Das Raubtier

Das Raubtier: Wegbegleiter Hermann Beil erinnert an Gert Voss

Nachruf. Wegbegleiter Hermann Beil erinnert an Gert Voss

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Brennende Sorge sprach aus seinem Gesicht, als wir uns noch im Mai bei den Gesprächen der Findungskommission für den künftigen Burgtheaterdirektor gegenübersaßen. Für Gert Voss, der einst, in seinem ersten Wiener Jahr, auf gehässige Weise angefeindet wurde, war die Burg nicht nur im wahren Sinne des Wortes zur Heimat geworden, er litt buchstäblich unter der gegenwärtigen Situation seines Theaters. Wie über seine Burg geredet und geschrieben wurde, war ihm eine Qual. Es war sein größter Wunsch, die Würde des Hauses zu retten. Darum kreisten in diesen Tagen unsere Gespräche.

Für mich persönlich war es mit Gert ein ununterbrochenes Gespräch seit 40 Jahren. Es begann am Staatstheater Stuttgart, wir führten es in Bochum und natürlich an der Burg – und es dauerte an bis zuletzt. Die Zeiten, die Entfernungen konnten uns nichts anhaben. Nicht nur gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Triumphe und Niederlagen, gemeinsame Freude und gemeinsame Trauer waren der Grund zu unserer Freundschaft – mich faszinierte an Gert auch sein unbedingter, unbeirrbarer Glaube an Aufgabe und Sinn des Theaters. Ihm war das Theater als ein Ort der Wahrheit absolut heilig. Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Opportunismus und Schlampigkeit im Umgang mit dem Theater schmerzten ihn. Er versuchte immer, dagegen zu halten.

Seine Götter waren einzig die Dichter. Was er über Shakespeare, Kleist, Tschechow, Beckett, Bernhard und Tabori wusste, hätte jeden Literaturwissenschafter, Kritiker oder auch Dramaturgen beschämen können. Er wusste es einfach instinktiv, er spürte es und hatte genaue Worte dafür, weil er sehr präzise und mit Fantasie alle Texte und zwischen den Zeilen der Texte las, ihre Möglichkeiten erkannte und die richtige Sprache, den richtigen Gestus dafür fand. Für diese seine schöpferische Leistung hätte er einen Ehrendoktor verdient. Gerts Erfindungsgabe und Neugier in der Arbeit an den Stücken schätzten und brauchten die Regisseure: Claus Peymann, George Tabori, Peter Zadek, Thomas Ostermeier, Luc Bondy oder früher Alfred Kirchner, Valentin Jeker, Karge/Langhoff. Aus der Zusammenarbeit mit diesen Regisseuren entstand eine Fülle von Aufführungen (und ich habe erlebt, wie riskant, wie halsbrecherisch es dabei zugehen konnte, wenn Gert voll bohrender Fragen plötzlich in mein Büro gestürmt kam), die Maßstäbe gesetzt haben und heute zur Ikonografie der Theatergeschichte gehören: „Die Hermannsschlacht“, „Ritter, Dene, Voss“, „Richard III“, „Kaufmann von Venedig“, „Othello“, „Ivanov“, „Goldberg Variationen“, „König Lear“.
Aber auch Dario Fos Farce „Hohn der Angst“, die einen vor Wahnwitz geradezu explodierenden Komiker Voss zeigte, gehört auf diese Ehrentafel. Thomas Bernhard und Peter Turrini schrieben für ihn Stücke. Er wiederum schrieb (zusammen mit Ignaz Kirchner) auf den Proben für Tabori die „Goldberg Variationen“, jedenfalls bekannte George einmal: „Ich hatte zweimal das große Glück, von Gert Voss inszeniert zu werden. Gert war, was ich von Schauspielern erhoffe, mein Co-Autor.“

Es gehörte zur Methode des Gert Voss, Theaterstücke raubtierartig anzugehen, lauernd, gierig, aber auch alle Skrupel minutiös auskostend, im rechten Moment beherzt zuschlagend, um Dorfrichter Adam, Puck, Tartuffe, den alten Diener Firs im „Kirschgarten“, um Macbeth, Handkes Pablo Vega, Becketts Krapp oder den Mr. Jay der „Goldberg Variationen“ auf hellsichtige Weise scharf konturiert darzustellen – sodass man als Zuschauer glauben musste, sie seien eigens für ihn geschrieben worden. In Thomas Bernhards „Einfach kompliziert“, das Peymann 2011 an der Burg und am Berliner Ensemble mit Gert Voss inszenierte, triumphierte die Figur des Alten Schauspielers über seine 80 Jahre und seine Hinfälligkeit, weil Voss ihn eben triumphal spielte, quasi als Quintessenz seines eigenen Theaterlebens. Welche Energien entfachte diese Rolle in Gert! Durch seine Spielkunst entpuppte sich ein kleines zartes Stück als großes Lebensdrama.

Das Theater, so lehrte uns der Schauspieler Voss, vermag über alle Widrigkeiten des Lebens zu siegen. Durch Voss vermochte das Theater zu fliegen und als schönste Erfindung des unmittelbaren Augenblicks zu wirken. Dabei war bei ihm alles hart und insistierend genau erarbeitet, auch wenn es genialisch leichtfüßig erschien. Gerts Leidenschaft in der Hingabe an jede Rolle machte kleine Rollen groß (Serebrjakow im „Onkel Wanja“), machte Rollen zur alles beherrschenden Figur (Orgon im „Tartuffe“), zeigte in der stillen Einfachheit des Spiels dunkel glühende Dramatik (Rosmer in „Rosmersholm“). Seine Möglichkeiten schienen mir unerschöpflich. Und doch machte er nie Theater! Eitle Theatralik und Schaumschlägerei waren ihm verhasst. Er spielte das Leben mit aller Härte, in ­allen Widersprüchen und seiner ganzen Fantastik, weil er das Geheimnis des Lebens ergründen wollte. Er wusste um die Gefahr abzustürzen, weil er sich selbst in Gefahr brachte und alles riskierte. Sein Richard III. war eine einzige physische und psychische Herausforderung an sich selbst; sein Ludwig in „Ritter, Dene, Voss“ balancierte tatsächlich an der Grenze zur Verrücktheit. Er schonte niemanden, weil er sich selbst nicht schonte.

Gert konnte ganz schön nerven und doch von einer Sekunde auf die andere ein Liebender sein. Und treu. Das Glück des Zusammenspielens war sein Ziel, seine Sehnsucht. Von der hohen Kunst das asiatischen Theaters lernte er als Kind, die Komik Charlie Chaplins studierte er präzise, die großen Schauspielerinnen und Schauspieler der Vergangenheit und Gegenwart waren ihm ein lebendiger Begriff. Es war eine Lust, mit ihm nachzudenken und zu fantasieren. Er hatte das Staunen nie verlernt. Im Grunde seines Herzens war er ein komödiantischer Philosoph, das Lachen seine wahre Philosophie, als eine besondere Form des Denkens. So gewann seine Menschendarstellung große Tiefe, war von bestürzender Unheimlichkeit und überwältigendem Enthusiasmus. Es war keine Seltenheit, dass im Furor seines Spiels hinter seinem Gesicht ein ganzes Jahrhundert aufschien.
Sein schönes Erinnerungsbuch „Ich bin kein Papagei“, das er zusammen mit Ursula Voss geschrieben hat, nennt Gert im Untertitel „Eine Theaterreise“. Er empfand, wie ein altchinesischer Weiser, jeden Tag als eine Reise und die Reise als sein Zuhause. Theaterproben und Theaterspielen waren ihm eine Reise in das kühne Abenteuer des Lebens. Jetzt ist die Reise des Gert Voss zu Ende. Sein Stern wird leuchten.

Zur Person
Hermann Beil, 72, ist Dramaturg und Regisseur. Seit 1974 arbeitet der Wiener eng mit Claus Peymann zusammen: Beil war Co-Direktor des Burgtheaters zwischen 1986 und 1999, seither ist er Dramaturg am Berliner Ensemble. Derzeit fungiert Beil als ehrenamtlicher Berater an der Burg.