"Noch viel zu tun"

Proteste in der Slowakei: "Wir haben noch viel zu tun"

Die Slowakei erlebt derzeit die größten Proteste seit 1989.

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100.000 Menschen waren vergangene Woche in der Slowakei auf der Straße, um gegen die aktuelle Regierung zu demonstrieren. Kurz zuvor ist Ministerpräsident Robert Fico zurückgetreten. Staatspräsident Andrej Kiska gelobte am Donnerstag den neuen Ministerpräsidenten Peter Pellegrini sowie dessen Kabinett an. Damit hat das Land ein Monat nach dem Mord an dem slowakischen Aufdeckerjournalisten Ján Kuciak und dessen Verlobten Martina Kušnírová eine neue Regierung. Der Investigativreporter hatte zuletzt über Verbindungen der italienischen Mafia zum slowakischen Regierungsamt recherchiert.

Pellegrini verurteilte den Mord an Kuciak als "Angriff auf die Redefreiheit". Er sagte zu, dass seine Regierung alles machen werde, um das Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen. "Wir wollen unser Bestes tun, um die Slowakei zu einem erfolgreichen Land, einen guten Ort zum Leben und ein Land zu machen, auf das wir stolz sein können", so der Sozialdemokrat. Für heute, Freitag, sind jedoch weitere Proteste im Land unter dem Motto "Für eine anständige Slowakei" geplant. Viele der Demonstranten fordern nicht nur eine Regierungsumbildung, sondern Neuwahlen.

profil hat die ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radičová zum Interview über die aktuelle politische Situation im Land getroffen.

„Die Revolution von 1989 ist noch nicht zu Ende“

Iveta Radičová, die von 2010 bis 2012 für die Konservativen als Ministerpräsidentin diente, über die größten Proteste seit der samtenen Revolution und die Situation der Presse nach dem Mord an Ján Kuciak.

profil: Die Slowakei galt als Musterschüler der neuen EU-Staaten. Nun steckt das Land in einer tiefen Krise. Wie ist es dazu gekommen? Iveta Radičová: Viele Länder in Europa sind derzeit gespalten und das Vertrauen in das politische System geht zurück. Das gilt für die Slowakei genauso wie für Österreich, Polen, Ungarn, Italien oder Großbritannien. Das ist eine Konsequenz der Globalisierung und des technologischen Wandels. Unsere Gesellschaften ändern sich und das erzeugt Unsicherheiten. In der Slowakei sind zudem die Korruption und die soziale Ungleichheit sehr hoch. Viele Menschen haben das Gefühl, zu wenige Chancen für ein selbstbestimmtes Leben zu haben. Der Mord an den Journalisten Ján Kuciak war dann der traurige Auslöser für die Menschen, um auf die Straße zu gehen und zu sagen. ‚Es reicht!’.

Iveta Radicová war von 2010 bis 2012 Ministerpräsidentin der Slowakei

profil: Der mittlerweile zurückgetretene Premierminister Robert Fico hat behauptet, hinter den Protesten stecke der US-Milliardär George Soros. Das klingt wie Viktor Orbáns Verschwörungstheorien in Ungarn. Droht die Slowakei abzudriften? Radičová: Nein, die Slowakei wird nicht den Weg Ungarns gehen, denn die Mehrheit spielt dieses Spiel nicht mit. Fico hat zwar immer wieder Feindbilder aufgebaut - Roma, Flüchtlinge, Wissenschaftler, Künstler oder eben Soros -, aber nach einer gewissen Zeit nutzt sich das ab. Die Proteste haben außerdem etwas bewirkt: Fico musste zurücktreten, Innenminister Robert Kaliňák ist zurückgetreten, die Regierung wurde umgebildet. Die Menschen auf der Straße sehen, dass sie etwas bewirken können.

profil: Staatspräsident Andrej Kiska hat den Regierungsvorschlag von Ficos Nachfolger Peter Pellegrini mittlerweile angenommen. Werden die Proteste nun aufhören? Radičová: Das ist schwer zu sagen. Viele gingen auf die Straße, um Neuwahlen zu fordern. Die drei Regierungsparteien Smer-SD (Sozialdemokraten), SNS (Slowakische Nationalpartei) und Most–Híd (Ungarische Minderheit) haben immer noch die Mehrheit im Parlament. Es hängt also von den Abgeordneten dieser drei Parteien ab, ob sich etwas bewegt und eine Mehrheit für Neuwahlen im Parlament zustande kommt. Die Unzufriedenheit wird durch die Regierungsumbildung aber nicht weniger werden.

Jedes Mal, wenn die Menschen befürchten, die Demokratie könnte beschädigt werden, gehen sie auf die Straße.

profil: Wohin könnten die Proteste noch führen? Radičová: Wir bewegen uns in der Slowakei gerade am unteren Ende einer Auf- und Abbewegung. Wir sind eine junge Demokratie und die Trennung von Tschechien vor 25 Jahren war sehr schmerzvoll und kostspielig. Wir waren lange Jahre mit dem Aufbau unseres Staates und unserer Identität beschäftigt. Danach gab es eine Phase der Konsolidierung. Aktuell kämpfen wir wieder für eine offene Gesellschaft und liberale Demokratie. Dieser Prozess ist eine Fortsetzung der samtenen Revolution aus dem Jahr 1989. Aber er ist natürlich nie ganz abgeschlossen. Und jedes Mal, wenn die Menschen befürchten, die Demokratie könnte beschädigt werden, gehen sie auf die Straße.

profil: Viele der Demonstranten von heute waren damals noch gar nicht auf der Welt. Radičová: Es ist eine Mischung aus Jung und Alt – ähnlich wie in einer Familie, in der sich Eltern und Kinder unterstützen. Ich bin aber zuversichtlich, dass diese neue Generation ihre eigene demokratische Geschichte schreiben wird.

profil: Sie kommen gerade von einer Diskussion mit führenden Journalisten des Landes. Gibt es seit dem Mord an Ján Kuciak unter ihnen ein Gefühl der Angst? Radičová: Nein, ihr Zugang ist, nun noch härter und mehr zu arbeiten als zuvor. Es gibt manche Journalisten, die der Regierung wohl gesonnen sind. Andere wiederrum befürworten die Anliegen der Opposition. Das ist normal und ein Teil der Pluralität der Presse. Wie in allen Berufen, gibt es auch unter Journalisten professionelle und unprofessionelle ohne moralische Skrupel. Das größere Problem sehe ich allerdings in den nicht regulierten Medien, die immer stärker werden. Da spielt sich vieles im Internet ab und öffnet Verschwörungstheorien, Propaganda und Manipulation Tür und Tor. Viele Menschen sind sich unsicher, was Fakt oder Lüge ist. Das ist eine neue Herausforderung und braucht entsprechende Gesetze.

Iveta Radičová (61) war von 2010 bis 2012 für die Konservativen Ministerpräsidentin der Slowakei. Die promovierte Soziologin ist derzeit Professorin an der International School of Liberal Arts in Bratislava.