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Digitalisierung verstärkt Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt

Das ist nicht nur ungerecht. Arbeitsmarkt und Gesellschaft verzichten damit auch auf ungeheures Potenzial.

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Optional war gestern. Heute sind digitale Kompetenzen so unverzichtbar wie die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Nicht nur, um am heutigen Jobmarkt zu bestehen, sondern auch für das Meistern der Herausforderungen von morgen. So betonte der UNESCO-Bericht "Ich würde erröten, wenn ich könnte" aus dem Jahr 2019, dass es "kaum bessere Voraussetzungen für lebenslanges Lernen" gebe als "die Möglichkeiten der digitalen Technologie nutzen zu können und sich im Internet zurechtzufinden."

Der Bericht zieht jedoch eine düstere Bilanz, was digitale Kompetenzen angeht-insbesondere für Mädchen und damit auch Frauen. Sie haben bei digitalen Skills noch großen Aufholbedarf oder sind sich, wenn sie tech-fit sind, ihrer Kompetenz noch zu wenig bewusst. So führt die UNESCO in ihrem Paper auf, dass Männer viermal häufiger als Frauen über fortgeschrittene digitale Kenntnisse verfügen und zum Beispiel unter den Bewerber:innen für Jobs im KI-und Data-Science-Sektor derzeit erst ein Prozent Frauen sind, weil sie sich weniger zutrauen.

Das hat Auswirkungen-in vielen Bereichen. Denn das Manko an digitalen Skills benachteiligt Frauen nicht nur signifikant in ihren Teilhabe-Chancen und Positionierungen am Arbeitsmarkt. Dadurch, dass "Frauen durchschnittlich weniger digitale Kompetenzen aufgebaut haben, zeigt sich auch eine Chancenungleichheit in digitalen Bereichen, in der Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Leben",erklärt Sabine Köszegi, Professorin für Arbeitswissenschaft und Organisation, unter anderem an der TU Wien.

Teufelskreis der ungleichen Chancen

Wie kommt es zu dieser digitalen Ungleichheit? Sabine Köszegi beschreibt die Ursachen für die Kluft in einem Teufelskreis. Dieser hat bekanntlich keinen Anfang. Als Startpunkt könnte man aber bei der Care-Arbeit einsteigen. Frauen leisten täglich 2,6-mal mehr unbezahlte (Care-)Arbeit als Männer, bleiben öfter zu Hause, um den Nachwuchs großzuziehen, oder arbeiten nur Teilzeit. Und diese stereotypen Geschlechterrollen und Sozialisation wirken auf Kinder ein, bereits die Interessenbildung von Buben und Mädchen wird dadurch beeinflusst.

Peer Groups und Bildungssystem trainieren Mädchen zusätzlich konsequent die Neugier an IT und Technik ab. Es kommt zu einer sehr frühen Bildungsentscheidung-nur ein niedriger Prozentsatz von Mädchen sieht seinen Weg in den MINT-Fächern. Dies setzt sich in der Studienwahl und später in der Arbeitswelt fort: Laut einer Studie des European Institute for Gender Equality aus dem Jahr 2022 sind in der EU nur 17 Prozent der Jobs in der Informations-und Kommunikationstechnologie (IKT) von Frauen besetzt. Das zementiert nicht nur die Gender Pay Gap (laut Statistik Austria österreichweit 18,8 Prozent im Jahr 2021). Den jungen Frauen fehlen auch die weiblichen Rolemodels, die sie ermutigen, etwa in die boomende, männerdominierte Tech-Branche vorzustoßen.

Und so werden unsere Technologien heute fast ausschließlich von einer sehr homogenen Gruppe entwickelt-den "young white males" (oder was denken Sie, wie es zu den Assistentinnen Alexa, Siri und Co kam?).Das bedeutet wieder Nachteile für Frauen, die in den Algorithmen, KI-unterstützten Chatbots und automatisierten Programmen nicht ausreichend mitgedacht werden. Noch schlimmer: Gefeierte, neue KI-Modelle werden mit sexistischen Daten gefüttert. Das führt unter anderem bereits im Recruiting dazu, dass die künstliche Intelligenz Frauen aus dem Bewerber:innenkreis aussortiert, weil die Systeme mit Lebensläufen von Männern als Idealkandidaten trainiert wurden.

Automatisch benachteiligt

Die Aussichten? Nicht ideal. Die Digitalisierung schreitet weiter voran. Und zukünftige Fachkräfte müssen quer durch alle Branchen technologisch fit sein-egal, ob es nun um neue Kommunikationsmodelle für Lehrende geht, Evaluationstools im sozialen Sektor, KI-gestützte Rechensysteme für die Baubranche oder Sprachassistenz-Programme im Medienbereich. "KI wird nur wenige Jobs komplett ersetzen",sagt Elisa Aichinger, Social Innovation Expertin und Partnerin beim Beratungsunternehmen Deloitte. "Es werden sich aber viele Jobs verändern. Bei vielen Tätigkeiten geht es künftig vor allem um die Einbindung moderner Technologien."

Diese Herausforderung stellt sich natürlich Männern wie Frauen. Für letztere werden sie aber aufgrund ihrer mangelnden digitalen Skills zur Hürde in der Arbeitswelt. Durch Automatisierung und KI wird sich die digitale Ungleichheit zudem noch zusätzlich verstärken, der Teufelskreis weiter drehen und die Gender Pay Gap sogar vergrößern. Laut einer IWF-Studie führt eine Zunahme der Automatisierung von zehn Prozent zu einem weiteren Anstieg der Lücke um 1,8 Prozent.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen sind laut Sabine Köszegi Jobs, die vorrangig von Frauen ausgeübt werden, tendenziell stärker von der Automatisierung durch KI betroffen. Der Anteil von Routinetätigkeiten, die ersetzt werden können, ist in den frauenstarken Branchen-etwa in Assistenzberufen wie der Steuerberatung-höher. "Frauen sind also mehr von Einsparung und Jobverlust betroffen."

Zum anderen profitieren Frauen nicht von der Aufwertung der Jobs durch KI-Technologien, "weil sie die Skills nicht mitbringen oder nicht in den entsprechenden Kernbereichen tätig sind",so die Expertin. Im weiblich dominierten Bildungs-,Pflege-oder Sozialsektor, in dem die menschliche Komponente eine größere Rolle spielt, kann nicht unendlich durch Digitalisierung optimiert werden.


KI braucht Köpfe

Viele Probleme also. Doch vor dem Hintergrund des wachsenden Fachkräftemangels wird ihre Lösung noch dringlicher. Denn Wirtschaft und Gesellschaft können es sich nicht (mehr) leisten, dass brachliegende Potenzial von über 50 Prozent der Bevölkerung nicht zu heben, Mädchen und Frauen weiterhin digital zurückzulassen. Der Bedarf an schlauen Köpfen ist riesig. 2025 werden in Europa 500.00 IKT-Fachkräfte fehlen.

Wie bringt man nun aber Mädchen und Frauen trotz der digitalen Ungleichheit in die entsprechenden Positionen? Wo sind die Hebel, um den Teufelskreis aufzubrechen? Die UNESCO hat in ihrem Bericht 15 Empfehlungen zur Schließung der Kluft zwischen den Geschlechtern bei den digitalen Kompetenzen aufgelistet. Sie setzen bei einer Sensibilisierung der Eltern für das Thema an und reichen von der Einbindung von IKT in die formale Bildung über die Förderung von Vorbildern und Mentoren bis hin zur Schaffung von Anreizen, Zielvorgaben und Quoten bei der Einstellung und Förderung von Frauen.

Doch welche Maßnahmen wären in Österreich jene mit der größten Hebelwirkung? profil Extra hat nachgefragt.

Hebel 1: Bildungssystem modernisieren

Sabine Köszegi, die auch Mitglied der "Initiative Digitalisierung Changengerecht" (IDC) ist, hat eine sehr eindeutige Forderung: Man müsse zuerst das Bildungssystem grundlegend ändern. Florian Tursky, Staatssekretär für Digitalisierung und Telekommunikation in der österreichischen Bundesregierung, betont, dass neue Lehrpläne bereits ab der Primarstufe digitale und medienbezogene Kompetenzen beinhalten. In der Sekundarstufe 1 soll dann der Pflichtgegenstand "Digitale Grundbildung" den 10-bis 14-Jährigen das notwendige Wissen vermitteln-und zwar geschlechterunabhängig.

Das allein jedoch reicht laut Expertin Köszegi nicht. "Anstatt an den Mädchen herumzudoktern, müssen wir Schulsysteme schaffen, in denen sie sich wohlfühlen", unterstreicht sie. "Das bedeutet, Mädchen nicht einfach in bestehende HTLs zu drängen, sondern zuerst Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Mädchen sich gerne mit MINT auseinandersetzen."

Hebel 2: Interesse fördern

Social-Innovation-Expertin Elisa Aichinger sieht neben den Bildungseinrichtungen auch und vor allem die Wirtschaft gefordert: "Unternehmen können über Schnuppertage oder andere Kooperationsangebote bereits bei der Ausbildung ansetzen und den Fokus, das Interesse und schließlich die Berufsentscheidungen mit beeinflussen. Barrieren für Mädchen können dadurch aktiv abgebaut und der Zugang zu digitalen Tools und technischen Ausbildungen gefördert werden."


Hebel 3: Glasdecke zerschlagen

Das Engagement von Unternehmen darf aber nicht bei den Jugendlichen enden. Es reicht nicht, junge Frauen in technische Berufe zu bringen, wenn sie anschließend nicht die Möglichkeit haben, Karriere zu machen und in Führungspositionen zu kommen. Elisa Aichinger fordert eine gendersensible Qualifizierungsstrategie, die alle Beschäftigten in ihrer Berufslaufbahn unterstützt.

Firmen sollten also rechtzeitig in die Weiterbildung und Förderung ihrer Mitarbeiter:innen investieren und dabei genau hinschauen, ob die Chancen fair verteilt sind und wie man die Waage ausgleichen könnte. Wer zu den Entscheidungsträger:innen gehört, darf sich angesprochen fühlen: Ermutigen wir Frauen dazu, ihre technischen Interessen weiterzuverfolgen, sprechen wir unfaires Verhalten an, besetzen wir Schlüsselfunktionen mit Personen, die das nötige Gespür und Bewusstsein für Chancengleichheit besitzen.

 

Hebel 4: Digitale Skills ausbauen

Laut Prognosen des World Economic Forums wird sich jeder zweite Job durch Digitalisierung weiter verändern. Und die Frage ist dann nicht, wer ChatGPT und Co nutzt, sondern wer es wie gut macht. Fast alle Arbeitskräfte werden gefordert sein, neben ihren professionellen Kompetenzen ihre hybriden und digitalen Skills auszubauen, um am Markt bestehen zu können. Unternehmen und Führungskräfte sollten Handlungsbedarf erkennen und dem Thema Digitalisierung mit Fokus auf Chancengerechtigkeit mehr Aufmerksamkeit schenken, am besten vorgestern.

"Wenn sich ein Unternehmen dazu entscheidet, KI einzusetzen, braucht es neben einer Strategie auch die Schulung von Beschäftigten. Und hier spielen insbesondere soziale Kompetenzen in Bereichen wie Kommunikation, Problemlösung, kreative Herangehensweise, kritisches Denken und emotionale Intelligenz eine wesentliche Rolle", so Elisa Aichinger. Weil all diese Kompetenzen traditionell eigentlich Frauen zugeordnet werden, ist es umso wichtiger, sie entsprechend zu fördern.

Hebel 5: Soziale Arbeit aufwerten

Sabine Köszegi fordert zudem eine signifikante Aufwertung von sozialer Arbeit, die vermehrt von Frauen verrichtet wird. Gewinne aus Effizienzsteigerung und Einsparungen von Branchen mit hohem Automatisierungspotenzial durch KI sollten ihrer Meinung nach zum Teil in Bereiche umverteilt werden, die nicht in diesem Ausmaß von Digitalisierung profitieren können-wie etwa die Pflege oder andere Sozialjobs. Zusätzlich braucht es eine gerechtere Aufteilung von unbezahlter Arbeit. Dabei reicht es nicht, nur mehr Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung zu stellen. Es braucht institutionelle und steuerliche Maßnahmen sowie eine stärkere Bestrafung von unfairem Verhalten.

Hebel 6: Gesellschaft neu denken

Das Allerwichtigste: Es muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, auch auf der individuellen Ebene. Am besten beginnen wir bei der Reflexion des eigenen Familienkonstrukts. Um ungerechte Strukturen zu durchbrechen, können wir auch als Einzelne Schritte setzen-wie etwa den sozialen Beruf der Mutter mehr wertzuschätzen oder mit Enkeltöchtern ein technisches Museum zu besuchen.

Gerechtigkeit nützt allen

Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn wir diese Hebel umlegen? Der UNESCO-Bericht "Ich würde erröten, wenn ich könnte" hat dazu eine Vision. Wenn Mädchen die Neugier an Technik nicht abgewöhnt wird, wenn sie zu digitalkompetenten Frauen heranwachsen, die den Teufelskreis durchbrechen, und wenn sie dann bereits in die Entwicklung neuer Technologien maßgeblich und frühzeitig mit einbezogen werden, dann profitieren davon nicht nur sie selbst oder der Arbeitsmarkt. Frauen in Technikstudien werden auch zu Frauen in Entwickler:innenteams. Und diese Frauen werden Technologien mit Anwendungen schaffen, die Nutzen für alle in der Gesellschaft haben und dabei helfen, die Kluft der digitalen Ungleichheit zu schließen.

So werden sie zu aktiven Gestalterinnen des digitalen Wandels, zum Wohle von uns allen. Dann wird auch der Name der UNESCO-Studie nur noch ein peinlich berührendes Relikt aus der Vergangenheit sein. "Ich würde erröten, wenn ich könnte" war nämlich bis 2019 die Antwort des Sprachassistenzsystems Siri, wenn es von einem User als "Schlampe" angesprochen wurde.

Von Anna Gugerell, Alexander Lisetz, Daniela Schuster