Petra Ramsauer mit Maria G.

Syrien: Eine Salzburgerin in den Fängen des "Islamischen Staats"

Als Teenagerin reiste die Salzburgerin Maria G. nach Syrien, um sich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ anzuschließen. Jetzt sitzt sie gemeinsam mit ihren zwei Kleinkindern unter katastrophalen Bedingungen in einem kurdischen Lager fest. Besuch bei einer Frau, die auf eine zweite Chance hofft.

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Anmerkung: Diese Geschichte erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe Nr. 30/2019 am 21. Juli dieses Jahres.

Die Wärterin reagiert schnippisch. „Noch nie etwas von einer Österreicherin gehört“, sagt die junge Frau, die im syrischen Vertriebenenlager Al-Hol die Gefangenen bewacht und sich nur mit ihrem Kampfnamen „Fada Kobani“ vorstellt. Dann tippt sie wieder gelangweilt in ihr Smartphone, das sie in eine rosarote Hülle gesteckt hat.

Erst mehrere Aufforderungen bewegen die Wärterin dazu, doch noch zwei Kolleginnen in den sogenannten „Annex“ des Lagers zu schicken. Hier werden hinter Zaun und Stacheldraht 11.500 Ausländerinnen und ihre Kinder festgehalten, die im ehemaligen „Kalifat“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gelebt haben. Insgesamt sind derzeit knapp über 70.000 Menschen in Al-Hol untergebracht, einem heillos überfüllten und chaotischen Komplex in einer entlegenen Region im Nordosten Syriens.

Salzburgerin beim IS

Hier sollen Maria G. und ihre beiden Kinder leben: eine Salzburgerin, die zum IS aufgebrochen war, um im Gottesstaat des IS zu leben, und die nun, nachdem der Traum der dschihadistischen Terroristen in sich zusammengebrochen ist, in der Region festsitzt.

Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis G. gefunden wird. Denn in Al-Hol führt niemand Buch darüber, wer sich in welchem Zelt befindet. Doch irgendwann taucht die junge Frau bei der Lagerleitung auf. Sie trägt einen staubbedeckten, abgewetzten Niqab, den sie nur kurz zur Begrüßung abnimmt. Eine Stunde wird sie mit profil sprechen; der Großteil ihres kreidebleichen Gesichts bleibt währenddessen hinter schwarzem Stoff verborgen. Nur die außergewöhnlich langen blonden Wimpern und die hellen Augen sind zu sehen.

Doch bevor Maria G. zu Wort kommt, spricht eine der beiden Frauen, die gemeinsam mit ihr in den eisig heruntergekühlten Container der Lagerleitung mit dem Teppichboden und den dunkelbraunen Kunstleder-Fauteuils gekommen ist, um mit der ausländischen Journalistin zu reden. Sie nennt sich Hadita S., hat ebenfalls im „Kalifat“ des IS gelebt und ist nach eigenen Angaben deutsche Staatsbürgerin.

„Stimmt es, dass die Deutschen uns nicht mehr wollen? Bleiben wir ewig hier?“, platzt es aus Hadita S. heraus: „Wir müssen hier so schnell wie möglich raus. Es gibt täglich Messerstechereien. Hier leben verrückte Frauen, die immer noch an den Dschihad glauben. Reden Sie bitte mit unseren Behörden!“

Maria G. sitzt lange nur still da, während die Deutsche ihr Leid klagt. Die Salzburgerin wirkt zurückgezogen und eingeschüchtert. Ihre beiden von einem IS-Grenzwächter gezeugten und in Syrien geborenen Kinder musste G. in ihrem Zelt zurücklassen.

"Das ist mein schlimmster Alptraum"

„Es tut mir alles unendlich leid“, beginnt sie schließlich mit leiser Stimme: „Fast alles. Dass ich meine Kinder geboren habe, bereue ich nicht. Meine größte Angst ist es, in diesem Lager verlassen und vergessen zu werden. Das ist mein schlimmster Alptraum. Vor allem, dass meine Buben unter diesen Bedingungen aufwachsen müssen: krank, schlecht ernährt und von den anderen IS-Familien im Camp bedroht.“

Maria G. war 17 Jahre alt, als sie den Entschluss fasste, die Geborgenheit ihres Elternhauses in Hallein zu verlassen und heimlich in das Kalifat nach Syrien zu reisen. „Es war eine sehr schwierige Zeit damals“, sagt die heute 22-Jährige auf die Frage, wo die Kette der Ereignisse begann, die sie am Ende hierher führte. Im Alter von zwölf Jahren hatte sie einen Verkehrsunfall, der sie aus der Bahn warf. Sie konnte kaum noch zur Schule, weil sie Panikattacken bekam, wenn sie im Auto mitfahren oder den Bus nehmen sollte.

Marias Mutter (die Eltern wollen ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen) sagt heute, ihre Tochter sei sozial höchst engagiert gewesen, dazu überdurchschnittlich intelligent: „Aber nach dem Unfall damals hat sie sich verändert.“

Die dritte und vierte Klasse der AHS schafft Maria noch. Da sie technisch begabt ist, versucht sie sich danach an einer HTL. Doch sie scheitert und beginnt eine Ausbildung als Ordinationshilfe.

Irgendwann lernt Maria G. einen jungen Muslim kennen und konvertiert zum Islam. „Gefreut hat uns das nicht“, sagt ihr Vater. Doch dieser Freund, ein lieber, freundlicher Mann, sei nicht schuld daran gewesen, dass „Maria in die falschen Kreise geraten ist“, wie ihre Eltern betonen. Vielmehr habe die Tochter später eine Moschee besucht, in der radikal-islamistisches Gedankengut verbreitet wurde. Über das Internet soll sie schließlich mit Rekrutierern des IS in Kontakt getreten sein.

Von diesem Prozess bemerken die Eltern nichts – bis Maria im Juni 2014 plötzlich verschwindet. Erst fünf Jahre später wird die Familie ihre Tochter wieder zu Gesicht bekommen.

Fürchterlicher Irrtum

Fünf Jahre, die wie eine schwarze Box wirken, in die niemand hineinschauen kann. Maria G. spricht kaum über die Dinge, die ihr im „Kalifat“ widerfahren sind. Sie habe im Großraum Aleppo gelebt, die vergangenen Jahre sei sie vor allem auf der Flucht vor dem Krieg und der ausufernden Gewalt gewesen. „Die Kinder zu bekommen war schön“, sagt sie. Alles sonst sei ein fürchterlicher Irrtum gewesen. Sie bereue seit Jahren, nach Syrien ausgewandert zu sein. Vor zwei Jahren habe sie zum ersten Mal versucht zu entkommen. Ihr Plan ging schief. Als das Kalifat nach und nach kollabierte, sei sie gegen ihren Willen im Tross der IS-Kämpfer und ihrer Frauen geblieben, bis dieser die letzte Bastion der Terrormiliz erreicht habe: das syrische Bagouz.

Die Stadt wurde von der Anti-IS-Koalition eingekesselt, die Lebensmittelvorräte waren bald aufgebraucht. „Wir haben monatelang von Hühnerfutter gelebt“, erzählt Maria G.: „Die Kinder waren massiv unterernährt, der Bauch des Kleinsten aufgebläht.“ Erst als der militärische Zusammenbruch des IS kurz bevorstand, habe sie fliehen können. Am 21. Februar 2019 erreichte sie mit ihren schwerstkranken Buben das 200 Kilometer entfernte Lager Al-Hol.

In Sicherheit befand sich Maria G. damit aber auch nicht. Es dauerte Monate, bis die medizinische Versorgung in diesem neuen Lager in Gang kam. 300 Kinder und Babys starben in Al-Hol in den ersten Monaten – die meisten an Entkräftung und Hunger. Auch die Kinder der Salzburgerin haben sich bis heute kaum erholt. „Sie hatten monatelang schweren Durchfall, so wie ich“, sagt Maria G.

Nun verbringt die 22-Jährige fast jeden Tag zurückgezogen in einem Zelt, das sie mit einer anderen Frau teilen muss. Für G. und ihre beiden Buben steht lediglich eine Decke zur Verfügung; erst seit ein paar Wochen werden sie von einer Hilfsorganisation mit Medikamenten versorgt. „Am schlimmsten ist, dass wir von jeder Information abgeschnitten sind. Ich habe keine Ahnung, was jetzt aus uns wird“, sagt die Salzburgerin.

Ende Mai bekam sie zumindest lange ersehnten Besuch: Ihre Eltern flogen nach Syrien. Als die beiden Österreicher im Lager Al-Hol im Nordosten des zerrütteten Landes eintrafen, sahen sie zum ersten Mal Marias Buben – einer drei, der andere eineinhalb Jahre alt. Sie waren schockiert. „Vor allem unsere Enkelkinder sind in einem sehr schlimmen Zustand“, berichtet Marias Mutter: „Der Kleine kann weder gehen noch stehen.“ Seither versuchen sie mit allen Kräften, die Tochter und die Kinder nach Österreich zurückzuholen. Doch vorerst bewegt sich wenig. Maria G. ist eine Gefangene im „Annex“ des Lagers Al-Hol.

Fauliger Gestank

Eine Hölle in der Hölle. Hinter hellblauen Gittern und Zäunen sind die ausländischen Frauen und ihre Kinder vom Rest des Camps abgetrennt. Bewaffnete Männer und Frauen achten darauf, dass niemand den Trakt ohne Begleitung verlassen kann. Wer auch nur kurz weg will, braucht eine Bewilligung der Lagerleitung. Brüchige Plastikplanen in engen Reihen bieten notdürftigen Unterschlupf. Aus den Sanitäranlagen strömt fauliger Gestank. An Lebensmitteln werden lediglich Reis, Zucker, Öl und Brot sowie Milch verteilt.

Die Ausgabe der Essensrationen findet unter sengender Hitze statt, Hektik kommt auf. In dem Chaos bleibt das Tor zum „Annex“ für kurze Zeit unbewacht, profil wagt sich hinüber. „Kuffar (arabisch für „Ungläubige“), geh sofort hier raus, ich will dich hier nicht! Und nimm sofort die Kamera weg!“, brüllt eine Frau auf Französisch. Ein paar der Frauen rotten sich zu einer Gruppe zusammen, während andere weiter nur lethargisch auf den Boden starren.

Die Atmosphäre in Al-Hol ist angespannt, die kurdischen Milizen sind mit der Leitung des Lagers heillos überfordert: 650.000 Euro kostet die Versorgung aller ehemaligen IS-Familien pro Tag. Neben Al-Hol gibt es zwei weitere Camps im kurdisch kontrollierten Teil Syriens, in denen ausländische Frauen und ihre Kinder untergebracht sind. Außerdem sollen sich 2000 männliche IS-Kämpfer in kurdischen Gefängnissen befinden.

„Je länger die Frauen hier sind, desto mehr wächst der Zorn von einigen“, sagt der syrische Journalist Mahmoud Sheikh Ibrahim, der das Lager von Al-Hol seit März schon oft besucht hat. Mitte Juni versuchten zwei IS-Frauen, kurdische Polizistinnen zu erstechen, die sie auf den kleinen Marktplatz des Camps begleiten sollten. Wenige Tage später ging eine andere Frau auf einen Wächter los und rammte ihm ein Messer in den Rücken. „Es hat sich eine Art Mini-Kalifat samt einer Religionspolizei gebildet“, sagt Ibrahim: „Es gibt Frauen, die nach wie vor an die Ideologie glauben – und die andere, die sich längst abwenden wollen, tyrannisieren.“ Es sei ein fataler Irrtum, das Problem der IS-Frauen und ihrer Kinder lösen zu wollen, indem sie in der Wüste Syriens in einem entlegenen Camp festgehalten würden.

Vor einigen Wochen soll es im „Annex“ von Al-Hol sogar zu einem Mord gekommen sein. Eine Großmutter schlug ihre Enkelin angeblich so heftig, dass diese an den Verletzungen starb. Der nichtige Anlass: Die 14-Jährige trug kein Kopftuch.

Ob das stimmt, ist schwer zu überprüfen. Andere Vorfälle sind jedoch dokumentiert: So hissten einige Buben im Volksschulalter wenige Tage nach dem profil-Besuch im Camp eine selbst gebastelte IS-Flagge – angefeuert von ihren Müttern. Der Vorfall wurde als Video in den sozialen Netzwerken verbreitet, verbunden mit dem Aufruf, weiter an das Kalifat zu glauben.

"Weder Kindergärten noch Schulen"

„Meine Kinder und ich müssen hier so schnell wie möglich heraus“, sagt Maria G.: „Es gibt im Lager weder Kindergärten noch Schulen und nicht einmal Platz zum Spielen. Die älteren Buben bauen Spielzeugwaffen aus Müll. Viele werden von ihren Müttern, die im Kopf den ‚Islamischen Staat‘ und seine Ideologie noch nicht aufgegeben haben, richtiggehend darauf gedrillt, Terroristen zu werden.“

Maria G. ist nicht die Einzige, die die Zustände in Al-Hol für inakzeptabel hält. „Schlicht apokalyptisch“ nannte Fabrizio Carboni, der beim Internationalen Roten Kreuz die Aktivitäten im Nahen Osten leitet, die Lage Anfang Juli vor Reportern in Genf. Ursprünglich sei das Lager für höchstens 35.000 Menschen angelegt worden – also rund die Hälfte der derzeit in Al-Hol untergebrachten Vertriebenen und Flüchtigen.

Derzeit breiten sich Durchfallerkrankungen aus, die bereits mehr als die Hälfte der Todesfälle verursachen. Dazu kommen Tuberkulose, Atemwegsinfekte und nach wie vor grassierende Unterernährung. Seit Ende Mai betreibt das Rote Kreuz ein Feldspital, in dem bislang 2000 Patienten betreut wurden, und kümmert sich um die Wasseraufbereitung. Weitere Hilfsorganisation beginnen sukzessive, die humanitäre Krise im Camp zu entschärfen. Es ist ein Kampf an allen Fronten: Im Sommer steigen die Temperaturen auf 45 Grad Celsius. Glutheiße Böen treiben bleichen, feinen Sand durch die provisorisch errichtete und heillos überbevölkerte Zeltstadt. In diesem Inferno werden täglich bis zu zehn Kinder geboren. Ab August könnte es in Al-Hol noch heißer werden: ein fataler Nährboden für Infektionen. Maria G. ist nicht die einzige Österreicherin, die in dieser Situation gefangen ist. Eine weitere österreichische Staatsbürgerin lebt mit ihren insgesamt drei Kindern in einem der Lager Nordsyriens. Zwei Waisen einer angeblich verstorbenen Österreicherin sollen sich gemeinsam mit 200 anderen, deren Eltern tot oder verschwunden sind, in einem speziellen Trakt des Al-Hol-Lagers befinden. Dazu kommen rund 30 Männer, die von Österreich aus ins Kalifat gekommen sind und in Gefängnissen in Nordsyrien einsitzen.

All das sind nur Schätzungen, denn die Datenlage ist lückenhaft – das illustriert nicht zuletzt das Chaos in Al-Hol. Mit anderen Worten: Die Kurden können selbst nicht genau sagen, wen sie wo eingesperrt haben.

Die Rolle des österreichischen Staates

Am Ende der Geschichte von Maria G. bleibt die Frage, wie der österreichische Staat mit dieser Situation umgeht. Versucht er seine Bürger aus der Hölle zu befreien – wenn auch nur, um sie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor Gericht zu stellen? Was ist mit den Kindern? Welche Schuld tragen sie an den Taten ihrer Väter und Mütter? Und verdienen die Eltern von Maria G. als österreichische Staatsbürger nicht Hilfe, um ihre eigenen Enkelkinder aus dieser katastrophalen Lage zu befreien?

„Für uns ist derzeit vor allem die humanitäre und medizinische Versorgung der Kinder ein wichtiges Anliegen“, so ein Sprecher des österreichischen Außenministeriums in einem knappen Statement gegenüber profil. Über die Zukunft der erwachsenen Österreicherinnen und Österreicher, die sich dem IS angeschlossen haben, schweigt er. Zuletzt hat die von den vielen IS-Veteranen und ihren Kindern überforderte kurdische Autonomieregierung angeboten, ein internationales Tribunal in Nordsyrien einzurichten. Dort sollen die internationalen IS-Mitglieder ihr Gerichtsverfahren erhalten. Dass diese europäischen Standards genügen könnten, ist angesichts der chaotischen und inakzeptablen Zustände in den Gefangenenlagern mehr als fraglich.

Für Maria G. heißt das: Zurück ins Zelt. Dort wartet sie, dass sich der österreichische Staat, die internationale Gemeinschaft und die Kurden einigen. Bis dahin muss die 22-Jährige hoffen, dass sie genug zu essen bekommt, nicht erkrankt und niemand beschließt, ihr einfach ein Messer in den Rücken zu rammen. Es ist der Preis, den die Frau für ihre Entscheidung vor fünf Jahren zahlt – und ihre Kinder mit ihr.

„Ich vermisse meine Eltern so unfassbar“, sagt Maria G.: „Ich hoffe sehr, nochmals von vorn beginnen zu können.“

Über diese Geschichte

Im Lager Al-Hol zu recherchieren, ist eine schwierige Aufgabe. In den vergangenen Monaten war das Camp wegen der angespannten Sicherheitslage für alle internationalen Medien gesperrt. Um Zugang zu bekommen, musste profil-Mitarbeiterin Petra Ramsauer mehrere Bewilligungen einholen. Schließlich konnte sie rund eine Stunde mit Maria G. sprechen – im Beisein einer kurdischen Aufseherin. Die Salzburgerin stimmte dem Interview nur unter der Bedingung zu, dass profil auch ihre Eltern in Hallein kontaktiert und die verwendeten Zitate von ihnen autorisieren lässt. Maria G. hofft weiter, nach Österreich zurückkehren und ein normales Leben führen zu können.