Kein Platz im Himmel

USA: Immer mehr ultraorthodoxe Juden kehren ihrer Gemeinschaft den Rücken

Religionen. Ultraorthodoxe Aussteiger und ihre Probleme

Drucken

Schriftgröße

Von Anna Goldenberg, New York

Eigentlich war es ein scherzhaft gemeintes Angebot, das der 30-jährige Ari Mandel auf die Online-Auktionsplattform eBay stellte: „Mein Platz in Olam Ha’ba (Himmel)“. Ausrufungspreis: 99 US-Cent, Begründung: „Ich habe zwar die religiöse Gemeinschaft verlassen. Aber ich war ein guter Student der Talmud-Hochschule und habe bis in meine frühen Zwanziger keine jüdischen Gesetze gebrochen. Alles in allem denke ich, dass mein Anteil im Himmel ein nettes Sümmchen wert ist.“

Er habe damit gerechnet, Geld für ein Mittagessen zu bekommen, nicht mehr, sagt Mandel, kurze braune Haare, rundes Gesicht, einen Pappbecher mit heißer Schokolade vor sich auf dem Tischchen in einer Starbucks-­Filiale in Midtown Manhattan. Weit gefehlt: Innerhalb von zwölf Stunden lag das höchste Gebot bereits bei 100.000 US-Dollar, umgerechnet rund 72.000 Euro.

Doch dann kam der Anruf von eBay: Das Gebot müsse entfernt werden, weil es gegen die Vorschriften sei, nicht greifbare Objekte zu versteigern. Außerdem hätten sich Gläubige gemeldet, die in ihren religiösen Gefühlen verletzt seien. Wer genau sich beschwert hat, weiß Mandel bis heute nicht. Er kann nur vermuten, welches Milieu dahintersteckt – schließlich war er bis vor wenigen Jahren selbst Teil davon.

Abschottung von der modernen Welt
Mandel wuchs als ältestes von elf Kindern in Monsey, einer Wohnsiedlung nördlich von New York City, als Angehöriger einer chassidischen Gemeinschaft auf – und damit in einer ultraorthodoxen Strömung des Judentums. Die zahlreichen chassidischen Gruppen unterscheiden sich in ihrer Religiosität; Mandels Gemeinschaft zählt zu den konservativsten. Und das bedeutet: streng religiöse Erziehung, Abschottung von der modernen Welt, auf ein Minimum reduzierte säkulare Bildung. Während die Burschen die heiligen Schriften studieren müssen, werden die Mädchen für ihre Rolle als Mutter trainiert. Es gibt Essens-, Kleidungs- und Verhaltensvorschriften, Ehen werden arrangiert, Sexualität wird totgeschwiegen.

Mandel sagt dennoch, er habe eine glückliche Kindheit gehabt und den religiösen Lebensstil als erfüllend empfunden. Im Alter von 18 Jahren heiratete er eine ihm zuvor kaum bekannte Frau, bald darauf bekam das Paar einen Sohn. So hätte das Leben weitergehen können. Doch irgendwann wagte sich Mandel, der schon als Kind stets neugierig gewesen war, auf verbotenes Terrain: in die öffentliche Bibliothek. Die Bücher, die er dort las – Dan Browns Thriller „Sakrileg“ war eines der ersten –, verstörten ihn, da sie gar nicht mit der religiösen Weltsicht übereinstimmten, mit der er aufgewachsen war: „Die Sintflut oder Adam und Eva, das waren Fakten im Leben, die ich niemals zu hinterfragen geträumt hätte“, sagt er heute. Er begann, wie er sagt, den „Tunnelblick“ der Ultraorthodoxen zu verlieren, an seinem Glauben zu zweifeln – und verlor ihn schließlich.

Doch für einen atheistischen Chassid hatte die Gemeinschaft keinen Platz vorgesehen. Also zog Mandel nach Seattle und meldete sich zur ­Armee, wo er den regulären Schul­abschluss nachholte. Heute ist er geschieden, studiert Marketing an der New York University, arbeitet Teilzeit im gleichen Bereich und sieht seine Familie gelegentlich: „Wir spielen ‚Don’t Ask, Don’t Tell‘“, antwortet er im Militärjargon auf die Frage, wie ihn die Gläubigen als Abtrünnigen seither behandeln.

Die Zahl der Juden, die wie Ari Mandel der ultraorthodoxen Gemeinschaft den Rücken kehren, ist im vergangenen Jahrzehnt gestiegen – vor allem in New York und Umgebung, wo die größte streng religiöse jüdische Gemeinde außerhalb Israels zu Hause ist. Im November des Vorjahres feierte „Footsteps“, die einzige Organisation in den USA, die sich um diese religiösen Aussteiger kümmert, ihr zehnjähriges Jubiläum. Seit Anfang des Jahres gibt es zudem zwei Organisationen, GesherEU und Mavar, die sich von Großbritannien aus um Abtrünnige in Europa kümmern wollen. Derzeit sorgen zwei Buchneuerscheinungen für gehörigen Medienrummel: Beides sind Memoiren junger Frauen, die durch ihren Ausstieg traumatische Erfahrungen durchmachten (siehe Kasten am Ende), und ihre Geschichten werfen grundsätzliche Fragen auf: über Religion und die Rolle des Internets, über das amerikanische Wertesystem und letztlich auch die Folgen des Holocaust.

Schläfenlocken und Perücken
Borough Park, Crown Heights und das südliche Williamsburg sind Teile von Brooklyn, in die sich selten Touristen verirren. Stattdessen sieht man Männer mit Schläfenlocken, schwarzen Samthüten und Anzügen, Frauen in Perücken, langen Röcken und dicken Strümpfen, unterwegs mit sechs, sieben, acht Kindern. Auf Geschäftsportalen prangen hebräische Aufschriften. Hier sowie in einigen Siedlungen nördlich der Stadt lebt eine rasant wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung: 336.000 waren es 2011 in New York. Demografen haben berechnet, dass sich die chassidische Bevölkerung aufgrund der enormen Fruchtbarkeitsraten – auf jede erwachsene Frau kommen im Schnitt 5,8 Kinder – alle 20 Jahre verdoppelt.
In New York gehören die meisten ultraorthodoxen Juden einer der vielen chassidischen Sekten an. Chassidismus entwickelte sich im 18. Jahrhundert in Osteuropa und galt als lebensbejahende Richtung des Judentums, in der Mystik und Spiritualität eine große Rolle spielten. Es bildeten sich unterschiedliche Gruppierungen, benannt nach ihren Ursprungsorten, die einem Rabbiner folgten, dem „Rebbe“. Der Holocaust löschte sie beinahe vollständig aus.

Selbst im „melting pot“ der USA blieben die wenigen Überlebenden weitgehend unter sich, um ihre traditionelle Lebensart zu bewahren. „In Europa waren sie weniger extrem “, sagt Hella Winston, Soziologin und Journalistin, die 2005 das erste Buch über „chassidische Rebellen“ in New York geschrieben hat: „Doch der Holocaust hat ihre Haltung verändert.“
Der Völkermord an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus wurde von einigen Gruppierungen als Verpflichtung gegenüber den Ermordeten gesehen, die religiösen Vorschriften noch strenger zu befolgen als bisher – wie etwa die Sekte der Satmar, denen Mandels Familie nahestand. Andere, unter anderem die in Wien präsente Chabad-Bewegung, sind offener. In den USA gab es – verglichen mit Europa vor dem Krieg – kaum Diskriminierung, und dennoch schotteten sich viele chassidischen Sekten zusehends ab, was Winston als „traurige Ironie“ bezeichnet: Genau jene Toleranz, die den Chassidim in Amerika den Neubeginn ermöglichte, begünstigte auch ihre Selbstisolation. Religiöse Institutionen, darunter auch die Schulen, werden kaum von staatlichen Instanzen kontrolliert; zudem gibt es Steuernachlässe und Unterstützung. Viele Chassidim leben in Armut und empfangen Sozialhilfe.

Ari Mandel erzählt, wie ihm als Kind eingetrichtert wurde, dass die säkulare Welt Juden hasse, und Winston beschreibt in ihrem Buch, wie die Angst vor Verfolgung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Beide erklären, diese Angst trage dazu bei, dass die Gemeinschaft zusammenhält, und mache „Rebellen“ und Aussteigern das Leben schwer.
Über 800 Menschen wandten sich in den vergangenen zehn Jahren an die Organisation „Footsteps“ – Tendenz steigend: 2009 hatte die Organisation 35 Aufnahmen; 2012 waren es 95. Davon waren mehr als die Hälfte unverheiratet. Im Schnitt kamen doppelt so viele Männer wie Frauen. Die meisten suchen Kontakt zu Gleichgesinnten, erzählt Direktorin Lani Santo: „Sie stellen viele Fragen, auf die sie keine Antworten finden können.“ Und dann beginne der Glaube zu bröckeln.

Schwieriger Ablösungsprozess
Was oft folgt, ist ein schwieriger Ablösungsprozess. Die meisten chassidischen Familien sprechen vorwiegend Jiddisch, eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Sprache, die slawische und hebräische Einflüsse hat und früher unter Juden in Europa verbreitet war – weshalb sich viele Aussteiger mit Englisch schwertun. In einem kleinen Computerraum werden deshalb regelmäßig Workshops abgehalten. „Footsteps“ vergibt ­darüber hinaus Stipendien und hilft Klienten, staatlich anerkannte Schulabschlüsse nachzuholen.

Immer häufiger muss die Organisation auch Unterstützung in Sorgerechtsstreiten leisten, erzählt Santo: weil die ultraorthodoxen Gemeinschaften weder Kosten noch Mühen scheuen, um zu verhindern, dass Kinder einem abtrünnig gewordenen Elternteil zugesprochen werden. Shuleem Deen, Vorstandsmitglied von „Footsteps“, war mit genau dieser Situation konfrontiert. Der heute 39-Jährige ­hatte den Glauben an seine Religion verloren und daraufhin 2007 seine chassidische Frau nach 15 Jahren Ehe verlassen. Auf die Trennung folgte ein Kampf um das Sorgerecht, der ihn „finanziell und emotional auslaugte“. Heute hat er keinen Kontakt mehr mit seinen fünf Kindern.

Bereits 2003 hatte Deen seine Glaubenszweifel in einem anonymen Blog mit dem Titel „Hasidic Rebel“ publik gemacht. 2010 gründete er das dazugehörige Online-Magazin „Unpious“. Inzwischen hat sich eine ganze Gemeinschaft von aufmüpfigen chassidischen Bloggern gebildet. „In den vergangenen zehn Jahren sind die Dinge regelrecht explodiert“, sagt Deen. Einige ultraorthodoxe Gruppen warnen seither vor den Gefahren des World Wide Web und versuchen, den Zugang dazu einzuschränken. Im Juni 2012 versammelten sich 40.000 Ultraorthodoxe in einem Stadion, um gegen das Internet zu demonstrieren.

Doch bei aller Kritik wollen weder Deen noch Santo und Mandel den ultraorthodoxen Lebensstil per se verurteilen. Viele ihrer Klienten entschieden sich nach einem ersten Gespräch bei „Footsteps“, in ihre Gemeinschaft zurückzukehren, erzählt Santo. „Die meisten Menschen führen das Leben, das sie wollen,“ berichtet auch Deen. Aber es gebe nun einmal einige wenige, die in der Gemeinschaft nicht glücklich seien: „Und jenen, die sie verlassen wollen, müssen wir helfen.“

Infobox
Rebellenliteratur
Mit der Zahl der Aussteiger wächst auch die Literatur von ihnen und über sie. Zu den Klassikern zählt „Die Romanleserin“ von Pearl Abraham. Das auch in Deutsch erhältliche Jugendbuch basiert auf den Erfahrungen der unter Satmar-Chassidim in Williamsburg aufgewachsenen Autorin.
Zu den Satmar, die als eine der fundamentalistischsten Gruppierungen gelten, gehörte auch Deborah Feldman, deren Biografie „Unorthodox“ bereits 2012 ein Bestseller in den USA war. Sie beschreibt darin ihre Kindheit mit einem psychisch kranken Vater sowie ihre unglückliche arrangierte Ehe und geht detailliert auf die schmerzhaften Folgen der fehlenden Sexualerziehung ein. Im vergangenen März erschien Feldmans zweites Buch „Exodus“, das ihr Leben nach dem Ausstieg schildert.
Ebenfalls in diesem Frühjahr veröffentlichte Leah Vincent ihre Biografie „Cut Me Loose“. Die junge Frau war von ihrer ultraorthodoxen Familie verstoßen worden, weil sie verbotenerweise Briefe an einen Mann geschrieben hatte – und beschreibt in dem Buch ihre Einsamkeit und die verzweifelte Suche nach Gemeinschaft.
Neben Lob für ihren Mut ernteten die Autorinnen auch Kritik, dass Ultraorthodoxie allein wohl kaum für ihre zerrüttete Familiensituation verantwortlich sei.