Christina Lugner in der Kältekammer.
Immunbooster und Antidepressivum

Der Brrr-Boom: Kältetherapie als Lifestyle-Phänomen

Eisschwimmen, Eisbäder und Kältekammern wurden zum Lifestyle-Phänomen. Erwünschte Nebenwirkungen: Schmerzlinderung und Reduktion von Stress, Depressionen oder Schlafstörungen.

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Der Sommer ist für Josef Köberl eine harte Zeit. Um die Wärme ertragen zu können, hat sich der mehrfache Rekordhalter im Eisschwimmen eine Gefriertruhe gekauft, dieim Keller seines Hauses steht.Der Verkäufer im Mediamarkt schluckte kurz, als Köberl ihm erklärte, der Kasten müsse groß genug sein, dass ein Mensch bequem darin Platz haben könne. Manchmal sieht seine Frau(„Sie ist nicht so der Abenteuertyp“) aus der Truhe nur einen Schnorchel ragen. Bei 2 Grad hält er bis zu20 Minuten durch, bei 4 Grad durchaus einmal eine Stunde.

Der Grundlseer Josef Köberl, 46, hat seine Bestmarken an den unterschiedlichsten Locations jederzeit abrufbar: Im Natureispalast am HintertuxerGletscher 38 Minuten bei minus 0,23 Grad und einer Strecke von 1511 Metern; vor drei Jahren überbot er seinen eigenen Weltrekord und hielt es zwei Stunden, 30 Minuten und 35 Sekunden in einem mit Eiswürfeln randvoll gefüllten Container aus. Wenn er von seiner Ärmelkanal-Durchquerung im Jahr 2015 (14 Stunden, 21 Minuten) und den damit verbundenen Widrigkeiten wie Quallenbissen, extrem starken Strömungen, mehrfachem Erbrechen, dem Einatmen von Giftgasen, von den Klippen zerschnittenen Füßen und einem unfähigen Kapitän im Begleitboot, der in seiner Kajüte gemütlich zu Abend aß und deswegen seinen Schützling in der Finsternis verlor, erzählt, wirkt er extrem gelassen. Wie fühlt sich das an, nachts, völlig einsam im Ärmelkanal? „Ich habe nur das Bild des Leuchtturms am Cap Gris-Nez vor mir gehabt, nichts anderes. Das ist der Flow. Wenn du in den Flow kommst, klammerst du alles aus, auch die Angst. Es ist wie ein Drogenrausch. Mein Begleiter hat mich später tränenüberströmt empfangen, als ich an Land ging. Er hat nicht mehr mit mir gerechnet.“

Aggressionshemmer

Unser Gespräch findet am Wiener Badeschiff am Donaukanal statt, wo Köberl, der im Klimaministerium arbeitet, im Winter auch Schwimmkurse „für Warmduscher und Polarforscher“ bei einer Wassertemperatur bis zu einem Grad hält. Dort erfahre man in eineinhalb Stunden alles, was man wissen muss, denn im Eiswasser ist sowieso „jeder sein eigener Trainer“ und müsse „auf seinen Körper horchen lernen“. Köberl, der auch Vicky Krieps für ihre Sisi-Rolle im Film „Corsage“ über drei Monate lang Kaltwassertraining gab, ist überzeugt, dass Kältetraining die Menschheit weniger aggressiv machen könne: „Kälteerfahrungen wirken beruhigend.“

Bei der Arbeit mit depressiven Kindern beim Eisschwimmen habe er beobachtet, „wie sie plötzlich wieder lernten, sich an Details zu erfreuen, die sie vorher nicht wahrgenommen hatten, und wieder im Leben waren.“ Ein Projekt, das er demnächst angeht, in Gemeinschaftsarbeit mit einer Psychologin: „Eisschwimmen mit Sexualstraftätern nach ihrer Entlassung, um ihren Trieb ruhigzustellen.“

Doch nicht nur für Extremsportler, Schmerzpatienten und psychisch erkrankte Menschen hat sich die Kälte als Heilmittel bewährt. Inzwischen sind Eisbäder, Eisschwimmen und Kältekammern zu einem Lifestyle-Phänomen gewachsen. Der Brrr-Boom hängt auch mit den Lockdowns der Pandemie zusammen. „Da war jeder auf sich selbst geworfen und hatte Zeit, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen“, so die deutsche Kältetherapeutin Josephine Worseck: „Die Fitnesscenter waren geschlossen, also musste man sich was anderes einfallen lassen.“

 

Auf Instagram posieren Stars wie Kim Kardashian, Justin Bieber oder Lady Gaga, die schon 2017 in einer Netflix-Doku vorführte, wie sie ihre unerträglichen Rückenschmerzen durch Eisbäder lindern lernte, bis zum Hals „on the rocks“. Eis-Spas oder Eisschwimmen in der Gruppe gehört inzwischen in Berlin, London oder Amsterdam wie Dampfbäder oder Saunas zum Wellness-Fixangebot. profil-Autorin Karin Cerny, die bei Joseph Köberl an der Alten Donau „studierte“, beschreibt das Gefühl des Winterbadens als „eine Art Reset-Button. Das System fährt runter und startet neu durch.“ Auch empfinde sie im eiskalten Wasser „eine Ruhe, die ich in der Form noch nicht gekannt habe“.

Der Trend zu wohligen Kälteschauern ist jahrtausendealt: Die Germanen warfen ihre Babys in Eislöcher, um ihre Stammhalterqualitäten zu testen. Und auch Hippokrates vertraute auf die Kälte, um Blutungen und Seelentiefs zu stillen und Fieber zu senken. Tibetanische Mönche meditieren seit Jahrtausenden mit einer Atemtechnik, durch die sie über Stunden im Schnee sitzen und um sich einen trockenen Kreis bilden können. Das Prinzip ist so einfach wie einleuchtend: Durch extreme Kälte gerät der Körper in einen Schockstatus und fährt alle Schutzmechanismen hoch; durch die Freisetzung von Adrenalin und Dopamin entstehen das entsprechende Hochgefühl und die Fähigkeit, loszulassen.

„Es ist extrem stimulierend“, so der Schauspieler Philipp Hochmair, der sich bei seinen Theaterperformances regelmäßig verausgabt, über seine Erfahrungen in der Kältekammer. Bei Basenfasten-Kuren in Altaussee setzt er sich regelmäßig unter ärztlicher Aufsicht inzwischen vier Minuten 110 Minusgraden aus: „Diese Erfahrung setzt mein getriebenes System in den Ruhemodus. Wenn ich da drinnen stehe, schließe ich die Augen und rezitiere innerlich Schiller. So kann ich alles ausblenden.“

„Du bist danach in einer euphorischen Stimmung“, schwärmt Christina Lugner, die in der Villa ihres Ex-Mannes Richard zwei Mal die Woche die dortige Kältekammer besucht, „vergleichbar mit den Zuständen während einer Fastenkur.“ Für profil ließ sich Christina Lugner in dem Institut „Biogena Plaza“ fotografieren, da ihr Ex-Mann Richard Lugner, 91, an einer Lungenentzündung laborierte: „Nach der Kältekammer nimmt der Richard ansonsten die Stufen doppelt so schnell. Er ist ein echter Gesundheitskapitalist.“ Wichtige Regel: „Nie ohne Begleitung vor Ort in eine Kältekammer. Der Richard lässt sich immer von seiner Haushälterin bewachen.“

Pandemiegewinner

Der Selbstversuch in einer Kältekammer des „Biogena Plaza“ nahe der Wiener Staatsoper bestätigt den Energieanstieg, von dem Minus-Aficionados euphorisch berichten. Zwei Business-Typen in grauen Anzügen verlassen mit einem breiten Grinsen den Kälte-Sektor. In Unterwäsche, mit Mütze, Handschuhen und in Socken, das Gesicht mit einer Maske bedeckt, betritt man die Kabine, anfangs mit einem Angstkloß im Hals, der innerhalb weniger Sekunden verfliegt. Betreuerin Leila Djerlek wählt per Spotify den Lieblingssong. Zwar stehen in der Kammer auch manche kerzengerade im Ruhemodus, aber die körpereigene Wärme hält sich besser, wenn man sich bewegt. Die Euphorie kurz danach ist nicht ganz so dramatisch wie angekündigt. Ihre volle Wirkung entfalte die Kryotherapie (kryo, griechisch: kalt) erst, wenn man ein bis zwei Mal die Woche in die Kammer steigt. Über einen Mangel an Anfragen könne man sich nicht beklagen, erzählt Djerlek, „der Boom hat sich durch die Nachwirkungen der Pandemie extrem gesteigert“. Die Klientel sei quer durch Generationen und sozialen Herkünfte gemischt: „Da kommen Manager, die sich entstressen wollen, aber wir haben auch Kunden mit medizinischen Beschwerden.“ Kostenpunkt pro Behandlung: 35 Euro; allerdings gibt es neuerdings auch vergünstigte Abo-Angebote. Bei Schlafstörungen, Long-Covid-bedingten Erschöpfungszuständen, aber auch bei Rheuma- und Arthritisproblemen „beobachten wir Verbesserungen“, und auch bei Menschen, die an Depressionen leiden, „gibt es immer wieder Erfolgsmeldungen, wobei die Kältetherapie keine psychiatrische Behandlung ersetzen kann“. Wie beim Eisschwimmen sollten Menschen, die an hohem Blutdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krampfadern leiden, sowie schwangere Frauen sich nicht der extremen Kälte aussetzen: „Man erkennt die Qualität eines Anbieters daran, dass ein medizinischer Fragebogen ausgefüllt werden muss und immer jemand vor der Kabine in Bereitschaft steht, um helfen zu können.“

Mit solchen Vorsichtsmaßnahmen hat sich Josef Köberl wenig beschäftigt. Beim Blick auf den Donaukanal erzählt er nahezu begeistert, dass ja auch der Tod durch Kälte einer der schönsten sei: „Da werden die Leichen in den Bergen oder im Wasser oft mit einem Lächeln im Gesicht gefunden.“ Ob er selbst im trübgrauen Wasser des Kanals Euphorie empfinden könne? Was für eine Frage! Natürlich. Sehr oft schwimmt er zur Arbeit ins Klimaschutz-Ministerium, steigt oben bei der „Löwenbrücke“ in der Brigittenau mit seinem Rucksack in den Kanal und lässt sich bei nahezu jeder Temperatur bis zur Urania treiben. Der Portier im Ministerium hat sich bereits daran gewöhnt, dass Köberl manchmal nur mit einem Handtuch bekleidet das Amt betritt – und erst drinnen seinen Anzug anlegt.

Vom Klimaschutzstandpunkt her in jedem Fall eine vorbildliche Anreise zum Arbeitsplatz.

Die deutsche Molekularbiologin und Kältetherapeutin Josephine Worseck, die in ihren „eisigen”  Workshops und Kursen Menschen lehrt, „wie man unter großem äußeren Stress entspannt”, schwört, dass sie sich auch noch nach dem 100. Eisbad „sich glücklich wie ein Kind” fühle: „Auch trainierte Eisbaderinnen schütten noch immer das Noradrenalin aus, das Entzündungen senkt und die braunen Fettzellen dazu aktiviert, Blutzucker, Blutfette und Aminosäuren in Wärme umzuwandeln.” Wer in einem Eisbad lerne völlig los zu lassen, profitiere auch im Alltag durch „eine erhöhte Residenz”. Als langsame Befreundungssstrategie mit Kälte  empfiehlt sie „zunächst mit kalten Duschen zu beginnen und sich langsam steigert”: „Jetzt ist übrigens noch die ideale Zeit, um zu beginnen. Im Herbst sinken die Wassertemperaturen langsam und der Körper hat so schrittweise über mehrere Wochen Zeit, die Chance sich an die Kälte zu gewöhnen.”

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort