Wer wird uns morgen pflegen?
Airec ist ein Pfleger wie aus dem Bilderbuch. Kräftig genug, um wohlgenährte Patient:innen umzubetten. Behutsam genug, um bei der Körperhygiene zu helfen. Einer, der sich ständig weiterbildet und ungefragt alle Arbeitsflächen steril hält. Und nicht einmal nach auslaugenden 24-Stunden-Diensten freie Tage oder Überstundenzuschläge einfordert. Der Nachteil: Airec existiert einstweilen nur als Prototyp. Der von der Waseda-Universität in Shinjuku (Japan) entwickelte KI-gesteuerte Pflegeroboter soll laut seiner Projekt-Website frühestens 2050 den Dienst antreten.
Das wird für die Lösung eines unserer dringendsten Probleme zu spät sein. Will Österreich den aktuellen Versorgungsstand halten, muss es bis 2030 rund 51.100 Pflege- und Betreuungspersonen nach- oder neubesetzen, bis 2040 und 2050 sogar 119.900 bzw. 196.400, rechnet die Pflegepersonalbedarfsprognose der Gesundheit Österreich GmbH vom März 2023 vor. Doch es fehlt nicht nur an Pflegepersonal, sondern auch an medizinischen Fachkräften. Zwar ist die Zahl heimischer Ärzt:innen relativ hoch – mit über 47.000 liegen wir auf die Bevölkerung umgelegt im europäischen Spitzenfeld. Trotzdem waren 2024 bundesweit fast 300 Kassenstellen unbesetzt, davon 182 Allgemeinmediziner:innen und 110 Fachärzt:innen.
Kündigungsgrund Dauerchaos.
„Die Covid-Krise war ein Brandbeschleuniger für die Personalkrise im Gesundheitssystem“, sagt der oberösterreichische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Christoph Zulehner. „Da haben viele gesagt: In der Notsituation lasse ich meine Kollegen nicht in Stich, aber danach können mich alle gern haben.“ Weil die schlechte Bezahlung, die vielen Überstunden, die physisch und emotional fordernde Arbeit auf Dauer unerträglich sind? Nein, sagt Zulehner (aktuelles Buch: „Personalbedarf und Personaleinsatz in Gesundheits- und Pflegeunternehmen): „Schon Berufsanfänger wissen, auf welche unvermeidbaren Rahmenbedingungen sie sich in der Gesundheitsbranche einlassen. Etwa viele Wochenenddienste oder die fehlende Kompatibilität mit der Freizeit des Freundeskreises. Doch was auf Dauer zermürbt, sind vermeidbare Rahmenbedingungen: unverlässliche Dienstzeiten, oder dass man im Nachtdienst alleine für 50 Bewohner:innen verantwortlich ist, wenn Kolleg:innen ausfallen.“ Das Pro-blem: All diese „vermeidbaren Rahmen-bedingungen“, die zum Personalschwund führen, sind selbst dem Personalmangel geschuldet. Ein Teufelskreis?
„Wir müssen die Strukturen ändern, ohne die Betreuungsangebote zu verschlechtern. Das Motto der Zukunft ist: ,Qualität vor Nähe‘.“
Christoph Zulehner, Autor, Pflege- und Sozialwissenschaftler
Finanzspritze als Not-Therapie.
Die diesjährige Aufstockung des Pflegefonds auf 1,1 Milliarden Euro soll den Pflegeberuf deshalb attraktiver machen: „Mit diesen finanziellen Mitteln können die Bundesländer unter anderem einen Ausbildungsbeitrag für Personen in Pflegeausbildung (in Höhe von mindestens 600 Euro monatlich) sowie Entgelterhöhungen für Pflegepersonal finanzieren“, heißt es aus dem Sozialministerium. Zusätzlich gibt es seit 2023 das Pflegestipendium. Arbeitssuchende und karenzierte Personen, die eine Ausbildung in einem Pflegeberuf beginnen – etwa als Pflegeassistenz, Pflegefachassistenz oder in der Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflege sowie in Sozialbetreuungsberufen mit den Schwerpunkten Alten-, Familien- oder Behindertenarbeit – erhalten nun eine Existenzsicherung von mindestens 1.607 Euro pro Monat.
Von diesem Angebot ließen sich 2024 zwar immerhin 18.600 Menschen zu einem neuen Karriereweg motivieren. Diplomierte und nicht diplomierte Krankenpfleger:innen lagen laut AMS-Fachkräftebarometer im vierten Quartal 2024 aber dennoch auf Platz zwei der Engpassberufe nach offenen Stellen.
„Darum müssen wir Strukturen ändern, ohne Betreuungsangebote zu verschlechtern“, sagt Zulehner. Die wichtigste Maßnahme, um Kosten und Personal zu sparen, sieht er in der Reduktion von Krankenhausstandorten: „Dänemark hat sechs Millionen Einwohner:innen und 26 Krankenhäuser, Österreich neun Millionen Einwohner:innen und inklusive der privaten Krankenanstalten mehr als 250 Spitäler. Sie alle müssen rund um die Uhr besetzt sein, auch wenn sich die Kernarbeitszeit in vielen Kliniken auf 7 bis 15 Uhr konzentriert.“ Nach dem Motto „Qualität vor Nähe“ müssten die verbleibenden Spitäler von Aufgaben befreit werden, die im niedergelassenen Bereich ambulant oder mobil zu erledigen wären. Bei der Entlastung der kosten- und betreuungsintensiven Spitalsinfrastruktur könnten etwa Community Nurses helfen. „Dazu müsste man ihnen aber auch mehr Kompetenzen zubilligen – etwa für das Ausstellen von Rezepten.“
Unpopuläre Maßnahmen.
Fachhochschulen wie die FH Joanneum, die FH Campus Wien oder die FH Gesundheitsberufe OÖ bereiten darauf mit einem ANP (Advanced Nursing Practice)-Masterstudium vor. Besonders gefragt ist die professionelle Spezialisierung auf ein abgegrenztes Fachgebiet, etwa das Wundmanagement. Das „Aufgeben der wechselseitigen Standesdünkel“ zwischen Ärzt:innen, diplomierten und nicht diplomierten Pfleger:innen ist für Zulehner eine weitere Maßnahme, die den Gesundheitsarbeitsmarkt entlasten könnte. „Die Akademisierung der Pflege ist ein Segen, aber wir brauchen einen anderen Schlüssel: Ein 70-zu-30-Verhältnis von Pflegefachassistenz zu Pflegeassistenz galt bisher als Schreckgespenst. Das wird in Zukunft nicht mehr haltbar sein, stattdessen müssen wir es auf 30 zu 70 drehen.“
Um Ressourcen zu schonen, sollten für die Aufgabenverteilung aber nicht nur die Hierarchien durchlässiger werden. Viele zeitraubende Aufgaben könnten auch Algorithmen oder Künstliche Intelligenz übernehmen. „Diagnostik, Auswertung von Laborbefunden, Dokumentation“, zählt Zulehner auf. „Was das Potenzial angeht, sind wir noch weit vom Ende der Fahnenstange entfernt.“
„Die Gesundheitsversorgung der Zukunft funktioniert nur im interdisziplinären Kontext. IT- und Pflege- expert:innen müssen ihr jeweiliges Wissen vernetzen.“
Renate Nantschev, Österreichische Gesellschaft für Pflegeinformatik (ÖGPI)
Job im Wandel.
Weil Pflegeexpert:innen und IT-Expert:innen meist von verschiedenen Planeten stammen, helfen Menschen wie Renate Nantschev bei der digitalen Transformation der Zukunftsbranche Pflege. Die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Pflegeinformatik (ÖGPI) möchte die Kompetenzen von Gesundheits- und IT-Personal vernetzen, damit Telehealth, elektronische Dokumentationssysteme und assistierende Gesundheitstechnologien schneller zur Selbstverständlichkeit werden. „Die Gesundheitsversorgung der Zukunft funktioniert nur im interdisziplinären Kontext“, sagt sie.
Pflegeinformatiker:innen sind in diesem Zukunftsszenario die Drehscheibe jeder Gesundheitseinrichtung, entsprechende Studiengänge gibt es zum Beispiel an der Donau-Universität Krems oder an der UMIT Tirol. „In den Niederlanden hat schon jede größere Einheit einen Chief Information Nursing Officer, der digitale Anwendungen koordiniert“, sagt Renate Nantschev. Die Digitalisierung bietet aber auch die Chance, bestehende Strukturen neu zu denken – etwa durch den Switch zur personalisierten Pflege. „Personalisierte Pflege heißt, dass wir jede:n Patient:in maßgeschneidert betreuen. KI oder projektive Modelle helfen zu erkennen, welche:r Patient:in welche Bedürfnisse hat, wer eine Intervention braucht oder bei wem man mit dem Entlassungsmanagement beginnen kann. Bei der Anpassung dieser Prozesse hilft die Pflegeinformatik den Pflegepersonen, digitale Kompetenzen aufzubauen.“
Beziehungsarbeit.
Doch wäre es dann – zu Ende gedacht – nicht effektiver, Pflegepersonen mit digitaler Kompetenz gleich durch digitale Pflegepersonen zu ersetzen? Sollten uns in Zukunft im Wiener AKH, in der Kepler Universitätsklinik Linz oder daheim am Krankenbett nicht gleich Pflegeroboter wie der eingangs erwähnte Airec umsorgen? „Ja, aber nicht so, wie sich das der Laie vorstellt“, sagt Renate Nantschev. „Ein Roboter kann sehr wertvolle Hilfsdienste leisten, von der Essensausgabe bis zu Pflegeaufgaben, die Kraft erfordern. Aber Pflege ist in erster Linie Beziehungsarbeit. Und Beziehungsarbeit kann kein Roboter machen.“
Nichts für ungut, Airec.
Text: Daniela Schuster