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50 Jahre profil: Dr. Peter Mitmasser, König der Leserbriefschreiber

50 Jahre profil, 50 Jahre Leserbriefe. Politische Fehden wurden ausgetragen, Fernfreundschaften geknüpft und aufgekündigt, Meinungsaustausch auf höchstem Niveau betrieben (selten auch auf niedrigerem). Von Anfang an dabei: Dr. Peter Mitmasser, Wiener Neudorf.

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Eine bunte Reihenhaussiedlung in Wiener Neudorf, Dr. Peter Mitmasser parkt ein. Er fährt einen grauen Polo, Automatikschaltung, rasant und sicher. Früher vergnügte er  sich nebenbei als Rallyefahrer, bis ihm das Hobby zu teuer wurde. Die Krücke, die der 81-Jährige nach einer Hüftoperation eigentlich verwenden sollte, verweigert er. Mitmasser trägt ein rotes Poloshirt, blaue Hose, randlose Brille, alte Rolex. Seine Stimme ist sanft, der Blick wach, die Pointen sitzen. Das Reihenhaus hat er gegen die Sommerhitze verdunkelt; die Regale im beige-braunen Wohnzimmer sind voll mit Büchern und Musik, ganz vorn „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, im obersten Regal eine Gesamtausgabe von Karl Kraus’ „Fackel“.


Der Besuch bei Peter Mitmasser hat viele Gründe – mehr als 207. So viele Leserbriefe von „Dr. Peter Mitmasser, Wiener Neudorf“ wurden seit Beginn des digitalen profil-Archivs Anfang 1994 in diesem Magazin abgedruckt; in den Jahrzehnten davor war der Autor nicht weniger aktiv gewesen. Seine Zuschriften gingen freilich in schwankender Frequenz ein: In den 2000er-Jahren wurde monatlich etwa ein Exemplar gedruckt, seit Mitte 2016 erscheinen sie etwas spärlicher.


Der jüngste datiert vom 19. Juli dieses Jahres, profil-Ausgabe 29, Thema Sparvorgaben beim Bundesheer: „Die ÖVP ruiniert die Luftstreitkräfte. Dafür haben wir uns die AUA bereits drei Mal gekauft.“ Ein Satz,mehr nicht. Mitmasser muss nicht schwafeln, er beherrscht die Kunst der Lakonie.


Auch andere Medien werden von Mitmasser, dem mit Abstand produktivsten Leserbriefschreiber des Landes, bedacht. Man findet seine Spuren in den „Salzburger Nachrichten“, in der „Presse“ und der „Wiener Zeitung“, im deutschen „Stern“, in „News“ und „Ganze Woche“, im „Kurier“, in den „NÖN“ und „Oberösterreichischen Nachrichten“, im „Falter“ und in der „Neuen Zürcher Zeitung“.„Aber das profil zieht sich durch“, sagt Mitmasser.


Ob er dieses Magazin tatsächlich schon seit 50 Jahren abonniert hat, kann Mitmasser nicht mit endgültiger Sicherheit sagen; gelesen hat er es jedenfalls von Anfang an, mal mehr, mal weniger intensiv, meistens wohlwollend. Und manchmal muss er eben etwas loswerden.


Was treibt ihn zum Leserbrief? „Immer das Thema. Ich brauche einen Aufhänger.“ Mitmasser hat keine eindeutigen Reizthemen, er ist ein Universalinteressierter. Seine Botschaften richten sich meistens an die Allgemeinheit, manchmal an die Redaktion, die ihre Haltung reflektieren möge, oft auch an die Politik, die sich besinnen solle. Früher wurden sie mit Brief und Marke verschickt, „später hat man auch einmal das Fax im Büro missbraucht, dann kam der private Laptop“.

Das Leserbriefschreiben ist für Leserbriefschreiber ein politischer Akt, ein Instrument der Demokratie. Im Leserbriefforum spricht die Gesellschaft miteinander. Es ist ein anderes Sprechen als jenes in den sozialen Medien, deren Hang zu Aggression und Unreflektiertheit Mitmasser unangenehm ist. Natürlich schreibt auch er bisweilen im Affekt,aber er bleibt dabei immer zivilisiert, äußert seine Meinung, nennt seinen vollen Namen und nimmt dadurch sehr bewusst an einem demokratischen Prozess teil. Umso ärgerlicher erscheint ihm, dass Tageszeitungen ihre Leserbriefseiten immer weiter einschränken. Das kann und will er weder verstehen noch gutheißen. Noch mehr ärgern ihn nur geringschätzige oder gar automatisierte Antworten der Redaktion. Tatsächlich eröffnen Leserbriefe dem Journalismus Perspektiven, die ihm ohne dieses Feedback fehlen würden.

Digitale Kommentare sind kein gleichwertiger Ersatz, sie tendieren zur Verzerrung. Papier ist ein interaktives Medium mit eingebauter Gemütskühlung, die auch via E-Mail funktioniert. Ein Online-Posting hat zwar eine höhere Geschwindigkeit, verliert dabei aber an Präzision. Das mag daran liegen, dass man ein Posting nicht zwangsläufig mit Namen und Adresse versieht, einen Leserbrief dagegen sehr wohl. Es ist eine Kommunikationsform, die auf Gegenseitigkeit beruht, auf Streitkultur und nicht darauf, Dampf abzulassen. Hassnachrichten häufen sich zwar auch im Postfach des profil ,bleiben aber seltene Ausnahmen. In der Regel werden Leitartikel und Kommentare beeinsprucht, die Covergestaltung hinterfragt oder, auch das kommt vor, inhaltliche Fehler korrigiert. Man bemüht sich um Konstruktivität.


Manchmal erreichen uns Hinweise über bevorstehende UFO-Invasionen. Verschwörungstheoretiker benutzen vorzugsweise das altmodische Fax. Die Redaktion weiß im Übrigen, wann mit erhöhtem Postaufkommen zu rechnen ist: Asyl- und Schulthemen sind zuverlässige Reizthemen. Mitmasser hat ein paar Unterlagen vorbereitet: eigene Werke, Fanpost an den Leserbriefschreiber, Widmungen, Fachartikel, Erinnerungsstücke – „und hier das Verzeichnis der literarischen Tätigkeit“. Mitmasser schreibt auch Lyrik, Novellen, Kurzgeschichten. Die Publikationsliste umfasst sechs Druckseiten und eine schöne Anekdote: Bei einer Publikumswahl zum beliebtesten Buch der Niederösterreicher belegte er 2009 mit seinem Roman „Glück aus dem Supermarkt“ den zweiten Platz, zwei Plätze vor Daniel Glattauers „Gut gegen Nordwind“.


Peter Mitmasser, geboren am 13. Juni 1939, Sohn einer Gemeindesekretärin und eines Chorsängers („Den Vater habe ich nie wirklich kennengelernt, er ist in Stalingrad umgekommen“), arbeitete bis zu seiner Pensionierung 1999 als Einkäufer in der chemischen Industrie, zunächst beim Gleitlager-SpezialistenMiBa in Laakirchen, später bei Solvay in Ebensee (eine gute Zeit, im Rückblick betrachtet; hier brachte er es sogar bis zum Gmundener Faschingsprinzen Schwanislaus IX.), schließlich bei Herbert Turnauers Stolllack-AG in Guntramsdorf. 1991 war er Einkäufer des Jahres, verfasste Beiträge zu Fachbüchern, etwa auch in der Branchenbibel, dem „Handbuch Beschaffung“. Der Medienkonsum war berufsbedingt hoch, das Interesse durchaus auch privat. Als die Stolllack über Umwege in einem internationalen Konzern aufging, wurden auch die Dienstreisen internationaler.


Den Kollegen aus den USA erklärte Mitmasser Österreich mit Hingabe, den heimischen Journalisten mit Beharrlichkeit. Der Leserbriefautor ist auch eine Person öffentlichen Interesses. „Als häufig gedruckter Leserbriefschreiber hat man einen beträchtlichen Bekanntheitsgrad“, berichtet Mitmasser. Immer wieder erhält er zustimmende Zuschriften von ihm unbekannten Personen. Mitmasser ist im öffentlichen Leben dieses Landes eine nicht unwesentliche Randfigur. Robert Menasse, mit dem er nach dem Gewinn eines „Kurier“-Preisausschreibens einen Abend „in einem sündteuren italienischen Restaurant, das es schon lange nicht mehr gibt“, verbringen durfte,hat ihm ein herzliches „Kollege“ gewidmet; Kardinal Christoph Schönborn ließ ihn nach einem kritischen Beitrag zum Frühstück ins erzbischöfliche Palais einladen, „wobei ich nicht viel gefrühstückt habe, weil ich reden musste“. Anneliese Rohrer hat ihm ein knappes „Nicht aufgeben!“ ins Stammbuch geschrieben, den jungen Franz Welser-Möst chauffierte Mitmasser – als seinerzeit guter Bekannter des Dirigenten Karl Österreicher und passionierter Konzertbesucher – regelmäßig vom Musikverein zum Westbahnhof.


1983, mit 44 Jahren, promovierte er mit einer Arbeit über Karl Kraus zum Doktor der Kommunikations- und Politikwissenschaft. Den Anstoß zum berufsbegleitenden Studium gab ein gewisser Bruno Aigner, langjähriger Sekretär von Altbundespräsident Heinz Fischer; das Thema der Dissertation stiftete der große Hans Weigel bei einem denkwürdigen Besuch in Maria Enzersdorf, wo Mitmasser Gemeinderat einer Bürgerliste war und Weigel mit seiner Frau Elfriede Ott lebte. Kraus sei so etwas wie sein journalistisches Urmeter: „Da steht schon sehr viel drinnen,mit dem man sich identifizieren kann.“


Was aber hält der Mann, der profil seit 50 Jahren liest, von diesem Magazin? War früher alles besser? „Das profil hat sich über die Jahrzehnte eigentlich sehr wenig gewandelt. Es hat immer eine Politik betrieben, die sich an den Gegebenheiten orientiert. Man hat die Faktend argestellt und sich eine Meinung dazu gebildet: Was wäre unter diesen konkreten Umständen die beste Lösung für ein Problem? Ob diese Lösung nun links oder rechts ist, spielte keine ausschlaggebende Rolle. Das schätze ich sehr. “Und: „Was ich euch auch hoch anrechne: dass ihr euch nicht an einem Thema festbeißt. Dass ihr, wenn es genug ist, auch wieder aufhört und ein neues Thema ins Auge fasst.Wenn es genug ist, ist es genug, und gut so.“


Und wie schätzt Mitmasser, der Allesleser und Universalinteressierte, den gegenwärtigen Zustand der Welt ein? Wird irgendwann alles wieder gut? „Ich bin Optimist. Ich glaube, wir werden es schaffen, auch die größten Krisen zu bewältigen. Es ist auf dieser Welt so viel Hirn vorhanden, es gibt so viel gute Ideen, es wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden! Und wenn es die gegenwärtigen Politiker nicht schaffen, uns aus der Krise herauszubringen, dann wählen wir uns einfach neue. Es muss gut weitergehen, verdammt
noch einmal.“


Zwischenruf aus dem ersten Stock. Wie lange das Interview denn noch dauere, möchte Mitmassers Frau wissen, sie hat noch Pläne. Keine Sorge, gleich fertig. Mitmasser parkt aus und fährt den Besucher eilig zum Bahnhof. Die Krücken lässt er in der Garderobe.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.