Autodrom: Was wir nicht verstehen

Ich sehe Menschen an den Toilettentüren von Flugzeugen scheitern. Dennoch beherrschen sie ihr Smartphone sicher virtuoser als ich.

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Als ich meinen Physiklehrer schüchtern fragte, was denn der elektrische Strom nun eigentlich sei, wurde er richtig wütend und schasselte mich ab, als hätte ich im Unterricht nicht aufgepasst. Weil das auch teilweise stimmte, schloss ich dieses Kapitel ab. Elementare Dinge nicht zu verstehen, wurde zu einem Lebensmodell für mich. Es ist vielleicht die ehrlichste Haltung, die man dem Leben gegenüber einnehmen kann, wenn auch nicht die klügste. Verstehenszwang, so meine Ausrede, führt oft zu höheren Missverständnissen und richtet dann noch mehr an. Freilich gilt nach Marie von Ebner-Eschenbach: "Wer nichts weiß, muss alles glauben." Ich absolvierte also eine Technische Schule, weil ich mich damit auf der sicheren Seite wähnte. Ich entschied mich für Metallbearbeitung, mit Spezialisierung auf Motoren-und Kraftfahrzeugbau. Der Unterricht war Mitte der 1970er-Jahre noch geleitet von den Idealen der frühindustriellen Epoche.

Mittelalterliches Foltergerät

Betrat man die schuleigene Schmiede oder Gießerei, fand man sich in hohen, düsteren Räumlichkeiten. Massige Maschinen, anderswo längst ausgesondert und dem Schulbedarf übereignet, standen wie mittelalterliches Foltergerät an den Wänden. Man sah noch Lederband-Transmissionen. Lehrpersonen in schwarzen Mänteln mit vom ewigen Feuer geschwärzten Gesichtern, frustriert von ihrem offensichtlichen Versagen in der "Industrie", zeigten verärgertes Interesse an uns. ("Frustriert" war damals ein neues Modewort.) Niemand unterrichtete aus pädagogischer Leidenschaft hier. Die grundsätzlich männlichen Schüler trugen blaue Overalls, unter denen die Jeans-Glocken über clownesken Plastikschuhen hervorquollen. Die lässigen, also langhaarigen Typen wurden gedemütigt, indem sie Netze überstülpen mussten. Darin hingen die Haare seitwärts vom Kopf wie verunglückte Vogelnester. Allenthalben hingen Plakate mit Darstellungen skalpierter Kopfhäute, von Metallspänen durchdrungener Augäpfel, von Maschinen zerfetzter Jackenärmel.

Wackelige Maschinenobjekte

Der Fachlehrer in der Gießerei war eine massive Legende. Man erzählte, flüssiges Erz wäre ihm beim Stiefel oben hinein und unten wieder herausgeronnen. Vierschrötig, von allen gefürchtet, herrschte er in seiner Feuerkammer. Wir stampften Formsand, produzierten mehr oder weniger amorphe, schwarzporige Formen. Dass er mich mochte, erfuhr ich erst zum Schulabschluss, als er mir den Tachometer eines VW-Brezelkäfers schenkte. Als ich die Schule verließ, hatte ich gelernt, wie man einen Hammer herstellt -vom Rohling über Shapen, Feilen, Bohren bis zum Härten und Brünieren. Anfertigen eines Holzstiels inklusive. Ich konnte ausgeleierte Schulmotoren zerlegen und zusammenbauen, Zahnräder berechnen und das Fachwerk einer Brücke kalkulieren. Drübergegangen wäre ich dann lieber nicht. Von natriumgekühlten Ventilschäften und scharfen Rennmotoren mit Turboaufladung hatten wir nur unter der Schulbank gelesen. Offiziell war das verpönt. Stattdessen: Einspritzversteller bei Lastwagen-Dieselmotoren. Härtetabellen von Metall-Legierungen.

Kerzenhalter aus Kupfer

Meine Welt war rein mechanisch, jedes Problem konnte mechanisch gelöst werden. Zum Muttertag trieben wir Kerzenhalter aus Kupfer. Unser Klassenvorstand sprengte nächtens das Foyer des Postamtes mit Donarit-Patronen. Er war ein Dekonstruktivist. Insofern fühlte ich mich ihm nahe, denn er wollte Entropie herstellen, das Chaos herausfordern. Wo wir gelernt hatten, mit der Mikrometerlehre auf Tausendstelmillimeter genau zu messen, hielt er dagegen. Es kostete ihn seine Anstellung und vorübergehend die Freiheit. Meine eigenen Anstrengungen, Technik infrage zu stellen, mündeten später in Maschinenobjekten, wackelig genug, um mich auf künstlerische Beweggründe herausreden zu können. Aber das ist eine andere Geschichte.

Heute ist die Technik so kompliziert geworden, dass wir die Oberfläche, ein Smartphone oder auch nur ein "Armaturenbrett" ansehen, und nicht imstande sind zu erklären, wie das hergestellt und zusammengefügt wurde. Von wirklich komplizierten Dingen wie Hybridantrieb ganz abgesehen. Wir sind wieder im Stadium des Nichtverstehenkönnens angelangt, dem wir uns kurzzeitig entronnen glaubten, bis Erwin Ringel starb. Man ärgert sich über fehlerhafte Computer oder Navigationssysteme, muss aber eingestehen, dass es sich in den allermeisten Fällen um Bedienungsfehler handelt. (Die Sprachbefehl-Erkennung im neuen Alfa Romeo Giulia natürlich ausgenommen.) Übrigens, man lernt ja doch dazu, ob man will oder nicht. Nach Jahrzehnten intensiver Beschäftigung mit dem Automobil kam ich erst unlängst schlagartig drauf, dass sich die Marken-und Typenbezeichnung Alfa Romeo Giulia auf William Shakespeares Drama bezieht.