Instabilitätspakt

„Blau ist eine warme Farbe”: Cannes-Siegerfilm wird zum Streitfall

Kino. Die Schöpfer des Cannes-Siegerfilms liefern einander eine Schlammschlacht

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Eigentlich sollte man diesen Film gar nicht mehr in die Kinos bringen, sagt ausgerechnet jener Mann, der ihn inszeniert hat. Denn das Werk sei nun "besudelt“, meint der tunesisch-stämmige Franzose Abdellatif Kechiche, 53. Das ist umso bemerkenswerter, als diese Arbeit, "La vie d’Adèle“ ("Blau ist eine warme Farbe“), sein fünfter Film, im Mai mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde. Die Produktion markiert den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere - und seltsamerweise zugleich auch einen Tiefpunkt.

Denn sein Hauptdarstellerinnen-Duo Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos - beide wurden für ihre schauspielerischen Leistungen in Cannes ebenfalls mit Gold-Palmen geehrt - hat den Großteil seiner öffentlichen Auftritte in den vergangenen Wochen und Monaten damit zugebracht, laute Kritik an Kechiche zu formulieren: Der Film sei unter grauenhaften Arbeitsbedingungen entstanden, der Regisseur habe sich als Tyrann und Manipulator erwiesen und manche Szenen bis zu 100 Mal wiederholen lassen, die sexuell expliziten Sequenzen gar zehn Tage lang en suite gedreht. "Nie wieder“ wolle und werde sie mit Kechiche arbeiten, meinte Seydoux noch, sie habe sich auf dem Set phasenweise "wie eine Prostituierte“ gefühlt. Schließlich meldete sich auch die junge Autorin der Vorlage, Julie Maroh, zu Wort, nannte Kechiches Film "brutal“, "chirurgisch“ und kalt, nahe an der Pornografie, aber sehr fern jeder genuinen lesbischen Erfahrung.

Ehe "La vie d’Adèle“ am 23. Mai im Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes seine Weltpremiere erlebte, war die Faktenlage dünn. Drei volle Stunden sollte der Film dauern, hieß es, und eine Coming-out-Geschichte mit angeblich gewagten lesbischen Sexszenen erzählen. Ein gerade mal zwölfseitiges, unbebildertes Presseheftchen war alles, was vorab dazu zu haben war - nichts als ein routiniert geführtes Interview mit dem Regisseur und die Mitarbeiterliste fanden sich darin. Die Erwartungen hatten sich auch dieser Geheimniskrämerei wegen entsprechend hochgeschaukelt.

„Voyeuristisch”
Dann ging der 179 Minuten lange Film über die Leinwand des Palais du Festival - und spaltete augenblicklich die internationale Kritik. Während manche ein faszinierendes, gerade in seiner Überlänge besonders präzise gefertigtes Beziehungsdrama gesehen hatten, nahm etwa Manohla Dargis, Chef-Rezensentin der "New York Times“, den Film als "undiszipliniert“ und "voyeuristisch“ wahr - und ätzte, dass Kechiche sich für all die Fragen der Repräsentation des weiblichen Körpers in der Kunst, an denen sich der Feminismus seit Jahrzehnte abarbeite, entweder nicht interessiere oder schlicht nichts von diesen ahne.

Eine gewisse Anmaßung kann Kechiche tatsächlich nicht verhehlen: Ganz retro-literarisch betitelte er seinen Film, nah an Marivaux, mit "La vie d’Adèle - Chapitres 1 et 2“, obwohl seine Vorlage, eine Graphic Novel der französischen Comic-Zeichnerin Julie Maroh, ganz anders, nämlich "Blau ist eine warme Farbe“ hieß. Die deutsch- und englischsprachigen Verleiher haben diesen Bezug in der Filmtitelgebung nun wiederhergestellt, obwohl Kechiche stets betont hat, dass seine Arbeit eine "sehr freie“ Adaption dieser Graphic Novel sei.

Die nervös-instabile Fotografie der Handkamera versinnbildlicht Kechiches dringenden Versuch, hinter die mythische Frage des "femininen Prinzips“ zu kommen, das für ihn "das Prinzip des Lebens, der Hoffnung, des Geheimnisses“ darstelle. Eines Tages werde er eine Antwort darauf finden, ließ er noch vor der Premiere wissen. Als Neuentdeckung ist die 20-jährige Adèle Exarchopoulos tatsächlich zu feiern; sie verleiht der éducation sentimentale ihrer Figur glaubhafte, manchmal durchaus enervierende Züge. Aber der Film ist auch reich an Klischees; die Nahaufnahme des Kunstmilieus, in dem seine Heldinnen - eine Künstlerin und ihre Muse - leben, ist geradezu lachhaft oberflächlich und uninformiert geraten.

Der Realismus, auf den Kechiche mit seinem dezidiert körperlichen Stil zielt, ist - wenn man den den französischen Autorenfilm der vergangenen 20 Jahre ein wenig kennt - zudem nichts ganz Neues mehr; auch wenn der Regisseur zu Protokoll gibt, seine Filme sollten nicht wie das Leben, sondern selbst gleichsam "reales Leben“ sein. Letztlich erscheint "Blau ist eine warme Farbe“ wie der dreistündige Rohschnitt eines auf 80 oder 90 Minuten geplanten, recht konventionellen Films - und es kann sein, dass die Arbeit genau dies ist; denn nach Cannes wurde sie offensichtlich in letzter Sekunde geliefert, wo sie noch ohne Nachspann lief.

„Arroganz des verwöhnten Kindes”
Wenige Tage später wurde diesem - möglicherweise noch nicht ganz in Form gebrachten -Werk der Hauptpreis des bedeutendsten Filmfestivals der Welt zugesprochen. Wenn die Produktion bis dahin noch nicht abgeschlossen war - in dieser Sekunde war sie es. Und in ebendieser Form wird der Film nun in die Kinos der Welt geliefert (Österreich-Start: 20.12.), begleitet von den gegenseitigen Misstrauensbekundungen der Schauspielerinnen und ihres Regisseurs. Denn vor wenigen Wochen antwortete Kechiche selbst in einem offenen Brief auf die Anschuldigungen, denen er sich ausgesetzt sah: In bitterem Tonfall kritisierte er Seydoux, die ihn "mit der Arroganz des verwöhnten Kindes“ diffamiere, und stellte die Möglichkeit einer Klage in den Raum. Er meint hinter den Vorwürfen eine Intrige zu erkennen, in der ein ihn missbilligender Kulturredakteur der Tageszeitung "Le Monde“ eine Rolle spiele.

Wie auch immer diese Geschichte eines "besudelten“ Films weitergehen und enden wird: Die Erzählung vom Leben der Adèle wird unter diesen Umständen vermutlich unvollendet bleiben. Es ist nun eher unwahrscheinlich, dass die Kapitel drei und vier je entstehen werden - von allen weiteren ganz zu schweigen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.