Die Brücke über den Fluss

Südkorea und Selbstmorde: Die Brücke über den Fluss

Südkorea II. Mit dramatischem Abstand führt Südkorea jedes Jahr die Selbstmordstatistiken aller OECD-Länder an

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Mit dramatischem Abstand führt Südkorea jedes Jahr die Selbstmordstatistiken aller OECD-Länder an – vor allem, weil das Land einen einzigartig rasanten Wirtschaftsaufschwung erlebt hat.

Von Fabian Kretschmer, Seoul

Sung Jae-gi hält sich mit bloßen Händen am Außengitter der Mapo-Brücke fest. Knapp zehn Meter unter ihm wüten die tiefschwarzen Wassermassen des Han-Flusses, der die koreanische Hauptstadt Seoul in Nord und Süd teilt. Vier Männer stehen im Halbkreis um ihn herum, teilnahmslos filmen sie die sich anbahnende Tragödie. Einer von ihnen ist Kameramann des staatlichen Senders KBS, er hat sich eine Fernsehkamera über die Schulter geschnallt.

Was der Mann am Brückengitter tun will, hat er bereits am Vortag über Twitter verkündet: „Morgen werde ich in den Han Fluss springen“, steht auf seinem Account nachzulesen. Mit einer Art Selbstmord-Performance möchte er die Öffentlichkeit erpressen, ihm Geld für die hochverschuldete Männerrechtsorganisation zu leihen, die er gegründet hat.
Seinen letzten Tweet lässt er von einem Kollegen abschicken: ein Bild, das ihn beim Absprung zeigt, der zu allem entschlossene Blick Richtung Abgrund gerichtet. Das Foto ist unterlegt mit einer Nachricht: „Ich weiß, dass dies beschämend ist. Ich werde den Rest meines Lebens dafür büßen.“ Dann verschwindet Sung Jae-gi in den reißenden Fluten, taucht kurz wieder auf, bevor er endgültig vom Wasserstrom verschluckt wird. Nur wenige Augenblicke später rücken Bergungsteams mit Hochgeschwindigkeitsbooten und einem Helikopter aus.

Jede Dreiviertelstunde ein Selbstmord
Jeden Tag durchkämmen Rettungsmannschaften den Flussverlauf auf der Suche nach Lebensmüden. Es ist nicht ihr erster Einsatz an diesem Tag, und es wird auch nicht ihr letzter bleiben. 912 Selbstmörder konnten sie im Vorjahr vor dem Tod im Han-Fluss bewahren. Sung Jae-gis Leiche werden sie erst drei Tage später finden.

Von allen 30 OECD-Ländern hat der ostasiatische Tigerstaat Südkorea seit bereits zehn Jahren in Folge die höchste Selbstmordrate, und zwar mit gehörigem Abstand. Über 14.000 Menschen nahmen sich im vergangenen Jahr das Leben – oder anders ausgedrückt: Jede Dreiviertelstunde stirbt ein Koreaner durch eigene Hand. Für die Altersgruppe unter 40 ist die häufigste Todesursache Suizid.

Wer die Selbstmordepidemie auf den kulturellen Hintergrund beschränkt, greift zu kurz. Zwar gilt in den konfuzianisch geprägten Länder in Ostasiens, allen voran Japan, Selbstmord als sozial akzeptiert und kann bei persönlichem Fehlverhalten gar einen Gesichtsverlust wiederherstellen. Zudem werden psychische Erkrankungen immer noch weitgehend tabuisiert. Entsprechend viele unbehandelte Fälle gibt es.
Doch erklärt dies nicht, warum sich Südkoreas Suizidrate während der vergangenen Dekade verdoppelt, binnen 30 Jahren gar vervierfacht hat – und das, obwohl es der Bevölkerung materiell gut geht wie nie zuvor.
Vielleicht genau deswegen.

Die Selbstmordepidemie ging mit einem weltweit einzigartigen Wirtschaftswachstum einher. Südkorea, das in den 1960er-Jahren noch zu den ärmsten Ländern der Welt zählte, schaffte es als bisher einzige Nation vom Nehmer- zum Geberland. Heute hält es im Ranking der größten Volkswirtschaften immerhin auf Platz 14 und damit direkt vor Australien, den Niederlanden und der Türkei (Österreich liegt auf Platz 25). Wie im Zeitraffer durchlief Korea in drei Jahrzehnten den gleichen sozialen Wandel, für den europäische Staaten über ein Jahrhundert Zeit hatten. Während die traditionellen Familienstrukturen im Turbokapitalismus auseinanderbrachen, konnte das rudimentär entwickelte Sozialsystem diese Entwicklung nicht auffangen – ein Versäumnis, das die Regierung unter Staatspräsidentin Park Geun-hye nun nachholen will.

Die Selbstmordrate in der Altersgruppe von zehn bis 19 stieg in der vergangenen Dekade gar um 57 Prozent. Einer Untersuchung der renommierten Yonsei Universität zufolge ist die koreanische Jugend die unglücklichste unter allen OECD Ländern. Als Hauptgrund machen die Studienautoren das rigide und ultrakompetitive Bildungssystem verantwortlich. Während der Oberstufe müssen die Schüler meist bis Mitternacht lernen, auch Mobbing ist stark verbreitet.
Und mit Eintritt in die Berufswelt nimmt der Leistungsdruck keinesfalls ab: In keinem anderen entwickelten Land arbeitet die Bevölkerung länger. 2193 Stunden waren es laut OECD Angaben im Jahr 2012.

Ultrakompetitive Bildungssystem
Südkorea hat alles dem wirtschaftlichen Leistungsprinzip unterworfen – auch die Bekämpfung des Selbstmordproblems: In Seoul hat die Stadtregierung monetäre Anreize für Organisationen eingeführt, die Selbstmordpräventionsprojekte umsetzen. Nach deren Evaluation bekommen Organisationen mit der besten „Performance“ einen Bonus von zehn Prozent, andere müssen im schlimmsten Fall einen Teil der Unkosten zurückzahlen.

In Koreas Hauptstadt sind längst alle Zugänge zu Apartmentdächern zugesperrt, die U-Bahngleise mit Glastüren abgesichert und die Brücken am Han-Fluss mit aufmunternden Leuchtzeichen versehen, die aufblinken, sobald sie nachts Fußgänger registrieren: „Fühlt es sich nicht gut an, draußen auf der Brücke zu spazieren?“

Als der 18-jährige Gymnasiast Lee Richtung Mapo Brücke geht, hält ihn das freilich nicht von seinem Vorhaben ab. Noch kurz zuvor hat er sich beim Jugendnotruf gemeldet, berichtete dort vom Mobbing seiner Klassenkameraden und dass er genau so sterben möchte wie Sung Jae-gi, seit er dessen Suizid vor einer Woche im Fernsehen sah.

Doch als er die Brücke erreicht, wartet die bereits Polizei auf ihn. Fast doppelt so viele Selbstmordversuche hat sie registriert, seit sich der Männerrechtsaktivist Sung von hier aus in den Tod stürzte.

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