Friedrich Katschnig rettete eine Ruanderin vor dem Völkermord.
Wie ein Polizist eine Frau vor dem Völkermord in Ruanda rettete

Vor 25 Jahren setzte ein Polizist eine Afrikanerin in eine Kiste und schloss den Deckel. Um sie zu retten.

Vor 25 Jahren setzte ein Polizist eine Afrikanerin in eine Kiste und schloss den Deckel. Um sie zu retten.

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Er weiß, wenn er jetzt nicht achtgibt, wird sie ersticken. Die Kiste misst 80x60x60 cm. Wie lange reicht die Luft? Ein paar Minuten? Eine Viertelstunde? Eine halbe? Keine Ahnung. Aber er kann nicht riskieren, dass irgendjemand hier bemerkt, was er vorhat. Er sitzt auf dem Deckel und hebt ihn immer wieder an, möglichst unauffällig. Dann streckt die Frau, die drinnen kauert, einen Finger heraus, um ihm zu signalisieren, dass sie noch lebt.

Dies ist die Geschichte eines Husarenstücks, das nur durch Gehorsamsverweigerung und Pflichterfüllung zugleich möglich war, und zwar im jeweils besten Sinne. Wenn der Begriff den Beteiligten selbst nicht zu groß erschiene, könnte man auch sagen: die Geschichte einer Heldentat. Vollbracht wurde sie bereits vor einem Vierteljahrhundert. Aber erst jetzt wollen die Beteiligten öffentlich darüber reden.

Die Frau in der Kiste heißt Yvonne Mwizerwa, der Mann auf dem Deckel Friedrich Katschnig, und nichts konnte die beiden darauf vorbereiten, in welche Lage sie geraten sind.

Kigali, Ruanda, 15. April 1994. Überall in der Stadt liegen Tote - erschlagen, erschossen, zerstückelt, verbrannt. Zehntausende sind es an diesem Freitag vor 25 Jahren bereits; bis zu einer Million werden es am Ende sein. In dem ostafrikanischen Land wütet ein beispielloser Völkermord, wie ihn die Welt seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat.

Aber die Welt sieht lieber nicht zu genau hin. Die Hintergründe des Gemetzels sind ohnehin schwer zu durchschauen. Außerhalb Afrikas hat man schon Schwierigkeiten, Ruanda auf der Landkarte zu finden, geschweige denn, die beteiligten Parteien auseinanderzuhalten. Wer sind die Hutu, wer die Tutsi? Und wer ist Opfer, wer Täter?

Der Genozid hat eine Vorgeschichte, die mehr als 100 Jahre zurückreicht. Als die Deutschen Ruanda 1899 als Kolonie übernehmen, kategorisieren sie die dort ansässige Bevölkerung mithilfe der rassistischen Hamitentheorie, die der britische Afrikaforscher John Hanning Speke entwickelt hat. Die neuen Herren des Landes glauben, dass die Tutsi kaukasischer Herkunft sind, also mit den Europäern verwandt und daher rassisch höherwertig als die Hutu. Das ist hanebüchene Pseudowissenschaft, hat aber dennoch ganz konkrete politische Folgen. Die Deutschen beginnen, die Tutsi gegenüber den Hutu zu bevorzugen und als Machtelite zu festigen. Die Belgier, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Herrschaft in Ruanda übernehmen, setzen diese Politik fort. Nach einer Volkszählung Anfang der 1930er-Jahre geben die Kolonialherrscher Personaldokumente aus, in denen festgeschrieben ist, wer Tutsi und wer Hutu ist. Die katholische Kirche und ihre Missionare in Ruanda fördern zunächst ebenfalls die Tutsi. Sie bietet ihnen Schulausbildung, die es ihnen wiederum erleichtert, in den Staatsdienst einzutreten. Als die Geistlichen bemerken, dass die Hutu immer mehr ins Abseits geraten, kümmern sie sich zwar verstärkt um sie, tragen damit aber zu einer weiteren Polarisierung bei. Es entsteht ein Hutu-Klerus, der zum Gegenspieler einer weltlichen Tutsi-Elite heranwächst.

In den 1950er-Jahren bilden sich entlang der anfangs herbeifantasierten, irgendwann jedoch zur Realität gewordenen ethnischen Grenzen politische Parteien. 1959 brechen gewaltsame Auseinandersetzungen aus. Die Belgier reagieren darauf, indem sie die Hälfte der Tutsi-Beamten durch Hutu ersetzen. Immer wieder kommt es zu Massakern: 1962 an den Tutsi, 1972 an den Hutu. Die Bildung einer Einheitspartei unter Juvénal Habyarimana, einem Hutu, dämmt die Gewalt ab 1973 zwar vorübergehend ein. Der neue Präsident macht sich aber durch extreme Clanwirtschaft unbeliebt. Nachdem eine Wirtschaftskrise in den 1980er-Jahren seine Autorität untergraben hat, bricht ein offener Bürgerkrieg aus. 1990 marschiert eine Rebellenarmee aus dem benachbarten Uganda in Ruanda ein - die Nachkommen vertriebener Tutsi. An ihrer Spitze steht Paul Kagame, selbst ein Flüchtlingskind. Habyarimana ruft Frankreich und Belgien zu Hilfe. Belgien zieht einen Großteil seiner Truppen bald wieder ab, Frankreich hingegen bleibt an der Seite der Hutu, obwohl sich diese durch einen extremen Nationalismus radikalisieren und ganz offen auf die Vernichtung aller Tutsi abzielen. Zeitungen und Sender, allen voran das berüchtigte Hetzradio "Milles Collines" (Tausend Hügel), rufen zur Ausrottung der "Kakerlaken" auf. Hutu-Extremisten erstellen Todeslisten, der Machtklüngel um Staatschef Habyarimana lässt in großem Stil Macheten und Schusswaffen beschaffen, um diese an die Bevölkerung auszugeben. Gleichzeitig rücken die Tutsi-Rebellen im Land immer weiter vor. Am 6. April 1994 wird das Flugzeug von Präsident Habyarimana im Landeanflug auf Kigali von einer Rakete getroffen und explodiert.

Als der Jet vom Himmel fällt, lenkt Friedrich Katschnig gerade sein Dienstfahrzeug, einen Toyota Landcruiser, durch Kigali. Erst zu Weihnachten ist er hier angekommen, als Angehöriger der Unamir, einer Friedensmission der Vereinten Nationen. Die Truppe besteht aus 2217 Soldaten, 331 unbewaffneten Militärberatern und zudem 60 Polizisten - darunter auch 20 Österreicher. Einer davon ist Katschnig, Angehöriger der Sondereinheit GEK (Gendarmerieeinsatzkommando, heute Einsatzkommando Cobra).

Eigentlich sollte der Revierinspektor gar nicht hier sein - aber nicht, weil er ungeeignet wäre, ganz im Gegenteil: Er hat gerade einen äußerst belastenden Einsatz zwischen den Fronten der Roten Khmer und den Regierungstruppen in Kambodscha hinter sich und war danach für einen längeren Heimataufenthalt vorgesehen. Aber dann fiel ein anderer Beamter für Ruanda aus; Katschnig wurde als Reservist angefordert und sagte zu.

Im Vergleich zu Kambodscha gilt Ruanda als ruhig. Im Jahr zuvor haben die Hutu-Regierung und die Tutsi-Rebellen das Friedensabkommen von Arusha unterzeichnet. Aufgabe der UN-Leute ist es nun, die örtlichen Sicherheitskräfte auszubilden und dafür zu sorgen, dass die geplanten Wahlen reibungslos durchgeführt werden können.

"Alarmstufe ROT in ganz Ruanda"

Dass die Lage weitaus angespannter ist als vermutet, bekommen die Blauhelme klarerweise mit. Was sich tatsächlich zusammenbraut, bleibt ihnen aber verborgen. Die Franzosen und die Belgier wissen mehr, behalten das aber weitgehend für sich. Katschnig und drei weitere Österreicher, darunter der Kommandant des Kontingents der UN-Polizei, Manfred Bliem, haben sich privat in der Rue de Masaka Nr. 6 in einem geräumigen Bungalow mit Glasfront, offenem Kamin und großem Garten eingemietet - zehn Minuten Fahrzeit vom Polizei-Hauptquartier der Unamir entfernt, das unmittelbar neben dem Hotel Méridien (dem heutigen Marasa Umubano Hotel, siehe Karte) liegt. Yvonne Mwizerwa, die Sekretärin, wohnt eigentlich in einem Massenquartier in einem unruhigen Viertel an der Peripherie von Kigali. Die junge Frau kommt aus einer gemischten Familie: Ein Elternteil ist Hutu, der andere Tutsi, weshalb ihr von beiden Seiten Gefahr droht. Der Weg ins Büro ist langwierig und mittlerweile auch so riskant für sie, dass ihr die Österreicher ein Zimmer in ihrem Haus überlassen haben. Zwei weitere Einheimische - ein Hausbediensteter und ein Gärnter, beide Hutus - sind ebenfalls auf dem Gelände untergebracht.

Dorthin sind Katschnig und Mwizerwa am 6. April gegen 22 Uhr unterwegs. Katschnig ist an diesem Mittwochabend der einzige Österreicher im Quartier. Kommandant Bliem und ein weiterer Polizist befinden sich auf Heimaturlaub, der dritte Beamte - Alfred Scheidl - verrichtet Nachtdienst in der Kommandozentrale der UN-Polizei. "Normalerweise hat sich um diese Tageszeit in den Straßen von Kigali der Verkehr gestaut. Aber an diesem Abend waren plötzlich alle Autos weg. An den Kreisverkehren standen Militärjeeps", erinnert sich Katschnig. Im Bungalow angekommen, ruft er Scheidl in der Zentrale an. Was dann passiert, ist einem Einsatzbericht zu entnehmen, den Katschnig später für seine Vorgesetzten in Österreich verfassen wird: "Durch ihn (Scheidl, Anm.) erfahre ich dann auch telefonisch den Grund für diese verdächtige Stille: Anschlag auf die Privatmaschine des ruandesischen Präsidenten, totales Ausgangsverbot für alle UN-Mitarbeiter, Alarmstufe ROT in ganz Ruanda! Ich informierte die drei Ruandesen in meinem Haus (Tag-, Nachtwächter sowie eine UN-Angestellte) über diese Ereignisse", heißt es in dem insgesamt vier Seiten langen Papier.

"Morgen sind wir alle tot"

"Morgen sind wir alle tot", sagt Mwizerwa, aber das steht nicht in dem Bericht.

Vorerst bleibt es aber ruhig. Das wird schon wieder, habe er gedacht, erinnert sich Katschnig. Er täuscht sich.

Nach heutigen Erkenntnissen waren es Hutu-Militärs, die ihren eigenen Präsidenten vom Himmel geholt haben: weil er erstens ihrer Meinung nach zu gemäßigt war - und zweitens, um das Attentat den Tutsi anzulasten und anschließend mit ihnen abzurechnen.

"In den frühen Morgenstunden brachen Schießereien in einem Ausmaß aus, das mich komplett überrascht hat. Von allen Seiten hörte man das Geknatter von Waffen", erzählt Katschnig. Der Polizist robbt auf die Terrasse des Bungalows, um das Satellitentelefon - einen schweren, unhandlichen Kasten mit Parabolantenne - aufzustellen, das er noch nie benutzt hat. Auszug aus dem Einsatzbericht: "Nach hektischem Studium der dicken englischen Gebrauchsanweisung hoffe ich inständigst, alles richtig installiert zu haben."

"Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber wir haben Krieg"

Er hat. Vorwahl 0043 und die Privatnummer von Kommandant Bliem in Österreich. Freizeichen. In Vorarlberg wird der Hörer abgenommen. "Herr Oberst, entschuldigen Sie, dass ich störe", sagt Katschnig seiner Erinnerung nach: "Aber wir haben Krieg, es wird geschossen." Viel mehr kann er nicht mehr berichten, denn in diesem Moment knallt ein Projektil ins Dach.

Die folgenden Stunden verbringt der Polizist hinter dem offenen Kamin, der einzigen Stelle im Erdgeschoß des Gebäudes, die Schutz vor Querschlägern bietet. Ab und zu wagt er sich aus der Deckung, um die Lage zu beobachten. Er sieht, wie Uniformierte in der Nachbarschaft von Haus zu Haus gehen; wie sie mit Gewehrgranaten durch die Fenster schießen; wie sie Menschen herauszerren und abschlachten. Weniger als einen Kilometer vom Quartier der Österreicher entfernt werden zehn belgische Blauhelmsoldaten ermordet, welche die Premierministerin Agathe Uwilingiyimana beschützen sollen. Die Politikerin, eine moderate Hutu-Politikerin, stirbt wenig später.

Um sich zu verteidigen, hat Katschnig nur eine Pistole, die er privat besitzt und offiziell eigentlich nicht verwenden darf. Er bricht die Transportkisten seiner Kollegen auf, um an weitere Waffen und Munition heranzukommen. Dann zieht er die UN-Fahne im Garten ein, versteckt den Landcruiser und gibt den Hausangestellten Geld, damit sie ihn nicht an die Mordbanden verraten. Kommandant Bliem hat ihm aufgetragen, Mwizerwa in Sicherheit zu bringen. Aber wohin? Die beiden sind abgeschnitten, und draußen tobt der Mob.

So vergehen Donnerstag und Freitag, der 7. und der 8. April 1994. Samstagfrüh beobachtet Katschnig, dass sich die Umgebung leert. Franzosen und Belgier haben mit einer Evakuierungsaktion für ihre Staatsbürger begonnen. Er weiß, dass er jetzt handeln muss. Was er nicht weiß: dass damit eine Odyssee beginnt, die tagelang am Rand des Todes entlang führen wird.

"Da immer mehr bewaffnete Plünderer johlend und schreiend durch unser Viertel ziehen, entschließe ich mich, zum österr. Honorarkonsul zu fahren, da die Schießereien gerade etwas nachlassen", heißt es in Katschnigs Einsatzbericht. Er packt zwei Rucksäcke, staffiert Mwizerwa mit einer österreichischen Uniform und einem Blauhelm aus und macht sich mit ihr auf den Weg in die nahe gelegene Residenz des Diplomaten. Was die beiden dort erwartet, ist alles andere als beruhigend. Vor dem Haus lungern Hutu-Soldaten herum, drinnen bedient sich ein Oberst der Regierungsarmee an den Cognacvorräten des Konsuls. Katschnig entschließt sich zum Rückzug: Hier kann Mwizerwa nicht bleiben. Keine Stunde nach dem Fluchtversuch sind sie wieder dort, wo sie herkamen.

Inzwischen ist eine Rettungsaktion für Katschnig angelaufen. Beim Bungalow warten ein österreichischer und ein polnischer UN-Sicherheitsbeamter, um ihren Kollegen ins Hotel Méridien zu bringen. Aber sie weigern sich, Mwizerwa mitzunehmen. Katschnig wiederum weigert sich, unter diesen Umständen mit ihnen zu kommen.

Nächste Anlaufstelle: ein Sammellager, das französische Truppen für 24 Stunden ein paar Hundert Meter entfernt eingerichtet haben, um ausländische Staatsangehörige aufzunehmen. Als sie gerade aufbrechen wollen, steht plötzlich eine weitere Ruanderin in der Türe, die ebenfalls um ihr Leben fürchtet. Katschnig liefert die Frauen bei den Franzosen ab und fährt ins UN-Hauptquartier im Hotel Méridien, um das Satellitentelefon beim österreichischen Kontingent abzuliefern. Es gibt keinen Ort in Kigali, der in diesem Moment sicherer wäre. Er könnte bleiben und die Geschichte damit hier enden.

"Ich muss noch jemanden holen, Fredl"

"Ich muss noch jemanden holen, Fredl", sagt Katschnig stattdessen zu seinem Kollegen Alfred Scheidl und steigt wieder in den Landcruiser. Scheidl kommt umstandslos mit.

Zurück zum Sammellager, durch eine Kriegslandschaft. Leichen am Straßenrand, Checkpoints und Barrikaden mit extrem nervösen Soldaten und aufgeputschten Schlägertrupps. Katschnig und Scheidl schlagen sich mit der Lüge durch, sie seien auf dem Weg, ihre Ausrüstung zu holen. Ein Hutu-Offizier ist misstrauisch und droht, ihr Fahrzeug auf der Rückfahrt genau zu durchsuchen.

Also brauchen sie eine andere Route retour zum Hotel. Im Sammellager haben sie nämlich nicht nur Mwizerwa und die zweite Flüchtlingsfrau aufgenommen, sondern auch einen libanesischen Koch und dessen Familie. Sie sind jetzt zu siebt. Auch schon egal, weswegen sie uns umbringen, habe er gedacht, erzählt Katschnig 25 Jahre danach in Wien. Doch jetzt kommt ihnen ein glücklicher Zufall zu Hilfe: Alle Checkpoints werden geöffnet, weil ein Evakuierungskonvoi auf das französische Sammellager anrollt . Den Landcruiser der Österreicher, der in die Gegenrichtung fährt, beachtet im allgemeinen Gewusel niemand. Wenig später treffen sie wohlbehalten im UN-Hauptquartier ein, das unmittelbar an der Front zwischen den Truppen der Hutu und einem Bataillon der Tutsi-Rebellen liegt. "Im Hotel Méridien selbst liegen hunderte Flüchtlinge auf den Gängen und die Situation ist chaotisch", heißt es in Katschnigs Einsatzbericht: "Nur hundert Meter weiter beginnen die Stellungen der Tutsi-Armee, und von den oberen Stockwerken des Hotels kann man die Kämpfe live mitverfolgen."

Auch hier könnte die Geschichte enden. Doch sie geht weiter.

Am Morgen des nächsten Tages werden die UN-Polizisten überraschend zum Flughafen gebracht, nach Kenia ausgeflogen und in einem guten Hotel untergebracht. Mwizerwa hingegen bleibt in Kigali zurück, in der trügerischen Sicherheit des Méridien. "Da haben wir uns schlecht gefühlt", erinnert sich Alfred Scheidl.

Vier Nächte später, drei Uhr früh: Auf dem militärischen Teil des Flughafens von Nairobi steht eine startbereite Hercules C-130 mit Flugziel Kigali. Der Ladeoffizier weißt nicht so recht, was er mit den beiden Österreichern anfangen soll, die früh an Bord wollen; sie tragen Uniformen, haben leichte Waffen bei sich und behaupten, nach Ruanda abkommandiert worden zu sein. Einen schriftlichen Befehl dafür können sie jedoch nicht vorweisen.

Er nehme sie auf eigenes Risiko mit, sagt der Ladeoffizier schließlich. Alles Weitere sei ihr eigenes Problem. Passt, denkt Katschnig. Begleitet wird er von dem WEGA-Polizisten Robert Reifschneider, der ebenfalls im Bungalow gewohnt hat, zu Beginn des Völkermordes allerdings nicht im Land war.

Während die UN-Polizisten aus Ruanda abgezogen wurden, sind die österreichischen Militärbeobachter noch immer vor Ort. Ihr Kommandant, Reinhold Görg, hat inzwischen dafür gesorgt, dass Mwizerwa im Hotel Méridien bleiben darf.

Aber auch er und die restlichen Blauhelme können jederzeit den Befehl zum Abrücken bekommen. Mwizerwa sollte außer Landes geschafft werden, so schnell wie möglich. Doch dafür muss sie zum Flughafen und auf dem Weg dorthin durch mehrere Checkpoints, wo Todesschwadronen nur darauf warten, eine wie sie in die Hände zu bekommen.

Görg setzt sich gegen alle Bedenken, auch aus dem eigenen Kontigent, durch und erklärt sich bereit, die Frau hinauszuschmuggeln - in einer Kiste. Er besitzt eine, die groß genug und auch nicht völlig luftdicht ist. Auf dem Deckel befindet sich ein Aufkleber mit dem Slogan "1000 Jahre Krems". Sie werden Mwizerwa hineinsetzen und die Kiste auf einen Pick-up verladen, deklariert als Ausrüstungsmaterial. Görg wird vorfahren und auf Deutsch per Funk melden, wie die Lage an den Checkpoints ist. "In Kigali sind zu diesem Zeitpunkt nur mehr plündernde Horden unterwegs, die Regierungsarmee befindet sich im offenen Kampf mit der Tutsi-Armee", heißt es in Katschnigs Einsatzbericht: "Über der ganzen Stadt liegt süßlicher Verwesungsgeruch, und an jeder Kreuzung liegen die Opfer dieses sinnlosen Schlachtens, zum Teil im Straßengraben oder teils noch in ihren Fahrzeugen, die sie in ihrer Todesangst gegen Bäume oder Häuser gelenkt haben."

"Wir haben uns abgesprochen: Wenn wir aufgehalten werden, versuchen wir es mit ein paar Hundertern Bestechungsgeld. Klappt das nicht, kämpfen wir uns durch. Uns war schon bewusst, dass das blöd ausgehen könnte", sagt Katschnig heute.

Mwizerwa kauert sich in die Kiste, Katschnig schließt den Deckel.

Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis sie in Sicherheit sind. Er weiß nur: Wenn er jetzt nicht achtgibt, wird sie ersticken.

Ungefähr 15 Jahre später spricht Yvonne Mwizerwa auf dem Flughafen von Toronto eine AUA-Crew an. Ein österreichischer Polizist habe ihr vor langer Zeit das Leben gerettet, sagt sie. Ob es möglich wäre, den Mann ausfindig zu machen?

Katschnig hatte die Frau aus den Augen verloren, nachdem sie sicher in Kenia angekommen waren. Auf dem Weg zum Kigali Airport hatten er und Reifschneider mehrere Kisten über diejenige gestapelt, in der sich Mwizerwa versteckte. Dann war Katschnig stundenlang auf dem Deckel gesessen, um zu verhindern, dass jemand auf die Idee kam, hineinzuschauen - zunächst auf dem Flugfeld, dann in einer Transportmaschine. Erst nach der Landung in Nairobi wagten es die Retter, die Kiste zu öffnen. Dann war Mwizerwa endgültig in Sicherheit.

Yvonne Mwizerwa hat im Zuge des Völkermords fast ihre ganze Familie verloren. Nachdem die Tutsi-Rebellen die Macht im Land übernommen hatten, kehrte sie zurück, fand dort zwei ihrer Brüder und brachte sie ins benachbarte Tansania. Später suchte sie in Kanada erfolgreich um Asyl an und bekam einen Job bei den Vereinten Nationen, der sie nach Afrika zurückführte. Gegenwärtig arbeitet sie im Sudan. Sie will aber immer noch nicht über die damaligen Ereignisse reden.

Friedrich Katschnig war in der Folge bei weiteren, offiziellen Evakuierungsflügen beteiligt. In den Jahren danach nahm er an mehreren UN-Missionen teil und war als Beamter des Innenministeriums unter anderem bei der Flüchtlingskrise 2015 in der ÖBB-Verkehrsleitzentrale für die Transport- und Unterkunftskoordinierung zuständig. Derzeit arbeitet er in der Einsatzleitung des Innenministeriums für Auslandseinsätze der Polizei.

Was er und seine Kollegen 1994 in Ruanda taten, erfüllte bis zu einem gewissen Grad den Tatbestand der Gehorsamsverweigerung, weil sie sich nachträglich über den Evakuierungsbefehl hinwegsetzten. Andererseits handelte es sich um einen klaren Fall von Pflichterfüllung, und zwar in Bezug auf das Gebot humanitären Handelns.

"Ich hatte versprochen, auf Yvonne aufzupassen"

"Ich hatte versprochen, auf Yvonne aufzupassen. Ich hätte das Gefühl gehabt, komplett versagt zu haben, wenn ich sie nicht raushole", sagt Katschnig heute: "Ich konnte das Große nicht verhindern, aber wenigstens etwas Kleines bewirken. Und das war wichtig für mich, um mit dem klarzukommen, was ich in Ruanda erlebt habe." Persönlich sind sich die beiden seither nicht mehr begegnet. Aber manchmal schreiben sie einander noch Nachrichten über Facebook.

Die Kiste mit dem Aufkleber "1000 Jahre Krems" entdeckte Reinhold Görg später am Flughafen von Kigali: Blauhelme aus Bangladesch benutzten sie als Trittstufe für die Transportmaschine, mit der sie ausgeflogen wurden.

Hintergrund

Eine Geschichte, die zu gut klingt, um wahr zu sein: Damit umzugehen, ist seit dem Fälschungsskandal um "Spiegel"-Reporter Claas Relotius schwierig. profil hat Friedrich Katschnigs Schilderungen mehrfach überprüft. Ein halbes Dutzend Mal traf Redakteur Martin Staudinger den Polizisten, um die damaligen Ereignisse detailliert durchzugehen - etwa auf Basis eines Einsatzberichts vom 23.5. 1994, den Katschnig für das Innenministerium verfasste. Da in diesem Report aus nachvollziehbaren Gründen die Rettungsaktion für Yvonne Mwizerwa fehlt, wurde auch Rücksprache mit ehemaligen Angehörigen der Unamir gehalten. Einige von ihnen sind im Text namentlich erwähnt. Eine Unschärfe ließ sich letztlich nicht ausräumen: Im Gegensatz zu Katschnig glaubt sich Reinhold Görg zu erinnern, dass er es war, der auf der Fahrt zum Flughafen den Wagen lenkte; und dass auch er nach Nairobi mitflog. Mit Yvonne Mwizerwa hat profil ebenfalls Kontakt aufgenommen. Sie stellt die Schilderungen Katschnigs nicht infrage, will sich derzeit aber nicht dazu äußern.