Alles über Sex

Alles über Sex: Warum, mit wem - und wie lange noch?

Sexualität. Warum, mit wem - und wie lange noch?

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Wer mit Volkmar Sigusch über Sex spricht, redet nicht nur über Beischlafraten, Penislängen und Hormonkaskaden. Sondern: über alles. Ein Gespräch über Sex, wie Volkmar Sigusch es versteht und führt, reicht von Frankfurt am Main bis in den südamerikanischen Urwald, von YouPorn bis zur Industriellen Revolution, von der Liebe zur Berliner Mauer bis zur enttäuschten Hoffnung der 68er-Kommunarden. Es geht um Körper, Kultur, Kapitalismus, um Gesellschaft, Politik und Freiheit. Um Frauen, Männer und alles, was dazwischen liegt.

Für den „Spiegel“ ist Sigusch „einer der international wichtigsten Sexualforscher“, die „Zeit“ attestiert seinen Arbeiten „anrührende Schönheit“, die „Süddeutsche Zeitung“ adelt ihn als „brillanten Essayisten“; der Brockhaus widmet ihm einen eigenen Eintrag. Am Institut für Sexualwissenschaft an der Uniklinik Frankfurt, das der Arzt und Adorno-Schüler 1973 gründete und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 leitete, wurde nicht nur Sexual-, sondern auch Zeitgeschichte geschrieben. Mit Sigusch lernte eine ganze Generation, was es bedeutet, Sex zu haben. Und dass in diesem Kontext wirklich nichts so eindeutig ist, wie es vielleicht scheinen mag. „Ein Begriff poppt nicht“, schreibt Sigusch in seinem neuen Buch „Sexualitäten“, und meint damit, dass es beim besten Willen keine endgültige Wahrheit geben kann, wo Triebe und Liebe im Spiel sind. Also erläutert der 73-Jährige die Grundzüge und Grenzen der Sexualwissenschaft lieber in „99 Fragmenten“. Es handelt sich um die Essenz aus 50 Jahren Forschung, um ein Lebenswerk. Es geht um alles. Und es beginnt mit einer Explosion.

profil: Vor wenigen Tagen wurde an Ihrer alten Wirkungsstätte, der Uni Frankfurt, der berühmte 116-Meter-Turm der Institute für Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften gesprengt. Kann ein gelernter Sexualwissenschafter da anders, als ein Phallussymbol in Rauch aufgehen sehen?
Volkmar Sigusch: Ich hatte ganz andere Gedanken. Ich habe in diesem Turm auch selbst unterrichtet. Darum hat es doch ein wenig mein Herz berührt, als das Gebäude gesprengt wurde. Aber der Phallus ging mir nicht durch den Kopf.

profil: Das von Ihnen gegründete Institut für Sexualwissenschaft wurde schon 2006 mit Ihrer Pensionierung aus der Uni entfernt. Hat die Sexualwissenschaft denn ohne Sie gar keine Zukunft?
Sigusch: Es ging ganz banal ums Geld. Die Kleingeister, denen es nur ums Budget ging und die selber gar nichts von wissenschaftlicher Bedeutung zustande gebracht hatten, wollten meinen Etat unter sich aufteilen. Mich haben sie dadurch eingeseift, dass sie mir vorgeschwärmt haben, ich sei der Größte und nicht durch einen Nachfolger zu ersetzen. Und das zuständige Ministerium, damals geführt von christlichen Kräften, die sich bei uns demokratisch nennen, hat sich dumm gestellt.

profil: Reine Ignoranz also?
Sigusch: Der Sexualforscher hat noch ein anderes Problem. Er steht andauernd in der Zeitung, alle Medien laufen hinter ihm her, er kann ins Fernsehen, wann er will, und das ärgert natürlich die Kollegen aus anderen Fachgebieten. Als ich angefangen habe, bin ich von älteren Professoren beschimpft worden, weil mein Hörsaal brechend voll war. Bis auf die Straße standen die Schlangen, und beim Psychiatrie-Professor saßen sechs Leute. Drei davon waren geisteskrank, drei waren seine Doktoranden. Da kommt natürlich Neid auf, und das zog sich bis zum Ende hin.

profil: Heute arbeiten Sie in privater Praxis vor allem als Paartherapeut. Stimmt denn die Wahrnehmung, dass sexuelle Funktionsstörungen in den letzten Jahren zugenommen haben? Oder handelt es sich nur um die Propaganda der Viagra-Industrie?
Sigusch: Ich kann nicht bestätigen, dass Funktionsstörungen zunehmen. Aber ich stelle fest, dass es regelmäßig Hypes um bestimmte Themen gibt, oft von Medien angestoßen. Zum Beispiel, das war gegen Ende der 1960er-Jahre: Auf einmal wollten alle Frauen einen Orgasmus haben. Da war irgendwas durch die Medien gegangen, und dann brummte bei uns natürlich das Telefon. Später traten dann die sogenannten Objektophilen auf, oder die Asexuellen, die ich zum ersten Mal vor 30, 40 Jahren als Arzt erlebt habe und die in den 1990er-Jahren zum Hype wurden. Ich bin übrigens sehr froh, dass die sich inzwischen auch organisieren und öffentlich äußern können: Ja, wir sind gesund und normal und gehen auch Beziehungen ein, haben aber keinen Sex. Das ist eine Errungenschaft „meiner“ neosexuellen Revolution.

Schon Mitte der 1990er-Jahre hatte Sigusch erstmals die These formuliert, dass nach der sexuellen Revolution der späten 1960er-Jahre noch eine weitere wesentliche Veränderung der westlichen Sexualsphäre stattgefunden habe und weiter stattfinde. Diese „neosexuelle Revolution“ sei schon in den 1980er-Jahren angebrochen, relativ unbemerkt, aber umso folgenreicher. Ihre wichtigsten Elemente: Die politische, symbolische und mythische Bedeutung, die Sex für die 68er gehabt habe, verschwinde: „Heute statten nur noch undisziplinierte Kinder, disziplinierte Sektenmitglieder und Sexsüchtige ‚die Triebe‘ mit jener Mächtigkeit aus, die die Mystiker des Heiligen Eros und des Paganen Sexus einst als eine generelle imaginierten.“ Sexualität würde pragmatischer und banaler, dafür werden aber neue Geschlechterrollen und individuelle Vorlieben selbstverständlicher. Auch weil sich Sexualität und Fortpflanzung immer weiter voneinander entfernen, verschwinde die Unterscheidung zwischen „normal“ und „pervers“, die sexuelle Individualität würde zunehmend akzeptabel – bis hin zu so ausgefallenen Neigungen wie eben der Objektophilie, der erotischen Beziehung zu unbelebten Gegenständen. Letztere wurde übrigens erstmals von der Schwedin Eija-Riitta Eklöf öffentlich gelebt, die im Juni 1979 mit Hilfe eines Animisten die Berliner Mauer heiratete und sich seither Eklöf-Berlinmuren nennt.

profil: Sie behaupten, dass Sex heute weniger wichtig sei als noch in den späten 1960er-Jahren. Schon ein flüchtiger Blick ins Internet legt einen anderen Schluss nahe.
Sigusch: Dabei ist der Befund ganz eindeutig. Das Prinzip ist einfach: Je mehr Reize einem zur Verfügung stehen, ja einen regelrecht bombardieren, desto mehr zieht man sich davor zurück. Ich vergleiche das mit meinem Bürofenster. Als junger Professor saß ich in einem hässlichen Haus und blickte durchs Fenster auf eine nackte Wand. Später saß ich in meinem Institut und sah über die ganze Stadt. Aber nach einer gewissen Zeit nimmt man diesen wunderbaren Blick gar nicht mehr wahr. Sexuell steht einem heute ja wirklich alles Mögliche zur Verfügung, aber man sagt sich: Ach, das mache ich morgen! Viele junge Leute wollen sich den Stress und Ärger, in Kneipen spätnachts nach Geschlechtspartnern zu suchen, auch gar nicht mehr antun. Die gehen lieber Bungeejumpen und haben dabei ihren Thrill. Die Erregungsmöglichkeiten und die Erregungssuche haben sich geändert.

profil: Wurde Sex denn umgekehrt früher überbewertet?
Sigusch: Während der sogenannten sexuellen Revolution um 1968 war das eindeutig der Fall. Ich selbst war damals bereits mit meinem Doktorat fertig und blickte irritiert auf diese erregten jungen Leute. Ich war damals am Hamburger Institut für Sexualforschung tätig, da kamen die Anführer der Revolte vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund zu uns, Reimut Reiche zum Beispiel, der mein erster Assistent wurde, und Günter Amendt, der das bekannte Buch „Sexfront“ veröffentlichte, oder Martin Dannecker, der Anführer der Schwulenbewegung.

profil: Haben Sie per Sexualwissenschaft Politik gemacht?
Sigusch: Wir waren Forscher, wir haben empirisch und experimentell gearbeitet, wir haben die Fakten auf den Tisch gelegt. Wir haben zum Beispiel als Erste erforscht, wie pornografische Materialien tatsächlich wirken. An hunderten Studierenden haben wir das untersucht und konnten dabei einige Schlussfolgerungen des Kinsey-Reports widerlegen. Seither sind wir berühmt in den USA. Der US-Präsident begann damals seinen „Report on Obscenity“ mit unseren Ergebnissen, nämlich: Frauen reagieren wie Männer auf pornografisches Material. Früher dachte man, Frauen reagieren darauf gar nicht.

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