radikalisieren, wenn sie einen modernen und glaubwürdigen Islam vorfinden. So können sie gleichzeitig stolze Muslime und stolze Europäer sein. Wir müssen den Islam normalisieren.

profil: Was heißt das für Europa? Roy: In unseren Gesellschaften ist es unmöglich, vollkommene Sicherheit zu haben. Es ist sehr einfach für einen Feind, ein Ziel zu finden und viele Menschen zu töten. Es wäre besser, anstelle des Ausnahmezustandes einen Zustand der Normalität zu verkünden. Das Beste, was wir gegen den IS tun können, ist, das Leben wie gewohnt fortzusetzen.

Olivier Roy, 66, gilt als einer der besten Kenner des europäischen Islam und hat eine Reihe von Büchern zum Thema verfasst. Mit seiner Expertise fungierte er bereits als UN-Gesandter, OSZE-Diplomat und Berater des französischen Außenministeriums. Roy ist zudem Forschungsdirektor am Nationalen Forschungszentrum (CNRS) in Paris und lehrt unter anderem an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).