Problemelefant in Nepal: Ronaldo, der heilige Killer

Während uns Wölfe und Bären Kopfzerbrechen bereiten, müssen die Menschen in Nepal mit Elefanten klarkommen, die ganze Dörfer terrorisieren. Eine Reportage vom Rand des Dschungels.

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- Von Merlin Gröber 

Balaram Chaudhary, 70, bleibt stehen und deutet auf tiefe Spuren im Schlamm. Sie sehen aus, als hätte jemand runde Papierkörbe in den weichen Boden gedrückt. „Das sind Ronaldos Fußspuren“, sagt der Dschungelführer. Und: „Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein.“ Nebel hängt über dem Dschungel, wir schleichen auf dem taunassen Trampelpfad durchs Unterholz und suchen einen Elefanten. Plötzlich steht er vor uns: Ronaldo, der Killer.

Er ist ein grauer Riese mit abgesägten Stoßzähnen und eitriger Wunde am Rücken, dort, wo eigentlich der Schwanz sitzen sollte. Ein Rivale hat ihn attackiert. Ronaldo ist einer von rund 200 wild lebenden Elefanten in Nepal, benannt nach dem berühmten portugiesischen Fußballspieler Cristiano Ronaldo, weil er Menschen herumkickt wie Fußbälle. Weder Balaram Chaudhary noch wir, die Fotografin und der Reporter, wollen vor Ronaldos Füßen landen. Langsam dreht sich der Dschungelführer um und flüstert: „Rennt!“

Ronaldo schwingt seinen Rüssel hin und her, trompetet laut. Er schlackert mit den Ohren, die klatschend an den Seiten seines riesigen Schädels aufschlagen, und stampft auf den Boden. Die Erde vibriert. Pfaue fliehen ins Unterholz, Axishirsche ducken sich im hohen Gras. Als ein anderer Elefant auftaucht, verliert Ronaldo das Interesse an uns, dreht ab und verschwindet im Dschungel.

Die Sonne geht auf, hier am Rande des Chitwan-Nationalparks im Süden Nepals. Rund 70 Säugetierarten leben in diesem geschützten Gebiet, neben Panzernashörnern, Tigern, Leoparden und Lippenbären schätzungsweise 40 bis 60 Elefanten, streng geschützt.

Das Problem: Immer wieder verlassen die Tiere den Nationalpark und geraten in Konflikt mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer. In den vergangenen 20 Jahren wurden in Nepal 412 Angriffe von Elefanten registriert, 274 Menschen starben, 138 wurden verletzt, am häufigsten durch Bullen, meist Einzelgänger wie Ronaldo. Allein er hat in den vergangenen elf Jahren 17 Menschen getötet. Wie gehen die Einheimischen mit Killern wie Ronaldo um? Und was können wir vom Fall Ronaldo lernen, jetzt, wo wilde Tiere wie Bären und Wölfe wieder bei uns heimisch werden?

Palettenvoller Red-Bull-Dosen

Som Dahedm Tamrey sitzt barfuß auf den Treppenstufen seiner Veranda in Badreni, einer Ansammlung strohbedeckter Hütten entlang einer staubigen Straße in der Nähe des Nationalparks. Nur ein Feld, auf dem gelber Senf blüht, und der Fluss Rapti trennen das Heimatdorf des 42-Jährigen vom Dschungel, dem Reich von Ronaldo.

Tamrey zeigt das Porträt eines alten Mannes, der ernst in die Kamera blickt. „Das war mein Vater“, sagt er und streicht mit seinen Fingern über die goldenen Leisten des Bilderrahmens. „Wie jeden Tag ging mein Vater auf der anderen Seite des Flusses an den Waldrand, um die Büffel zu hüten.“ In der Nähe einer staatlichen Aufzuchtstation für Elefanten traf er auf Ronaldo. Das Tier war gereizt, Angestellte der Aufzuchtstation hatten ihn zuvor mit Steinen beworfen und mit brennenden Fackeln vertrieben, weil er sich ihren Elefantenkühen nähern wollte. Nur 50 Meter vom Eingangstor entfernt stürmte der Elefantenbulle hinter einem Dickicht hervor, packte den alten Herrn mit dem Rüssel, schleuderte ihn durch die Luft und schmetterte ihn auf den Boden. Der Angriff dauerte fünf Minuten, sagt Tamrey. Der Schädel seines Vaters barst, seine Arme waren verrenkt, Blut trat ihm aus den Augen. Entlang der Nationalparkgrenze wohnen viele Menschen wie Tamrey, die ähnliche Geschichten erzählen.

Da ist Prem Lama, ein Kiosk-Besitzer, der in der Nähe der Aufzuchtstation Cola, Bier und Chips verkauft. Er schildert, wie der Elefant seinen Großvater durch die Luft schleuderte und auf dem Boden zerschmetterte. Nachts watet der Elefantenbulle immer wieder durch den Fluss, bricht Prem Lamas Geschäft auf und frisst Chipstüten, zerkaut Bier- und Red-Bull-Dosen, häufig ganze Paletten.

60 Prozent der Elefantenangriffe in Nepal ereignen sich nicht in Nationalparks, sondern außerhalb davon, weniger als 500 Meter vom Dschungelrand entfernt. Dort, wo auch Sanichar Chaudhary und seine Frau Bhaiji Tharuni leben. Ihre Hütte steht zwischen Mangobäumen neben einem abgeernteten Reisfeld. Im Schlamm sind noch die Spuren des Elefanten sichtbar.

„Vor vier Tagen war er hier“, sagt der alte Mann Chaudhary. Er hält einen Gehstock in den Händen und deutet auf die rund vier Meter lange Seitenwand der Hütte, in der ein riesiges Loch klafft. Nachts um vier, so erzählt es Chaudhary, schlug Ronaldo mit seinem Rüssel die Hauswand ein, das Ehepaar lag im Bett – glücklicherweise auf der anderen Seite des Raums. Während Ronaldo mit dem Rüssel nach Nahrungsmitteln suchte, dachten Chaudhary und seine Frau, sie müssten sterben. Nach schier endlosen Minuten der Angst packte Ronaldo zwei Säcke Reis und verschwand. „Es ist sehr schwierig, hier zu überleben“, sagt Chaudhary.

„Das ist der große kulturelle Unterschied. Elefanten gelten in Nepal als heilig.“

Babu Ram Lemichhane, Leiter einer örtlichen Naturschutzorganisation

Auch Shanti Maya Tamang lebt am Dschungelrand. Die 35-Jährige sitzt auf einem hölzernen Schemel vor ihrem Haus, an den Füßen lila Socken mit gelben Blumen. Sie hält das Bild eines Babys in Händen.

Stockend erzählt sie: Abends, es war schon dunkel, stampfte Romeo ein anderer Elefantenbulle, ins Dorf. Tamang war allein zu Hause, ihr Mann im Nachbardorf. Die Mutter trat mit ihrem Sohn in den Armen ins Freie, wollte sich und ihr Kind in Sicherheit bringen. Sie hatte Lebensmittel im Haus gelagert und wusste, dass die dünne Wand aus Lehm einem Elefantenangriff nicht standhalten würde. Kaum war sie vor der Hütte, packte der Elefantenbulle den Kleinen mit seinem Rüssel, riss ihn aus den Armen der Mutter und schleuderte ihn über die Straße. Tamang beugte sich schützend über ihr Kind, Romeo trampelte über sie hinweg und verschwand, ohne die Frau zu berühren.

Für den Buben kam jede Hilfe zu spät. Er wurde nur dreieinhalb Monate alt.

Wo Zäune und Mauern nicht reichen

„Eigentlich töten Elefanten keine Menschen“, sagt Babu Ram Lemichhane, der örtliche Leiter der

Naturschutzorganisation „National Trust for Nature Conservation“. Auf seinem Schreibtisch ist Ronaldo ein Papierstapel: ausgedruckte Wildtierstudien, Prospekte mit Farbfotografien, eine Excel-Tabelle, die Zusammenstöße mit dem Elefantenbullen dokumentiert: zwölf Spalten. Zwölf menschliche Schicksale.

Lemichhane sagt: „Sobald Elefanten einmal Menschen angegriffen haben, verlieren sie die Furcht.“ Ausschlaggebend sei das menschliche Verhalten: Vertreiben die Menschen die Tiere, etwa weil sie die Ernte oder Lebensmittelvorräte fressen, greifen die Elefanten an. „Die Konflikte werden häufiger und schwerer, weil die Habitate der Tiere abgeschottet sind wie Inseln und ihnen Wanderrouten fehlen“, erklärt er. Die Lebensräume sind fragmentiert, auf den Verbindungskorridoren siedeln Menschen und geraten mit den Tieren in Konflikt.

Nepals Bevölkerung wohnt größtenteils auf dem Land, und sie wächst rapide. Auch die Anzahl der Elefanten nimmt zu. Die Zusammenstöße, so der Elefanten-Experte Ashok Ram, geschehen häufig in der Paarungszeit. Dann steigt der Testosteronspiegel im Blut der Tiere stark an, die Elefantenbullen sind besonders reizbar und aggressiv, legen große Strecken zurück, um Weibchen und Nahrung zu finden.

Umsiedlungen, Elektrozäune, Mauern – in Nepal gibt es viele Versuche, um den Konflikt zwischen Elefanten und Menschen zu entschärfen. „Zäune reißt Ronaldo einfach mit dem Rüssel raus oder drückt sie um“, sagt der Wildhüter Sunbahadur Tanang und deutet auf einen umgeworfenen Pfahl. Mauern aus Beton seien deutlich effektiver, allerdings sei diese Lösung sehr teuer – und habe einen großen Nachteil: „Während der Monsunzeit ist hier alles überschwemmt. Dann stellen wir sogar den Strom ab. Die Mauer, wenn wir sie einmal komplett um das Dorf bauen, hält das Wasser in der Gemeinde wie in einem Swimmingpool.“ Außerdem können auch die Betonsteine Ronaldo kaum aufhalten: Bereits dreimal habe er die Mauer weiter unten am Fluss durchbrochen und sei ins Dorf marschiert.

Die Regierung Nepals versucht auch mit Geld entgegenzuwirken: Doch die Menschen bekommen nicht die tatsächliche Schadenssumme ersetzt, sondern festgelegte Beträge ausbezahlt: Umgerechnet maximal 73 Euro für Ernteschäden, 1500 Euro bei Verletzungen und 7300 Euro für die Hinterbliebenen bei tödlichen Zusammenstößen.

Eine Mauer zu schwach, die Zäune anfällig, die Hilfszahlungen unzureichend: Warum wird Ronaldo nicht getötet? Während in Österreich längst Abschussgenehmigungen für Wölfe erteilt werden, die Schafe auf Almen reißen, läuft ein Killerelefant, der sogar Kinder tötet, weitgehend unbehelligt durch Nepal. „Das ist der große kulturelle Unterschied“, sagt Babu Ram Lemichhane, der den Papierhaufen Ronaldo verwaltet. „Elefanten gelten in Nepal als heilig.“

Etwa 80 Prozent der Einwohner des Landes bekennen sich zum Hinduismus. Ganesha, der Gott mit Elefantenkopf, wird von vielen verehrt. Tötet ein Elefant einen Menschen, dann sei das nicht die Schuld des Tieres, sondern Schicksal. „Außerdem“, sagt Lemichhane, „wenn wir Ronaldo erschießen, kommt der nächste Bulle. Wie viele Elefanten wollen wir umbringen?“

Verschiedene Maßnahmen miteinander zu verschränken, das sei die einzige Möglichkeit, um den Konflikt zwischen Elefanten und Menschen zu lösen, sagt der Experte Ashok Ram. Schutzvorkehrungen wie Zäune und Mauern seien nur kurzfristige Lösungen, mittelfristig müsse man durch Aufklärung über den richtigen Umgang mit Wildtieren sowie mit vollen und sofortigen Kompensationszahlungen ein langfristiges Ziel erreichen: eine Umgebung für eine friedliche Koexistenz schaffen, so Ram. Neben ihrer kulturellen und identitätsstiftenden Funktion sind die Tiere in Nepal auch ein Wirtschaftsfaktor: Touristen kommen auch deswegen in den Chitwan-Nationalpark, um Elefanten in freier Wildbahn zu sehen.

Ronaldo darf weiterleben.