Interview

Dirk Stermann: „Dann ist Deutschland wirklich verloren“

Es ist nicht so, dass Dirk Stermann das alte Helmut-Kohl-Deutschland besonders vermisst. Aber das?

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Leiden Sie als Exildeutscher unter der deutschen Misere?
Stermann
Ich bin nicht mehr so oft in Deutschland, aber dieses Grundgefühl, dass das Land nicht mehr so gut funktioniert wie das Land, aus dem ich einst kam, ist doch virulent.
Das war Mitte der 1980er-Jahre, Deutschland war Meister aller Klassen: Wirtschaft, Verwaltung, Ingenieurskunst, Fußball.
Stermann
Ich bin 1987 nach Wien gekommen, aus diesem Helmut-Kohl-Deutschland, das stets sehr unsympathisch rüberkam, weil es immer den Hauch des Perfektionismus verströmte. Ich weiß nicht, ob es an meinem Abschied lag oder nicht, aber dieses Bild lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Ich habe das Gefühl, dass Deutschland durch die Wiedervereinigung verostdeutscht ist.

„Ich habe das Gefühl, dass Deutschland durch die Wiedervereinigung verostdeutscht ist.“
 

Was man auch sympathisch finden könnte. Aber im Alltag ist die Deutsche Bahn halt wirklich eine Qual.
Stermann
Es ist offenbar schwieriger, ein so großes Land zu kontrollieren als ein kleineres Land. Es ist mir trotzdem schleierhaft, warum das so passiert ist. Früher war das Bild des Deutschen im Ausland: gepflegter Audi, auf der Hutablage Klopapierrolle mit Häkelmütze, ADAC-Reiseatlas. Das war die heile deutsche Welt. Die ist weg. Es gab eine unbegreifliche Nivellierung nach unten.
Ist damit auch ein psychologischer Knacks verbunden?
Stermann
Ich denke schon. Ich war in Berlin, kurz bevor die im ersten Versuch verpfuschte Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholt werden musste. Alle Taxifahrer haben sich darüber lustig gemacht, waren aber gleichzeitig auch verzweifelt. In Berlin ist vieles einfach sehr anstrengend, weil es so konfus ist.
Müssen sich die Deutschen mit der Imperfektion arrangieren?
Stermann
Das sollten sie, aber ich weiß nicht, ob sie dafür flexibel genug sind. Weil sie psychologisch aus einer anderen Ecke kommen. Sie müssen anerkennen, dass sie so schlampert sind wie alle anderen auch und nicht mehr runterblicken können auf die schlamperten anderen Länder. Ich war vor Kurzem in Stuttgart, das für mich immer das Idealbild des unsympathischen Deutschland war: Alles funktioniert, und jeder Bürger hat mindestens ein technisches Patent angemeldet. Wenn man jetzt auf den Stuttgarter Bahnhof kommt, funktioniert dort gar nichts. Es ist furchtbar. Man weiß noch nicht einmal, wie man den Bahnhof erreichen soll.
Man muss dafür mehrere Schutthalden überwinden.
Stermann
Und endlos lange Gänge, wo du nicht mehr weißt: Bin ich noch auf dem Gelände des Bahnhofs oder längst in einem anderen Stadtteil? Die Grundvoraussetzung für einen Bahnhof ist meiner Ansicht nach, dass man hineinkommt. Also wenn nicht einmal die Baden-Württemberger es mehr hinbekommen, ist Deutschland wirklich verloren.
Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.