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Clara Immerwahr: Eine Anti-Kriegsheldin als Film- und Theaterereignis

Zeitgeschichte. Eine Anti-Kriegsheldin als Film- und Theaterereignis

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Die Meldung über die Todesnachricht war dürr geraten. In der „Grunewald-Zeitung“ vom 8. Mai 1915 stand zu lesen: „Durch Erschießen ihrem Leben ein Ende gesetzt hat die Gattin des Geheimen Regierungsrates Dr. H. in Dahlem, der zur Zeit im Felde steht. Die Gründe zur Tat der unglücklichen Frau sind unbekannt.“

In der Todesanzeige wird der Selbstmord der „Frau Clara Haber Dr. phil, geb. Immerwahr“ mit den Worten „verschied plötzlich“ am 2. Mai verschleiert. Immerhin gestand man ihr dort wenigstens ihren gegen alle Schikanen so hart erarbeiteten akademischen Titel zu.
Am 1. Mai gab man eine Abendgesellschaft in der Villa in Dahlem unweit von Berlin. Als Delikatesse soll Hummermayonaise gereicht worden sein. Es galt die Ernennung zum Hauptmann des Hausherrn Fritz Haber zu feiern, mit dem Clara seit 14 Jahren verheiratet war. Ein Karrieresprung, der ihn zu Tränen rührte. Schließlich war dem gebürtigen Juden in seiner Jugend die so heiß ersehnte preußische Offizierskarriere verwehrt geblieben. Ein Karrieresprung, den er einer Erfindung zu verdanken hatte, die ihm später das Etikett „Vater des Gaskriegs“ einbringen sollte. Denn Haber hatte kurz zuvor im belgischen Ypern den ersten Giftgaseinsatz des Ersten Weltkrieges überwacht. Am 22. April 1915 wurden auf einem sieben Kilometer langen Frontabschnitt 168 Tonnen Chlor über die französischen Schützengräben geblasen. Die Wirkung war verheerend: 5000 feindliche Soldaten starben, 10.000 blieben mit verätzten Atemwegen zurück. Die kriegstreibende deutsche Presse schwelgte in Euphorie: „Das ist doch noch einmal ein richtiger Bissen!“ Der erste Einsatz sollte auch den Ausschlag für eine Schlacht geben, in der sich die Großmächte im weiteren Verlauf des Krieges mit immer perfideren chemischen Waffen zu übertrumpfen suchten. Clara Haber war mit ihrem Mann schon lange vor dem Einsatz in erbitterten Streit „um diese Perversion der Wissenschaft“ geraten. Im Jänner 1915 hatte sie ihren Mann nach Köln begleitet, wo junge Soldaten unweit der Westfront für den Gaskrieg ausgebildet wurden. Vor den versammelten Vertretern von Militär und Industrie hatte sie sich scharf gegen die geplante Kriegsstrategie geäußert, die in den Militärpapieren unter dem Codenamen „Kongress“ chiffriert wurde. Sie wollte offene Briefe und verzweifelte Appelle in Zeitungen platzieren, um den bevorstehenden Massenmord zu verhindern. Keiner hörte auf sie.

„Sie hat das Leben nicht mehr ertragen“
Nachdem am Abend des 1. Mai alle Gäste gegangen waren und Fritz Haber seine üblichen Schlafmittel eingenommen hatte, nahm Clara Haber, knapp 45 Jahre alt, den Armeerevolver ihres Mannes vom Garderobenhaken und ging in den Garten, um einen Probeschuss zu setzen. Dann schoss sie sich ins Herz. Ihr zwölfjähriger Sohn Hermann fand sie sterbend Stunden später im Morgengrauen. Noch am Todestag seiner Frau eilte Fritz Haber an die Ostfront, um weitere Giftgasangriffe zu überwachen.
In einem Brief an einen Freund weist Haber jede Verantwortung für den Selbstmord seiner Frau weit von sich, indem er ihn mit dem Satz: „Sie hat das Leben nicht mehr ertragen“ begründete. Der zweite Chloreinsatz unter der Leitung von Haber in Galizien wird 6000 Menschenleben fordern.
Es wäre dennoch falsch, Clara Immerwahr als Pazifistin vom Kaliber einer Bertha von Suttner einzuordnen und ihren Selbstzerstörungsakt ausschließlich als ein symbolisches Zeichen zu werten. Ihr Freitod war aber auch nicht die depressive Verzweiflungstat einer erblich vorbelasteten Frau, als der er während Fritz Habers Karrierehöhenflug im Kriegsministerium gerne dargestellt wurde.

Immerwahrs Entscheidung, „sich aus dem Leben zu räumen, ohne Ungemach zu hinterlassen“, so die Schriftstellerin Sabine Friedrich, die über die Chemikerin einen Roman verfasste, ist die Konsequenz eines brutales Scheiterns in mehrfacher Hinsicht. Sie hatte den Glauben an den Humanismus der Wissenschaft und allen Fortschrittsoptimismus verloren. Sowohl ihre eigenen Ambitionen als auch ihre Ehe lagen in Trümmern.
Schon wenige Jahre nach ihrer Hochzeit 1901 war Claras Hoffnung geschwunden, dass sie mit dem Privatdozenten für Chemie Fritz Haber eine progressive Wissenschafterehe nach dem Vorbild von Marie und Pierre Curie führen werde, die sich 1903 den Nobelpreis geteilt hatten. Sukzessive wurde die angriffslustige Wissenschaftspionierin zum Hausmütterchen, deren eigene Forschungsambitionen sich alsbald nur mehr auf Handlangerdienste für ihren Ehemann beschränken sollten. Womit diese radikale Wende von einem Emanzipationskampf zur Unterordnung zu begründen ist, kann die Sekundärliteratur nicht beantworten. Am ehesten ist sie noch mit der Fürsorge und Angst um den von Anfang an kränklichen Sohn Hermann, der 1902 zur Welt gekommen war und der seinem Leben als Erwachsener auch ein Ende setzen wird, zu erklären.

Clara Immerwahrs Schicksal erscheint noch tragischer, wenn man ihre Lebensgeschichte von Anfang an betrachtet. Ihre Jugend war geprägt vom mühseligen Kampf um ihr Recht auf Bildung und Selbstverwirklichung.
Abgesehen von den üblichen Familienbildern ist nur ein einziges Porträtfoto von der damals knapp 30-jährigen Immerwahr erhalten. Es zeigt sie mit trotzigem Blick in einem einfachen, hochgeschlossenen Kleid bei der „Verteidigung“ ihrer Doktorschrift in Chemie; ihr Gesichtsausdruck signalisiert die Bereitschaft, die auferlegten Barrikaden des wilhelminischen Patriarchats um jeden Preis zu stürmen.

1899 hatte die Tochter aus freigeistigem jüdischen Haus als allererste Doktorandin an der Breslauer Universität – zum Thema „Löslichkeitsbestimmung schwer löslicher Salze des Quecksilbers, Kupfers, Bleis und Zinks“ – promoviert. Sie ist eine der ersten drei oder vier Absolventinnen, die deutsche Universitäten je hervorgebracht haben. Nach der Prüfung hatte ihr der Dekan erklärt, dass er jetzt aber nicht hoffe, dass „Frauen als doctores“ in Zukunft zur Tagesordnung gehören, sondern sie weiter „ihre schönste und heiligste Pflicht“ erfüllen würden, „ein Hort der Familie zu sein“. Daran als „geistige Amazone“ und „Blaustrumpf“ belächelt und verunglimpft zu werden, hat sich die junge Rebellin ohnehin längst gewöhnt. Mit der Unterstützung ihres Vaters Philipp Immerwahr, einem studierten Chemiker und Landwirt, hatte sich das liberal erzogene Mädchen schon früh dagegen zur Wehr gesetzt, ausschließlich ihrer „natürlichen Bestimmung“ nachzukommen und sich in einer „Höheren Töchterschule“ für die Pflichten als Hausfrau und Mutter zu rüsten. „Du schwimmst gegen den Strom, und das ist nicht leicht“, soll der Vater, der seine aus Wien stammenden Kusine geheiratet hatte, sie gewarnt haben. Doch Widerstand war zwecklos. In ihr wohnten nun einmal „Teile des Satans“, wie sie die Historikerin Gerit von Leitner in der einzigen und inzwischen vergriffenen Biografie „Der Fall Clara Immerwahr“ zitiert. Nach dem Besuch des Lehrerinnen-Seminars erstritt sie sich das Recht, ein Externisten-Abitur abzulegen, brauchte aber auch nach dem erfolgreichen Nehmen dieser Hürde eine Sondergenehmigung, um wenigstens als „gastweise“ Hörerin auf der Universität von Breslau zugelassen zu werden.

Der weitere Verlauf ihres Schicksals ist bisher erstaunlich marginal und dürftig erforscht. Das ist umso erstaunlicher, als diese Lebensgeschichte so viele dramatische Facetten aufzuweisen hat.

Befreiungskampf und Wissenschaft
In ihr vereinen sich ein weiblicher Befreiungskampf und dessen radikales Scheitern, die moralischen Fragen der Wissenschaft, eine Unterdrückungsgeschichte, in der ein Ehemann zugunsten seines eigenen Fortkommens die Talente seiner Frau unter die Räder kommen lässt, und eine Verzweiflungstat in Form der Selbstauslöschung.
Kein Wunder, dass dieses melodramatische Leben im Zuge des Erinnerungsorkans anlässlich des Weltkriegsjubiläums jetzt von Film- und Theatermachern entdeckt wurde.
Das Filmleben der Clara Immerwahr liegt im krea-tiven Bereich nahezu in österreichischer Hand: In der Regie von Harald Sicheritz und nach dem Drehbuch der Wiener Autorin und Filmemacherin Susanne Freund (siehe Kasten) zeigt der mit deutschen Partnern koproduzierende ORF im Frühsommer die Lebensverfilmung „Clara Immerwahr“ mit der deutschen Schauspielerin Katharina Schüttler in der Titelrolle.

Auch die britische Theater- und Opernregisseurin Katie Mitchell widmet ihre Bühnenarbeit „The Forbidden Zone“ im Rahmen der kommenden Salzburger Festspiele den Ereignissen rund um den Freitod der Clara Immerwahr. Ursprünglich wollte sie die Lebensgeschichte der amerikanischen Erbin Mary Borden thematisieren, die während des Ersten Weltkrieges ein Lazarett an der Westfront leitete und ihre traumatischen Erlebnisse über das Leiden der Soldaten in einem Buch verarbeitete. Im Zuge ihrer Recherchen entschied sich Mitchell jedoch, ihren Fokus auf „die deutsch-jüdische Familientragödie“ der Habers zu richten, in der sich die militärischen und humanitären Katastrophen des Ersten Weltkrieges in einem privaten Schicksal verdichten.

Im Gegensatz zu seiner Frau existiert über Fritz Haber reichhaltige Sekundärliteratur. Die private Seite des Ehemanns Fritz Haber bleibt jedoch in den zwei monumentalen deutschsprachigen Biografien über den Nobelpreisträger aus dem Jahr 1918, der die Auszeichnung für die Entdeckung der Ammoniaksynthese aber erst 1919 verliehen bekam, blass. Das Augenmerk der beiden Autoren (Dietrich Stoltzenberg und Margit Szöllösi-Janze) richtet sich auf die wissenschaftliche Karriere des Sohnes eines Breslauer Farbenhändlers. Beide Biografen zelebrieren in endlosen Ausführungen die chemischen Entdeckungen sowie die Experimente des „großen Mannes“, dessen Forschungsdrang und nahezu pathologischer Ehrgeiz von den wilhelminischen Machthabern so grausam instrumentalisiert worden war. Auch die Figur der Clara besitzt in ­diesen Wälzern kaum Konturen. In beiden Darstellungen ist die Ehefrau eher ein trauriges Hausmütterchen, das mit seinen schwankenden Gemütszuständen dem genialen Ehemann mehr zur Last fällt, als ihm den Rücken frei zu halten.

Habers Selbstverständnis, „im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland“ zu dienen, werden im Laufe des Ersten Weltkrieges rund 100.000 Soldaten unter qualvollen Umständen zum Opfer fallen. 1,2 Millionen Verwundete fordern die Giftgaseinsätze zusätzlich. Als Haber 1907 mit seinen Arbeiten über die Ammoniaksynthese begonnen hatte, war sein Forschungsziel die Herstellung von Düngemitteln gewesen. 1909 sollte ihm der entscheidende Durchbruch gelingen, Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff herzustellen. Sein Partner Carl Bosch entwickelte das Verfahren für die industrielle Produktion. Mit dieser Entdeckung spielte sich der ob seiner einfachen jüdischen Herkunft von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Haber in die vorderste Front der deutschen Forscherelite. Aus Ammoniak wird nämlich Salpetersäure gewonnen, die im Krieg noch einen anderen Verwendungszweck hat: Sie ist notwendiger Bestandteil bei der Herstellung von Sprengstoffen. Schon um die Jahrhundertwende befürchtete man die Erschöpfung natürlicher Salpetervorkommen in Chile. Durch das Haber-Bosch-Verfahren war der Nachschub von Munition trotz der Blockade des Seewegs durch die Briten gesichert: Ende 1913 ging die erste Anlage für Ammoniaksynthese in Betrieb, im Laufe der Kriegsjahre sollten ihr riesige Fabriken folgen, in denen problemlos Munition hergestellt werden konnte.

Auf Befehl des Kriegsministeriums widmete sich Haber in seinem Dalehmer Labor in Folge der Frage, wie man den Feind mit chemischen Waffen vernichten konnte. Er experimentierte mit Mäusen, Hunden, vermutlich auch mit Menschen. Dabei verfiel er auf den Stoff Chlor, der in der chemischen Industrie leicht in großen Mengen hergestellt und flüssig in Gasflaschen transportiert werden konnte. Da Chlor schwerer als Luft ist, legte sich der todbringende Stoff wie dicker Nebel über die Schützengräben. Als moralische Rechtfertigung, seine Forschung in den Dienst der Kriegsführung gestellt zu haben, wird Haber später immer wieder anführen, dass der Gaseinsatz die Kriegsführung entscheidend verkürzte und damit ein noch größeres Blutvergießen vermieden werden konnte. Von den wenigen Briefdokumenten, die von Clara Immerwahr-Haber erhalten sind, zeigt diese Passage aus dem Jahr 1909 die Resignation einer „geistigen Amazone“ schmerzhaft deutlich: „Es war stets meine Auffassung vom Leben, dass es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man all seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt hat … Der Aufschwung, den ich davon gehabt, ist aber sehr kurz gewesen.“

Infobox

„Idealistische Humanistin”
Die Verfilmung des Lebens der Clara Immerwahr.

Die renommierte Wiener Drehbuchautorin Susanne Freund stieß per Zufall im Zuge ihrer Recherchen zum Ersten Weltkrieg auf das Schicksal der Clara Immerwahr: „Die Quellenlage war äußerst dürftig, was für mich als Autorin eines historischen Stoffs ein Glücksfall ist: So bleibt mehr Raum für die eigene Kreativität.“ Für Freund ist Immerwahrs Leben „die Geschichte einer kämpferischen Frau, die von den damaligen Umständen sukzessive vergewaltigt worden ist. Am Zerstörungsprozess war aber auch ihr Ehemann maßgeblich beteiligt.“

Dass Haber im Alter von 25 Jahren zum protestantischen Glauben konvertierte, bestimmte seine Psyche nachhaltig: „Haber war von seinem Vater nach diesem Entschluss verstoßen worden. Für Juden war es damals nahezu nicht möglich, eine universitäre Karriere zu machen. Er hat zeitlebens darunter gelitten, doppelt ausgeschlossen zu sein – einerseits von seiner Familie, aber er wusste auch, dass er aufgrund seiner Herkunft mehr leisten musste als seine nicht-jüdischen wissenschaftlichen Mitbewerber.“

Im Gegensatz zu ihrem Mann kam Clara aus „einem familiären Umfeld voll von totalen Freigeistern, von denen sie bei all ihren unkonventionellen Wünschen und Plänen liebevolle Unterstützung erfahren hatte“. Aus der Verschiedenheit dieser beiden Psychen entstand für Freund die Tragödie.
Gedreht wurde hauptsächlich in Wien und Umgebung, als ausführender Produzent wirkte die MR-Film. Harald Sicheritz, der mit Susanne Freund bei dem Historiendrama „Zwölfeläuten“ schon einmal zusammenarbeitete, sieht seine Protagonistin als „idealistische Humanistin, die an der Pervertierung der Wissenschaft zerbricht“. Die deutschen Katharina Schüttler und Maximilian Brückner spielen das explosive Forscherpaar, der österreichische Bühnenstar Philipp Hochmair gibt den Liebhaber der in ihrer Ehe zunehmend verkümmernden Clara. „Ihr eine ­Affäre zuzugestehen, war meine schreiberische Freiheit. Sie ist durch nichts belegt“, so Freund, „aber man kann davon ausgehen, dass Haber seine Frau immer wieder betrogen hat. Er heiratete ja auch nur ein Jahr nach Claras Tod wieder.“ Die ORF-Ausstrahlung von „Clara Immerwahr“ ist für den Frühsommer geplant.

+++ Lesen Sie hier: Die Grabenkämpfe der österreichischen Frauenbewegung zwischen Patriotismus und Pazifismus +++

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort