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Vergessene Generation X: Warum Firmen auf über 40-jährige setzen sollten

Sie sind viele, sie haben Berufserfahrung und sie können mit der Technik. Von Personalabteilungen werden 40-bis 55-Jährigen dennoch nicht gezielt angesprochen. Höchste Zeit, die vergessene Generation X auf den HR-Schirm zu nehmen.

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Personalnot aller Orten. 

Und es wird nicht besser. Laut aktuellen Studien der Wirtschaftskammer (WKO) und Analysen des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) soll sich die Zahl der Stellen, die nicht besetzt werden können, von heute rund 320.000 bis zum Jahr 2040 beinahe verdoppeln. Bei allen Umwälzungen am Jobmarkt, die KI, New Work und Co mit sich bringen: "Der Fachkräftemangel stellt diese unternehmerischen und gesellschaftlichen Herausforderungen noch in den Schatten", so Erich Lehner, Managing Partner bei der Unternehmensberatung Ernst &Young (EY). Eine EY-Mittelstandsstudie zeigt, dass es bereits jetzt 87 Prozent der befragten Mittelständler schwer fällt, neue und ausreichend qualifizierte Mitarbeiter:innen zu finden.

It's the demography, stupid. Jedenfalls zum Großteil. Das Heer der Babyboomer geht in Pension. Die geburtenschwächeren Jahrgänge der Generation Z rücken nach. Um letztere ist längst ein War for young Talents entbrannt. Das Employer Branding rollt ihnen den roten Teppich aus: Arbeitszeiten und-bedingungen, Karriere-und Einkommensmöglichkeiten-alles ist verhandelbar. Das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitnehmer:innen und-geber:innen hat sich verschoben. Und die Jungen sind sich ihrer Macht am Arbeitsmarkt bewusst. In vielen Branchen konkurrieren nicht mehr sie um attraktive Stellen, vielmehr konkurrieren die attraktiven Stellen um sie.

Doch selbst wenn es den Unternehmen gelingt, die Digital Natives für sich zu gewinnen: Sie werden die Lücke, die die allmählich in den Ruhestand Ausscheidenden hinterlassen, schon allein zahlenmäßig nicht füllen können. Und sie wollen es oft auch gar nicht-gerade wenn es um die frei werdenden Führungspositionen geht. Bereits die Millennials, so zeigen Studien und Personaler-Erfahrungen, sind immer seltener bereit, im gleichen Ausmaß wie die Boomer Verantwortung zu übernehmen oder Überstunden zu machen. Und die Unter-25-Jährigen sagen erst Recht und zu Recht: "Burnout? Nein, danke".

In den zum Teil hitzig geführten Debatten rund um das angeblich mangelhafte Arbeitsethos der Jüngeren und die (Früh-)Pensionslust der Boomer blieb eine Gruppe von Arbeitnehmern bislang erstaunlich unbeachtet: jene der Anfang 40-bis Mitte 50-Jährigen. Dabei sind sie eigentlich schwer zu übersehen, stellt die Generation X doch laut Statista mit etwas über 30 Prozent die größte Kohorte unter den Erwerbstätigen. Und das wird auch noch eine Weile so bleiben. "Bis zur Pension haben sie noch ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte vor sich. Schon allein deshalb sollte man sie am HR-Schirm haben", sagt Martin Klaffke, BWL-Professor in Berlin sowie Autor und Herausgeber von "Generationen-Management. Konzepte, Instrumente, Good-Practice-Ansätze".

"Die Bedürfnisse der erfahrensten Generationen auf dem Arbeitsmarkt werden oft zugunsten der Jüngeren übersehen. Dabei sind viele hoch qualifiziert, engagiert und loyal-und es wird Zeit, dass sie von ihren Arbeitgebern die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen."

Petra von Strombeck, CEO der NEW WORK SE (Marken: XING, onlyfy und kununu)

Wer wird da übersehen?

Es lohnt sich. Denn von Experten werden die Mitglieder der Generation X als gut aus-und weitergebildet, lebens-und berufserfahren, medien-und technologieaffin, leistungsstark, pragmatisch, loyal, diszipliniert und flexibel beschrieben. "Sie stehen mitten im Arbeitsleben, wuppen die digitale Transformation und nötige Change-Prozesse",betont etwa die Dresdner Full Service Agentur "Junges Herz",die Unternehmen in Sachen Employer Branding unterstützt. Außerdem fungieren die Jahrgänge im mittleren Berufsalter laut Kaffke oftmals als Brückenbilder in altersdiversen Teams. Auch wenn er nicht an eine generelle Zunahme von Generationenkonflikten in Unternehmen glaubt, von der Coaches und Mediator:innen berichten, hält er es doch für wertvoll, dass die X-ler zwischen den ähnlich sozialisierten Boomern und den Erwartungshaltungen der Nachrückenden vermitteln, moderieren und übersetzen können-"damit solche Konflikte erst gar nicht entstehen".

 

Schlüsselkinder mit Schlüsselrolle

Kurz gesagt: Die mittleren Jahrgänge sind für Wirtschaft und HR-Management eine wichtige Stütze. Es wäre also nur logisch, nicht nur für die Jungen attraktiv zu werden, sondern auch für die Mitte attraktiv zu bleiben. Wegen der oben genannten Eigenschaften. Und weil die Schlüsselkinder der 1970erund 80-Jahre eine Schlüsselrolle einnehmen könnten, wenn es darum geht, die erwähnte größte Herausforderung der Arbeitswelt zu meistern: den Fach-und Führungskräftemangel. So wäre im Kampf gegen die Personalnot schon viel gewonnen, wenn man die Gen X so lange wie möglich in der Arbeitswelt und im Unternehmen hielte. "Ob man das schafft, entscheidet sich aber nicht morgen, sondern heute",betont Klaffke.

"Unternehmen müssen sich nicht nur fragen, wie sie für die jüngeren Generationen zu einem attraktiven Arbeitgeber werden. Sie müssen sich auch fragen, wie sie für die Älteren ein attraktiver Arbeitgeber bleiben."

Petra von Strombeck, CEO der NEW WORK SE

Individualisierte Personalarbeit 

Den größten Hebel sieht er in individualisierter Personalarbeit. Unternehmen müssten es ihren Angestellten ermöglichen, Karrierewege im Einklang mit individuellen Lebensphasen flexibel zu gestalten. "Dazu gehört etwa, Mitarbeiter:innen auch noch mit Anfang/Mitte 50 beständig weiterzubilden-Stichwort: Re-und Upskilling. Es gilt, sie durch interne Qualifizierung für KI-Themen fit zu machen. Oder auch für eine Leitungsposition." Bestenfalls darf letztere in Teilzeit oder im Top-Sharing ausgeübt werden. Der Erhaltung der Gesundheit und der gewünschten Work-Life-Balance wegen-auf dass sich der Frühpensionsexodus der Boomer bei der Gen X nicht wiederholt.

Und jene in den 40ern? Sollten für Klaffke die Möglichkeit bekommen, auf Wunsch auch eine so genannte Bogenkarriere einzuschlagen, die zunehmend ihr Abstellgleis-Image verliert. Statt nach der Eltern-oder Pflegekarenz in eine Führungsrolle zurückzukehren oder dorthin aufzusteigen, schlagen verdiente Mitarbeiter:innen dabei eine gut bezahlte Experten-oder Projektlaufbahn ein. Berufs-und Privatleben lassen sich so besser vereinbaren-insbesondere für Frauen, die man so von der Teilzeit vielleicht auch in einen Vollzeitjob bringen könnte. Das stärkere inhaltliche Arbeiten in spannenden Projekten vermag zudem die mit dem Alter an Bedeutung gewinnende Sinn-und Selbstverwirklichungsfrage zu beantworten.

Die Flexibilisierung dürfe jedoch nicht bei den Karrierewegen enden, betont der Generationen-Management-Experte. "Sie muss auch Arbeitszeit und-ort umfassen." Und nicht vergessen dürfe man auch, dass es für das Commitment der Arbeitnehmer:innen ganz entscheidend ist, dass sie sich am Arbeitsplatz wohl-und wertgeschätzt fühlen und dort ihre Kompetenzen entfalten können. "Dafür bedarf es aber einer mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur im Allgemeinen und einer HR-Strategie im Speziellen, die sich um alle gleichermaßen kümmert statt um Modethemen, die der War for Talents mit sich bringt",so Klaffke.

 

Keine HR-Herausforderung 

Noch mangelt es daran vielerorts. In einer Umfrage der HR-Spezialisten von Peoplescout sagten 79 Prozent der Befragten aus der Gen X, dass sie sich am Arbeitsplatz vergessen fühlten. Klaffke glaubt nicht, dass sie bewusst von den Personalern übersehen werden. Für ihn erklärt sich das "Nicht auf dem Schirm"-Haben in erster Linie dadurch, dass die beiden wichtigen HR-Events Recruiting und Onboarding sowie der Austritt aus dem Unternehmen bei der Gen X schon länger zurück beziehungsweise noch in ferner Zukunft liegen. "Die HR hat aktuell keine wirklichen Herausforderungen mit den Mitgliedern dieser Generation, weil sie sie sowieso schon an Bord hat und auch noch länger an Bord haben wird."

Generation X, Generation Frust?

Den Obstkorb-er möge hier als Platzhalter für Benefits aller Art dienen-bekommen in vielen Branchen und Betrieben jedenfalls weiterhin andere, in der Regel Jüngere. Und wenn die Babyboomer, die jetzt noch ihren Aufstieg blockieren, in Pension gehen, wird den Millennials oft der Vortritt gewährt. "Die Vertreter:innen der Gen X werden mit einer Rate von 20 bis 30 Prozent langsamer befördert als die Millennials",so die Peoplescout-Experten. Denn die gelten als flexibler und noch nicht so belastet durch Carearbeit, Elternpflege oder abzuzahlende Kredite.

Den X-lern bleibt hingegen die Mehrarbeit in Jobs mit viel Verantwortung, aber wenig Macht. Und das stößt vielen mittlerweile sauer auf. Laut einer Studie von Onlyfy by Xing denken viele aus der Gen X, die eigentlich aufgrund ihrer Sozialisation und Lebensphase als die loyalsten Arbeitnehmer:innen gelten, inzwischen über einen Wechsel nach. Sogar bei den über 50-Jährigen ist jede:r Fünfte zum Absprung bereit. Und mag die Studie laut Klaffke auch nicht repräsentativ sein, zeigt sie für Petra von Strombeck, CEO der Xing-Mutter NEW WORK SE, doch einen besorgniserregenden Trend auf. Denn "gerade in Zeiten, in denen in fast allen Bereichen Arbeitskräfte fehlen, ist es für Unternehmen fatal, ausgerechnet ihre erfahrensten und oft auch langjährigsten Mitarbeiter:innen zu verlieren. Sie nehmen nämlich viel Wissen und wichtige Kontakte mit."

Auf den zweiten Blick birgt die wachsende Wechselbereitschaft aber auch eine (weitere) Chance für Unternehmen, die eigene Personalnot zu mildern-indem sie die Absprungbereiten zu sich holen. Dafür müsste ihr Employer Branding die X-ler allerdings auch gezielt(er) ansprechen. Der Weg dahin wäre, sich mehr damit beschäftigen, wie die Gen X aufgrund ihrer Sozialisation tickt (siehe Kasten) und was sie aufgrund dieser Prägung von Arbeitgeber:innen erwartet.

 

Employer Branding für die Mitte 

Zwar ist die Gen X keine homogene Gruppe, wie Experte Martin Klaffke betont. Eine 40-Jährige mit Kleinkindern, die wieder Vollzeit einsteigen will, hat sicher andere Themen als ein 55-jähriger Manager, der sich aus der Führung zurückziehen und wieder inhaltlich arbeiten will. Aber es gibt doch eine gemeinsame Werteklammer. So legen die mittleren Jahrgänge bei der Arbeitgeberwahl zum Beispiel mehr als andere Generationen Wert auf Stabilität, Arbeitsplatzsicherheit, finanzielle Anreize. Gleichzeitig ist ihnen die beschriebene Flexibilisierung auf allen Ebenen wichtig. Und der Obstkorb? Auf den würden sie sogar verzichten, schenkte man ihnen nur endlich mehr (Be-)Achtung. Im Unternehmen wie Recruiting.

Doch schon die Stellenausschreibungen sind oft eher auf Millennials und die Gen Z zugeschnitten. Und wenn sich die X-ler dennoch einmal bewerben, machen viele die Erfahrung, dass ihr "fortgeschrittenes" Alter zur Hürde wird (siehe auch "Zu jung für die Pension, zu alt für den Job?").Einmal mehr setzt sich also fort, was die Generation X bereits ihr ganzes Berufsleben erfahren hat: Sie sind und bleiben die übersehenen Sandwich-Kinder, deren Potenzial noch zu selten erkannt und gefördert wird.

Die wichtigste Ressource 

Dabei, so Klaffke, sei die Mitte doch gerade das Leckerste am Sandwich. Noch sind die Personaler in der Breite nicht auf den Geschmack gekommen. Doch die Personalnot, davon ist der Experte überzeugt, wird den Appetit darauf bald anregen. "Der Fokus wird sich dahingehend ändern, Menschen als die wichtigste Ressource zu betrachten. Das ist im Kern auch das, was New Work ausmacht. Und die Gen X könnte ein Schlüssel dazu sein, dass das in den Unternehmen ankommt."

Wie tickt die Gen X?

Wer als Arbeitgeber für X-ler attraktiv sein, sie halten oder ansprechen will, muss wissen, wie sie sozialisiert wurden, sagt Professor Martin Klaffke. Was hat sie geprägt?
Vom Kalten Krieg über die Aids-Epidemie und den Tschernobyl-GAU bis hin zu steigenden Scheidungszahlen: Die Kindheit und Jugend der Gen X war durchzogen von Unsicherheit und Umbrüchen. Dank Dot-Com-Blase und der globalen Finanzkrise machten sie schon früh im (Arbeits-)Leben Bekanntschaft mit der Rezession. Ihnen wurde klar: Wohlstand und ökonomische Stabilität müssen hart erarbeitet werden. Zu Beginn ihrer Laufbahn stand Hackeln und Buckeln in hierarchischen, präsenzgetriebenen Unternehmen auf dem Programm, in denen die Konkurrenz untereinander groß war, Druck dominierte und lange Arbeitstage und Statussymbole als Synonym für Erfolg standen. Leistung lohnte sich zwar, doch das Geld kam nicht ohne Kosten. Stichwort: Burnout. Später trug die Digitalisierung weiter zum Ausbrennen der noch fast analog Aufgewachsenen bei. Und die immer rasanter werdende Innovationsgeschwindigkeit veränderte nicht nur ihren Job, sondern auch das sowieso schon aufreibende Leben zwischen Familie und Beruf.

Von Daniela Schuster