„Die perfekte Melodie gibt es nicht”

Chilly Gonzales: „Die perfekte Melodie gibt es nicht”

Interview. Chilly Gonzales über Improvisation und Musik als essenzielles Ausdrucksmittel

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Interview: Florian Wörgötter

profil: Viele Klavierschüler werden als Kinder schon traumatisiert von Skalen, Fingerkrämpfen und der tausendsten Wiederholung des Flohwalzers. Wie bringt Ihr demnächst erscheinendes Piano-Lehrbuch „Re-Introduction Etudes“ frustrierten Amateurmusikern wieder Freude am Spiel?
Gonzales: Ich zeige ihnen einen anderen Weg. Meine Musikstücke liegen vermutlich näher an ihrem Musikgeschmack als Bartók oder Beethoven. Ich habe den Spirit von Daft Punk, Feist, Jamie Lidell und mir in diese Lehrstücke gebannt. Außerdem verzichte ich auf den Flohwalzer.

profil: Sie vermitteln da eine niederschwellige, haptische Theorie des Klavierspiels.
Gonzales: Mit ein bisschen Übung wird die Noten vermutlich jeder einigermaßen gerade hinbringen. Die harte, wertvolle Arbeit aber ist es, ein Stück neu zu interpretieren, etwas damit zu
kommunizieren, es mit seiner eigenen Handschrift zu versehen. Jedes Stück kann beschwingt klingen oder trostlos – je nach Spielweise.

profil: Wie gelingt der Sprung von der werktreuen Wiedergabe zur Eigenkomposition?
Gonzales: Der Weg führt über die Improvisation. In meinem Buch präsentiere ich mit jedem Stück eine andere Kompositionstechnik, die als Grundlage für die eigene Musik dienen soll. Es geht nicht ums Nachspielen, sondern um die Ableitung eigener Ideen. Mit etwas Selbstvertrauen und Offenheit geht das. Auch wenn es nur ein paar Noten sind – es ist die eigene Melodie.

profil: Wie wichtig ist die Improvisation für die Charakterbildung eines Musikers?
Gonzales: Improvisation ist die Essenz jeder Musik. Ein Musiker, der nicht improvisieren kann, macht mich traurig. Oft treffe ich klassische Musiker, die ohne Partitur nichts anfangen können. Wie ist es möglich, Musik nur durch die Augen wahrzunehmen und nicht durch die Ohren? Eine Partitur hat nur den Zweck, dass mehrere Musiker gleichzeitig spielen, nicht aber jenen, die Musik zu ersetzen.

profil: Das Klavier war immer auch ein bildungsbürgerliches Statussymbol. Heute ist die Klaviatur als Schlüssel zur Musik allgegenwärtig - ob im Midi-Keyboard, auf dem Synthesizer oder dem Touchscreen. Ist das in Ihrem Sinne?
Gonzales: Sicher! Die ersten Synthesizer hatten keine Tastatur, waren bloß über Kabel verbunden. Vielen erschien ein solches Musizieren zu abstrakt, daher nutzte man das vertraute Messsystem der Klaviatur, um Töne visuell zu arrangieren. Heute stehen in jedem Studio Keyboards, aber längst nicht mehr überall Klaviere. Das Piano hat in dieser mutierten Form überlebt.

profil: Mussten Ihre Eltern Sie als Kind zum Klavierspielen zwingen?
Gonzales: Nein, denn mein Großvater unterrichtete meinen Bruder und mich. Er war ein Euro-Snob ungarischer Herkunft, der nach der alten Schule lehrte und überzeugt war, die europäische Kultur sei der nordamerikanischen Kultur weit überlegen.

profil: War er streng zu Ihnen?
Gonzales: Er lehrte mich, das Piano, seine Geschichte und seine Virtuosen zu respektieren. Gleichzeitig begeisterten mich in den frühen Achtzigern die Musikvideos von Lionel Richie. Ich spielte seine Songs immer gleich am Klavier nach. Der traditionelle europäische Blick und die Liebe zum Pop prägen mein Verständnis von Musik heute noch. Ich lebe in beiden Welten.

profil: Wie alt waren Sie, als Sie mit dem Klavier angefangen haben?
Gonzales: Vier. Als ich acht war, kam die Popmusik auf meinen Radar.

profil: Das Musizieren, sagen Studien, wird erst in der späten Adoleszenz zum echten Bedürfnis. Wann haben Sie realisiert, dass Musik Ihr essenzielles Ausdrucksmittel ist?
Gonzales: Ich wusste bereits als Elfjähriger, dass mein Leben dem Klavier gehören wird. Das Piano hat mich aus der Traurigkeit geholt und mir geholfen, meine Gefühle zu ordnen. Nur am Klavier habe ich mich stets sicher gefühlt.

profil: Wollten Sie das Klavierspiel jemals aufgeben?
Gonzales: Niemals. Als ich 1998 nach Berlin ging, spielte ich drei Jahre lang kaum Klavier. In der damaligen Berliner Musikszene waren Freaks, Maschinen, Performance und Spaß angesagt. Die Leute wollten keinen Musiklehrer auf der Bühne sehen. Ich empfand sogar, dass sie auf Leute, die ihr Instrument beherrschten, herabblickten, daher hielt ich mein Talent versteckt.

profil: Es galt als uncool, ein guter Musiker zu sein?
Gonzales: Absurd, aber so erschien es mir damals. Ich musste als Bad-Boy-Entertainer erst genug Aufmerksamkeit erzeugen, ehe ich mit meinem Album „Solo Piano“ 2004 endlich sein konnte, wer ich wirklich war.

profil: Muss ein Klavierlehrer heute auch Entertainer sein oder doch vor allem strenger Pädagoge?
Gonzales: Es ist wichtiger zu lehren, wie man sich ausdrückt, statt eine verkrampfte Fingerstellung zu kritisieren. Mein Ansatz lautet: Spaß, nicht Arbeit.

profil: Im Internet finden sich unzählige Video-Tutorials, die das Klavierspielen gratis lehren. Warum noch Geld für ein Klavierlehrbuch ausgeben?
Gonzales: Weil die meisten Online-Tutorials zwar gratis, aber umsonst sind. Und weil man meine musikalische Persönlichkeit schätzt? Aber vielleicht haben Sie Recht – und man wäre online besser dran.

profil: Sie versprechen in Ihrem Buch auch Insider-Tipps. Bitte um ein Beispiel.
Gonzales: Ich schildere avancierte Techniken, die ich bei Ikonen unserer Zeit, bei Feist, Daft Punk oder Drake im Studio beobachtet habe, und lege sie auf das Klavier um. Im Pop gilt: Weniger ist mehr. Während in Klassik und Jazz die musikalische Reduktion als eher primitiv gewertet wird.

profil: Wie findet man die perfekte Melodie?
Gonzales: Es gibt keine perfekte Melodie. Wenn Sie eine unfassbar schöne Frau sehen, wird deren Schönheit dennoch niemals jeder für perfekt halten. Erst das Unvollkommene erweckt die Poesie. Es geht um den Kampf, perfekt sein zu wollen, aber diesen Zustand niemals erreichen zu können. Eine gute Melodie sollte einer logischen Regel folgen, um diese dann überraschend zu brechen. Sie muss unerwartet springen. Sie braucht Platz und Pausen, Technik und Instinkt, außerdem die Wiederholung. Und vor allem: Glück - denn oft passiert die größte Kunst einfach von selbst.

Chilly Gonzales, 42,
ist eines der schillerndsten Crossover-Talente zwischen E- und U-Musik. Mit seinen spektakulär-wahnwitzigen Auftritten im Bademantel füllt der studierte Pianist die Philharmonien und Clubs gleichermaßen. Das als Jason Beck in Kanada geborene Multitalent überraschte mit jedem seiner neun Alben, auf denen er elektronische Musik, Indie-Pop, HipHop, Klassik und Jazz aufeinanderprallen ließ. Heute lebt der Komponist, Produzent und selbsternannte „Worst MC“ in Köln. Der von ihm vor ein paar Jahren aufgestellte Weltrekord des längsten Klaviersolos – er spielte 27 Stunden nonstop – ist mittlerweile gebrochen.

Chilly Gonzales & Kaiser Quartett live am 18.6. im Wiener Stadtsaal.
Gonzales’ „Re-Introduction Etudes“ (mit CD) erscheint dieser Tage bei Gentle Threat / Editions Bourgès R.