Die verlorene Lust
Sie sitzen an einem ovalen Tisch beisammen. Acht Frauen, acht Männer. Kerzenlicht. Der Raum ist überheizt- und auch die Atmosphäre. Sabine, 35 - ein wenig verlegen - erzählt: „Ein italienisches Lokal. Ich esse Lasagne und trage wegen der Hitze keine Unterhose. Ein Mann um die 40. Fragt, ob neben mir frei sei, bestellt irgend etwas. Ich spüre eine Hand zwischen meinen Knien. Mein Nachbar. Ich esse genüßlich weiter, tue so, als wär’ nichts, genieße das Kribbeln auf der Haut, in meinem Körper. Auch er tut so, als wär’ nichts, während die Hand weiterwandert. Dann läßt er seine Serviette fallen, verschwindet unter dem Tisch. Ich spür’ seinen heißen Atem zwischen meinen Oberschenkeln, lass’ mich bedienen und bestell’ beim Kellner noch ein Glas Spumante.“
Es folgt eine Beschreibung der Details. Die anderen halten den Atem an und wollen sich am Ende dieser Geschichte mit obszönen Witzen und Gekicher aus der Spannung lösen, als Klaus, 38, beginnt: „Ich liege gerade in meinem breiten Hotelzimmerbett. Da klopft’s leise, und die dunkelhäutige Frau mit dem engen grünen Lederkleid, das mir zuvor in der schummrigen Hotelbar aufgefallen war, kommt herein. Offensichtlich ist sie mir auf dem Weg ins Zimmer gefolgt. Sie legt den Finger auf ihre roten Lippen und läßt ihre Augen sprechen: ‚Ich bin geil auf dich.‘“ So wie zuvor der fremde Gast erfindet auch diese Frau lauter herrliche Liebesspiele. Und die Beschreibung löst bei der Gruppe lustvolles Prickeln aus.
Doch handelt es sich bei diesen Geschichten nicht um Abenteuer aus dem letzten Urlaub, sondern um die Übung im Rahmen eines Seminares für Paartherapie, einmal den eigenen sexuellen Phantasien freien Lauf zu lassen.
Die Wirklichkeit schaut ganz anders aus: Sabine und Klaus sind seit 14 Jahren verheiratet. Sie arbeitet bei einer Filmproduktionsfirma und kommt abends oft erst spät nach Hause. Er betreibt eine Rechts-, anwaltskanzlei und spürt den wachsenden Konkurrenzdruck auf sich lasten. Hier ein Termin, dort ein wichtiges Treffen mit Geschäftsfreunden, oft nicht einmal das Wochenende zum Verschnaufen. Früher waren die beiden ganz wild aufeinander gewesen, aber auf den verschlungenen Wegen zwischen Beruf und Beziehungskisten kam ihnen die Lust abhanden. „Ich hab’ den Eindruck, daß Klaus immer nur dann mit mir schlafen will“, klagt Sabine, „wenn ich gerade besonders überlastet bin.“ – „Irgendwann“, erklärt Klaus, „ist bei mir auch der Gusto auf Sex eingeschlafen.“
Das Grundgefühl einer sexuellen Appetitlosigkeit teilen sie mit einigen anderen Gruppenmitgliedern, die zum Teil jünger sind und nicht so lange in einer Zweierbeziehung leben, und auch mit einsamen Wölfinnen und Wölfen, die weder dem flüchtigen Kontakt noch einer anderen Bindung Genuß abgewinnen können.
Sie sind nicht die einzigen, die sich auf die Suche nach der verlorenen Lust begeben. Der Abverkauf der Libido greift in der Industriegesellschaft um sich. „Sexuelle Lustlosigkeit“, behauptet der „stern“ für die benachbarte Bundesrepublik, „gilt als Plage der achtziger Jahre.“ Noch in den siebziger Jahren war das „Heute will ich nicht“-Syndrom nur vereinzelt aufgetreten, heute sei, klagen deutsche Psychologen, jedes vierte bis fünfte Paar vom Gefühl sexueller Langeweile betroffen.
Und das vierköpfige Team der Wiener Sexualberatungsstelle‘) in der Lustkandlgasse, die seit einem Jahr Personen (Paare) mit Bettproblemen anonym und gratis betreut, ist schon speziell für die wahrscheinlich häufigste sexuelle Funktionsstörung unserer Zeit ausgebildet: denn der Frust mit der Lust rangiert auch hier an der Spitze der Statistik: 35 Prozent aller Ratsuchenden klagen darüber, „mehr Frauen als Männer“, weiß Sexualberaterin Rotraut Perner, „obwohl mehr Männer allein in die Beratung kommen (43 Prozent) als Frauen (32 Prozent).“
Agonie der Lust ...
Was sich an Lustverlust als Ausdruck einer gestörten Sexualität in den öffentlichen Anlaufstellen oder auf der Psychiater-Couch ansammelt, ist nur die Spitze des Eisberges. „In einer Großstadt wie Wien“, erklärt Familientherapeut Ludwig Reiter, Leiter der Wiener Familienberatungsstelle, „sind pro Jahr mehr als 10.000 Menschen von Sexualproblemen betroffen.“ Er bezieht sich auf eine Untersuchung?), nach der „15 Prozent der Patienten, die einen Arzt aufsuchen“, an ihrer Sexualität kiefeln. Auch Psychiater Peter Gathmann, der gelegentlich Anti-StreB-Seminare für Manager veranstaltet, erlebt esaufder psychosomatischen Station des AKH gleichermaßen wie bei Studenten: „Es ist eine stetig anwachsende Erscheinung, die in klarem Zusammenhang steht mit mehr Verdienen, weniger Zeit und dem Konkurrenzprinzip.“
Hans Mahler’), 34, Makler, beispielsweise, beruflich erfolgreich, Porsche-Besitzer, attraktiv, beliebt bei Frauen und Freunden und sehr sportlich, wechselt die Partnerinnen so oft wie vergeblich. Was andere Männer aufgeilt, erregt bei ihm nur Gereiztheit, Ärger, manchmal sogar Ekel. Das vorrangige Gefühl ist Leere. Obwohler zum Orgasmus kommt, kann er weder Lust noch Befriedigung empfinden. Vor allem nach seiner Scheidung – vor vier Jahren – hatte sich die Lustlosigkeit als ständige Begleiterin eingestellt.
... ein Yuppiesyndrom
Sexualforscherin und Psychoanalytikerin Helen Singer-Kaplan versuchte der in den USA schon länger grassierenden Seuche auf den Grund zu gehen. Im Gegensatz zur Erregungs- und Orgasmusphase sitzt das Zentrum des sexuellen Verlangens im Gehirn. Deshalb fühlt sich ein Mensch mit „sexueller Lusthemmung*“ (SLH) weder geil noch sexy – auch nicht am Höhepunkt. Das Gefühl entspreche, so Singer-Kaplant, dem „Essen, wenn man nicht hungrig ist“. Sie sieht demzufolge „interessante Parallelen“ zu einer anderen Zeitkrankheit, die sich in der übersättigten Gesellschaft ausbreitet: Magersucht (Anorexia nervosa): „Bei beiden Syndromen wird ein biologischer Trieb, in dem sich eine spezifische neurophysiologische Aktivität des Gehirns ausdrückt, von unbewußten psychischen Faktoren gehemmt“ (Singer-Kaplan). Die Verbindung zwischen sexuellem Appetit und Lust auf Essen ist unbestritten und fließt als „Ich möchte ihn vernaschen“, „Sie ist zum Anbeißen“ in den alltäglichen Wortschatz ein.
Nach Singer-Kaplan sind Menschen nur selten lebenslänglich asexuell (primäre SLH), öfter tritt die erotische Unlust (sekundäre SLH) nach Krisen wie Geburt, Tod oder Scheidung auf. Sowohl der Verlust sämtlicher sexueller Wünsche und Bedürfnisse kann die Folge sein (globale SLH) oder nur eine situationsgebundene Flaute (situationsspezifische SLH), jene Variante, mit der Sexualberater am häufigsten beschäftigt sind.
Ernst Binder‘), 36, liegt Nacht für Nacht neben seiner verführerisch-erotischen Frau, ohne auch nur einen Augenblick Lust auf sie zu verspüren. Gelegentlich reagiert sein Glied ohne ihn und steht auf. Dann wendet sich Ernst sogar angeekeltab. Dafür sucht er zweimal pro Woche eine Prostituierte auf – ohne Lustprobleme. Der Mensch, so Singer-Kaplan, empfinde nur in „sicheren“ Situationen Verlangen. Das kann auch eine psychologische Sicherheit sein: Es ist meist der besonders adäquate und begehrte Partner, der die seelische Gefahr erzeugt.“
Daß: die erotische Lust auf das Du 20 Jahre nach der sexuellen Befreiung in Agonie darniederliegt, hat sowohl mit der persönlichen Lebensgeschichte eines Menschen, mit Beziehungsproblemen zu tun als auch mit gesellschaftlichen Trends, dem Zeitgeist, dem Klima.
Lloyd de Mause, Autor von „Reagans Amerika“, schätzt den allgemeinen Lustverlust als Phänomen eines Phasenverlaufes der „Gruppenpsyche“ ein: Mit zunehmender Freiheit, wachsendem Wohlstand entwickeln die Menschen Schuldgefühle. Das „Über-Ich“ droht mit Strafe, und eine „depressive Phase“ beginnt – in der Wirtschaft und im gesellschaftspolitischen Klima.“ Auch Sexualität ist in dieser Angstphase unter dem strafenden Auge des Über-Ich verpönt“ (Psychologie heute, Dezember 1988).
(Erotik-)Schriftstellerin Dorothea Zeemann, 79, vergleicht die Gegenwart mit verflossenen Jahrzehnten aus eigener Erfahrung und kommt zu dem Schluß: „So lätschert wie heut’ war die Stimmung noch nie, Die Leute haben anscheinend Lust auf Langeweile. Und die Kinder der antiautoritären Erziehung? – Junge, angepaßte Greise.“
Die Ängste und auch die Werte haben sich gewandelt. Zur Angst vor Aids, die spontanes Liebeserleben merklich behindert, gesellt sich das Lebensgefühl der „Ich“-Generation: eine Mischung aus Resignation, Endzeitgestimmtheit – so „als verlösche der Trieb, weil wir auf eine apokalyptische Zeit zusteuern“ (Dorothea Zeemann) – und Narzißmus.
Gleich einer Gegenbewegung zum Gruppensex erfahren die No-Future-Kinder den eigenen Körper lieber allein, vor dem Spiegel, durch Jogging, Bodybuilding und andere Schwitzereien, aber nicht sexuell. Paare aus der Müsli-Szene wiederum wirken blaß, clean, geschwisterlich und ohne Passion: Eine Ideologie des Friedens (in der Partnerschaft) kann auch bedeuten, daß alles Triebhafte, Aggressive, Destruktive, das zum sexuellen Begehren gehört, als Bedrohung erlebt und ausgeklammert wird.
Und für manche Alt-68er hat das Spiel mit den multiplen Orgasmen längst an Feuer verloren. Viele fügen sich nahtlos in den neuen Trend. „Nicht mehr das rege Liebesleben“, erklärt Beatle-Fan und Topmanager Hans Petritsch’), 40, „imponiert jetzt einer Gruppe, sondern der soziale Erfolg – der Beruf, das Outfit.“ Er hatte vormals relativ gemütlich Welthandel studiert, in einer Wohngemeinschaft gelebt und, obwohl später verheiratet, bis in die frühen Achtziger seinen kecken Charme ausgenützt, mit instinktiver Sicherheit im richtigen Lokal der richtigen Frau in die Augen geschaut, gewartet, ob sie eindeutige Aktivitäten setzt, und mit den wechselnden, ähnlich empfindenden Partnerinnen Sex im Bett und anderswo genossen. Das hatte nicht nur die Ehe aufgepäppelt: „Sexualität war einfach eng verbunden mit der Selbsteinschätzung – für alle. Die Möglichkeiten und Bereitschaften waren vorhanden. Heute wird nur gefragt: „Was machst du? Wieviel verdienst du?“
Dementsprechend enden seine Tage regelmäßig mit Überstunden, seine Abende am Computer, „um mit der Zukunft mithalten zu können“. Der Wettkampf ist härter, die Freizeit strukturiert, Sexualität No-Future-Kinder erfahren den Körper durch Bodybuilding und
andere Schwitzereien – aber nicht sexuell in den Hintergrund gerückt.“ Und mit dem Bedauern, daß die Welt, ohne daß man es merke, eine andere geworden sei, schiebt er den Frust schnell weg: „Gefühle, Prickeln, Abenteuer würden mich von der Arbeit nur ablenken. Ich wäre nicht mehr leistungsfähig.“
Österreicher sind Beamte – auch beim Sex
Da es über Lust und Unlust von Österreichern keine Forschungsarbeiten gibt, hat profil das Institut für Motivforschung mit einer qualitativen Untersuchung zum sexuellen Appetit der Österreicher beauftrag. Mit dem Ergebnis: Das Phänomen der Lustlosigkeit kennen alle. Tendenziell wird es stärker von Gruppen registriert, die gewohnt sind, sich genau zu beobachten, die höhere Sensibilität für ihre sozialen Umfelder haben. „Menschen, die der oberen sozialen Schicht angehören und zugleich stark leistungs- und konsumorientiert sind.“
Als Gründe geben sie an: 1. „Wir sind so müde, abgespannt, voller Streß.“ 2. „Warum sollen wir überhaupt so oft, es ist doch immer dasselbe, alles erwartbar, was abläuft. Ich kann’s mir vorstellen, ich muß es nicht machen.“ 3. „Es mangelt an Atmosphäre.“
Auf die Frage, wann das letzte lustvolle Erlebnis stattgefunden habe, tritt meistens langes Schweigen ein. Und die Antwort, welcher Art es war, bezieht sich fast immer aufs Essen: „Salzburger Nockerln im Restaurant X.“
Daß es hierzulande für erotische Inszenierungen – im Gegensatz zu Frankreich – keine Bühne gibt, hat Tradition: „Österreich ist von einer Beamtenkultur geprägt“, so Motivforscherin Helen Karmasin. „Da wird gern alles verwaltet und reglementiert.“ Sex gehört zur Lebensroutine: ein Bestandteil des Wochenendes wie Hausputz, Haare- und Autowaschen und ein Besuch bei der Schwiegermutter.
In einer internationalen Untersuchung über Sozialverhalten im Ländervergleich führt Österreich außerdem im Bedürfnis nach Sicherheit. Bloß kein Risiko. Bloß kein Konflikt. Schon deshalb wird beim Durchschnittsösterreicher eine eruptiverotische Beziehung lieber vermieden.
Auch geriet die alte Rollenverteilung in der westlichen Welt ins Wanken. Da ist die Angst der Männer. „Sicher hat die befreite Sexualität“, meint der Hamburger Paartherapeut Michael Cöllen, „den Leistungsdruck erhöht. Und die aktiveren Frauen, von ihrer Empfängnisangst erlöst, verunsichern die Männer.“
Schließlich antwortet das starke Geschlecht auf Anzeichen des Alterns im Zeitalter des Jugendkultes lieber mit Lustlosigkeit. „Das hat nichts mit ’68 zu tun“, sagt Psychiater Alfred Springer, Leiter der sexualtherapeutischen Ambulanz an der psychiatrischen Universitätsklinik Wien, „das ist einfach physiologisch.“
Und Frauen wissen, trotz Emanzipation, auch nicht wirklich; wo’s künftig langgeht: „Die Medien“, so Helen Karmasin, „verkünden eine Ideologie des Selbstwerts ohne Gebrauchsanweisungen.“ Nur die Devise: Nie arm, nie dick, nie alt, nie müde. Die alte Mutterrolle ist weg und das Bild von der autonomen, aktiven Frau mit erotischen Bedürfnissen beim Durchschnitt bar aller Realität.
Zwar hat sich das Bewußtsein des weiblichen Orgasmus durchgesetzt, aber mit der Erfüllung hapert’s. Ein Drittel der Frauen in der Psychosomatischen Ambulanz der II. Universitäts-Frauenklinik Wien, weiß Psychiaterin Marianne Springer-Kremser, Leiterin des Instituts für Tiefenpsychologie, kommt wegen Sexualproblemen.
Die Frauen mit Orgasmusstörungen haben manches gemeinsam: eine relativ gute Schulausbildung, einen Beruf, der ihnen Spaß macht, und einen Selbstwert, den sie aus ihrem sozialen Aufstieg beziehen. Aktivität, Durchsetzungsvermögen und eine gespannte Bereitschaft zur Leistung scheinen für sie unvereinbar zu sein mit Entspannung, Passivität, Aufgabe der Kontrolle. „Kontrollverlust“, so Springer-Kremser, „ist für solche Frauen verbunden mit der Angst, sich zu verlieren, das heißt, es besteht ein starker geheimer Wunsch danach und zugleich die Befürchtung, ausgebeutet zu werden.“
„Ich habe Angst, etwas zu versäumen“, sagen die meisten, „wenn ich mich auf mich selbst konzentriere, Angst, mich gehen zu lassen, so weit, daß ich nicht mehr funktioniere, daß es mir den Boden unter den Füßen wegzieht.“ Nicht nur die Platzhalter der Erfolgsgeneration zwischen 30 und 40 sind auf Grund von Streß, Leistungs- oder Aids-Angst von SLH oder SLM (sexueller Lustmangel) befallen. Es prägte auch ihre Kinder.
Die 18-jährigen brauchen nicht mehr heimlich nächtens nach den Kirschen im Garten zu kraxeln, die Früchte der sexuellen Befreiung liegen auf dem Gabentisch. Und interessieren sie nicht. Die freie Sexualität ist alltäglich geworden. „Hinter dem Rücken ihres aufgeklärten Programmes“, schreibt. Martin Dannecker, „suchen die Menschen nach dem entschwundenen Tabu und inszenieren unablässig kleine sexuelle Dramen.“ Denn: „Die Steigerung von Lust hängt mit der Bewältigung
des Konfliktes, der sich im Kampf zwischen Wunsch und Verbot aufbaut, zusammen.
Sehnsucht nach Verboten
So empfindet auch Hanna Berger, 25,Lehrerin: „Lust ist etwas, was ich unbedingt haben oder machen möchte, eine Gier nach etwas“, sagt sie. Nur einmal habe sie längere Zeit dieses tolle Gefühl empfunden mit einem Mann in der Sexualität. Diese Beziehung sei nur deshalb so lustvoll gewesen, weil sie sich „auf verbotenen Plätzen – im Auto, im Stiegenhaus, überall, wo die Gefahr des Ertapptwerdens gegeben war – abgespielt hat“.
Lustlosigkeit, so Marianne Springer-Kremser, trage häufig „phallisch-narzisstische“ Züge. „Lust verbindet sich diesfalls mit der Vorstellung der Einzigartigkeit und ist nur erlebbar, solange man/frau sich als etwas Besonderes fühlt.“ Im Alltag schwer zu verwirklichen. Solange die Beziehung neu ist, erlebt frau/man einen Orgasmus, genießt den Körper. Dauert die Verbindung an, blättert die bunte Fassade sehr schnell ab, die Befriedigung fehlt, und Lustlosigkeit tritt ein. „Sie verschiebt sich immer weiter nach vorn“ (Springer-Kremser).
Diese Erfahrung hat auch Hanna Berger mit ihren drei länger anhaltenden Partnerschaften gehabt. Schon nach kurzer Zeit habe sie inmitten der sexuellen Tändeleien die Lust plötzlich verloren: „Zuerst ist der Anreiz. da, dann verkehrt sich die Lust in Lustlosigkeit. Es beginnt das Warten auf die Lust, die nicht mehr kommt. Ich will sie erleben, doch es dauert mir plötzlich zu lang.“
Deshalb lebt Hanna jetzt lieber allein, verbringt ihre Freizeit entweder in der Sauna, bei Aerobic, in Tanz- und Schauspielausbildungen oder – wie viele in ihrem Alter – nachts gelegentlich in Lokalen wie „Europa“, „Titanic“ oder im Volksgarten Dancing zu Zeiten der „Soul Seduction“. Das seien, meint sie, sichere Tips. „Man betrinkt sich, dann traut man sich mehr, man bleibt einfach übrig, zum Schluß schleppt man jemanden ab oder läßt sich abschleppen. Am Anfang macht’s Spaß, du kannst dich beweisen. Im Bett ist es dann öd und fad. Aids-Angst? Ach, das vergißt man fast immer.“
Narzißmus ist eine Form von’ Beziehungsunfähigkeit und wurzelt in der frühen Kindheit. „Wer als Kind nicht erlernt, was‘ Beziehung ist“, erklärt Gathmann, „kann als Erwachsener Beziehung nicht genießen.“ Dieser Beziehungsschwäche zufolge fühlt sich der Mensch auf sein Bild im Spiegel zurückgeworfen und liebt (oder haßt) ausschließlich sich selbst.
Hanna Berger beispielsweise ist die älteste von vier Geschwistern. Vor allem der Vater wünschte sich heftig einen Sohn. Seine Enttäuschung, seinen Ärger bekam Klein Hanna deutlich zu spüren, zumal ihr zwei Jahre später ein kleiner Bruder folgte. Er wurde geliebt, gehätschelt, gefeiert, war der Mittelpunkt der Familie. Die Zwillinge, ebenfalls Söhne, kamen erst fünf Jahre später. Hanna hingegen lernte weniger Kontakt; Wärme und Liebe kennen als Fensterputzen und Bodenwischen. Die aggressive, überlastete Mutter hatte das Mädchen darauf getrimmt, ihr möglichst viel Hausarbeit abzunehmen.
Umgekehrt kann allerdings auch ein Zuviel an Liebe und Aufmerksamkeit bei Kindern zu einer narzißtischen Lebenshaltung führen: Sie lernen es nicht, mit Frustrationen und Grenzen umzugehen: Den allgemeinen Narzißmustrend interpretiert Peter Gathmann so: Wenn die gestörte-Mutter-Kind-Beziehung als erstes Erleben von Gemeinschaft gehäuft auftritt, bilden sich „neue Zellen als Sauerteig einer neuen Gesellschaft heraus. Mit der Ideologie: Es ist besser, effektiver, erfolgversprechender, die Gesetze des einzelnen über die Gemeinschaft zu stellen.“
Der Rückbezug auf sich selbst, meint Reiter-Theil (Wiener: Sexualberatungsstelle) sei auch eine Chance: „Ein Durchgangsstadium, bevor eine neue Art von Beziehung ausprobiert wird, die Suche „nach einer neuen Einstellung. zum inneren System.“
In den letzten Jahren wuchs trotzdem bei den Jugendlichen die Schwierigkeit, eine eigene Identität zu finden. Sex ist allgemein verfügbar. In der Kunst und in den Medien wird zwar eine „gesteigerte Sexualität“ dargestellt, aber „Lust“, so Medien-Wissenschaftler Peter Weibel, „ist nur ein Code. Ein formales Element.“ Mit der „öffentlichen Überhitzung“, der „Sexualisierung der Ware“ (Weibel) verlöscht die „Kaufkraft“ des Sex in der Intimität.
Sado-Maso gehört zum Styling
Die Eltern halten die „hochrangigen Wertsysteme* besetzt, die Jungen können nur „über eine bürgerliche. Restauration oder ein Aufgreifen stark tabuisierter Werte abweichen“ (Institut für Motivforschung). Indem sie sich sehr früh und ganz traditionell an einen Partner binden und ihre Lust aus der Symbiose beziehen. Oder an vorhandene Tabus rühren und Grenzen ausprobieren.
Im Extrem liegt der Reiz im Flirt mit dem Tod über Drogen. In vielen anderen Fällen geraten Sado-Maso-Spiele in-Mode. „Diese Rituale“ stellte auch Psychiater Springer fest, „nehmen zu.“ Junge, vor allem „attraktive, selbständige Leute“, weiß ein Szenenkenner, turnen sich spätestens seit dem In-Film „Blue Velvet“ über wüste Beschimpfungsrituale an. „Nur ganz scharfe verbale Munition hebe die Blockade auf, fordere das Ich und errege Lustgefühle.
Oder sie geilen sich über gewaltsame Erniedrigungs- und Aggressionsrituale auf. Dabei werde aufcooles Design Wert gelegt. Hanna Berger weiß davon: „Gewalt am Anfang, also schlagen und kratzen, mag ich. Je gröber dich einer anfaßt, desto mehr spürst du dich. Der Geschlechtsakt ist dann gar nicht mehr wichtig. Ich mag’s auch ganz gern, wenn ich die Gewaltsamere bin.“
Dazu Springer: „Der Mensch fühlt sich immer bedrohter. Vielleicht ist das ein Versuch, diese Bedrohung spielerisch aufzulösen.“ Und eine Zeit, in der das Styling von Körper, Kleidung und Umraum das Allerwichtigste ist, kommt dem Zug zu Sadomasochismus oder Fetischismus entgegen: „Das Perverse ist immer gestylt“ (Springer). Das heißt ritualisiert und durchgestaltet.
Wenn die Lust zur Last wird, drückt sich das unterschiedlich im Körper aus: Frauen leiden an Vaginismus (Verkrampfung der Scheidenmuskulatur, so daß kein Eindringen des Penis möglich ist), an Anorgasmie oder an psychosomatischen Beschwerden,
wie Schmerzen im Unterleib; Männer an frühzeitigem Samenerguß (Ejaculatio praecox) oder an Erektionsstörungen.
„Gib die Hand da weg“
Wenn ein Mann will und nicht kann, ist mitunter einfach die Erziehung schuld. Michael Gerstner, 48, war mit viel „Pfui“ und „Gib die Hand da weg“ erzogen worden. Als er 15 ist, empfindet er es als schrecklich peinlich, daß sich sein Glied im Kreis von Verwandten selbständig macht, obwohl’s keiner sieht. Die Scham begleitet ihn lebenslänglich. Vor allem auch dann, wenn er die Erregung braucht, verwandelt sie sich in ein Angstgefühl.
Eine paradoxe Situation: „Zum einen leben wir“, so Springer, „in einer patriarchalischen Kultur. Zugleich ist die Zurschaustellung des Phallus nicht erlaubt.“ Hinter der Lustlosigkeit verbirgt sich mitunter nur mangelnde Sexualaufklärung „und damit verbunden zu hohe Erwartungen“ (Springer-Kremser) oder ein Trauma aus der Lebensgeschichte, das sich als ein ins Unbewußte verbanntes Inzesterlebnis entpuppt.
Elisabeth Stein, 44, Beamtin, zwei erwachsene Töchter, hält es zunehmend weniger aus, wenn ihr Mann ihre Brüste streichelt. Sie zieht sich immer mehr aus dem Ehebett zurück – mit dem Satz „Heute mag ich nicht“. Streit entsteht. Immer häufiger. Sie sucht einen Psychotherapeuten auf, um der Lust wieder auf die Sprünge zu helfen. Nach einem ausführlichen Gespräch beginnt die Arbeit am Symptom. Frau Klein soll das unangenehme Gefühl, das beim Berühren ihrer Brüste auftaucht, verstärken. Auf die Frage: „Woher kommt das Gefühl her? Welche Bilder entstehen?” steigt die Erinnerung hoch. Der Vater halte sie immer wieder begrapscht. Sie fühle sich wie ein eingesperrtes, zitterndes, abhängiges Häschen mit aufgerissenen Augen. Sie lernt – mit psychotherapeutischer Hilfe – daß sie dem kleinen Häschen in ihrem Inneren selbst geben kann, was es braucht. Nach einigen Sitzungen sind die Berührungen an der Brust zumindest aushaltbar. Ihr wird bewußt, daß sie mit ihrem Mann in der Exwohnung ihrer Eltern lebt. Sie beschließt umzuziehen: „Ich möchte was Eigenes finden.“
Streicheleinheiten für beide
Oft ist Frust statt Lust die – unerwartete – Folge einer Operation (Sterilisation) von Streß, einer Depression, von (Körper-)Ängsten.
Berta und Bernd Clausen sind seit zehn Jahren ein Paar. Es gibt zwischen den beiden keine Konflikte – nur: Sie hat fast immer eine Ausrede, wenn er sie begehrt. Zuerst erfährt Berta in der Sexualberatüng, daß es: durchaus erlaubt ist: und auch verständlich, „keine Lust“ zuhaben. Später trifft der Sexualberater mit dem Paar die Verabredung, daß ohne Lust auch kein Sex mehr stattfinden soll. Für Berta eine Entlastung. Zugleich beginnt ein Übungsprogramm zu Hause in Stufen. Ein Partner liegt auf dem Bauch, der andere streichelt, tätschelt, berührt jeden Zentimeter Haut eine Viertelstunde lang. Dann werden die Rollen getauscht. „Es ist wichtig“, so Stella Reiter-Theil, „daß jeder seinen eigenen Gefühlen Raum gibt und wirklich jede sonst vernachlässigte Körperstelle wahrnimmt. Wenn in Folge der Übungen Partnerkonflikte auftauchen, werden sie in den Therapiestunden besprochen.“
Später streicheln Berta und Bernd abwechselnd einander. Beine, Arme und Bauch; der Genitalbereich bleibt vorläufig ausgeklammert. Nach einigen Wochen dürfen sie auch die erogenen Zonen liebkosen; der nächste Schritt ist Petting, ehe sie wieder Wochen später Geschlechtsverkehr in Zusammenhang mit dem Streichelprogramm Ausprobieren dürfen. Orgasmus ist nicht erlaubt. Den soll das Paar noch mit der Hand erleben. Inzwischen ist Bertas Lust wiedergekehrt: „Wir sind aufeinander“, erklärt sie, „leidenschaftlich und wild.“
Die Streicheltherapie kann auch ganz anders ausgehen; wenn eine tiefe Feindseligkeil und Wut hinter der Lustlosigkeit lauert: Axel: Grundmann ist Chirurg, seine Frau Alice Ärztin in einem Krankenhaus, sie sind elf Jahre verheiratet, ihre Tochter ist fünf Jahre alt. Alice lehnt mehr und mehr jeden körperlichen Kontakt mit Axel ab und findet seine Art, sie langsam und sinnlich zu lieben, äußerst unangenehm. Die Streicheleinheiten in der Psychosexualtherapie verstärken den Effekt. Alice empfindet Wut und Feindseligkeit. Es stellt sich heraus, daß Axel sie zu Beginn häufig (so. wie ihr Vater) abgelehnt hatte, die Beziehung beenden wollte und sich von ihr
zum Zusammenbleiben, zur Hochzeit überreden ließ. Nach der Geburt des Kindes und Abschluß ihres Studiums änderte sich die Beziehung: Axel begehrte sie mehr und mehr; im gleichen Maß lehnte sie ihn ab. Sie konnte die Beleidigungen und Demütigungen der Anfangszeit nicht vergessen.
Und will auch jetzt, stellt sich heraus, ihre Wut auf Axel nicht aufgeben. Mit Beendigung der Therapie verliebte sie sich in einen älteren Mann, den sie, nach einer Scheiding, wo aller Haß noch einmal ausbricht, heiratet. Ihre sexuellen Probleme haben sich aufgelöst.
Häufig funktioniert eine Beziehung gerade deshalb perfekt, weil die Rollen der sexuellen: Störung gut verteilt sind. Bei Vaginismus beispielsweise findet die betroffene Frau oft einen passenden Partner, der mit der unvollzogenen Hochzeitsnacht einverstanden ist. Und beide sind dankbar für das Symptom, das die „frei flottierende Angst“ (Springer-Kremser) dahinter bindet. So bekommt die tiefe Vernichtungsangst einen Ort und einen Namen.
Paar- und Familientherapeuten machen überhaupt oft die Erfahrung: Wenn ein Partner Angst statt Lust empfindet, ist es die Angst von beiden. Ein Jahr lang sind Günther und Gerda Werner in eine Paartherapie gegangen, ehe er endlich seine Potenzprobleme losgeworden ist. Von dieser Nacht an verlor dafür Gerda, die sonst, so oft vergeblich Lust auf ihn hatte, den sexuellen Appetit: Gerda wurde mit ihrer Angst, die er mit ausgedrückt hatte, konfrontiert. Die Therapie dauerte zwei Jahre.
Integration
Für den Paartherapeuten Cöllen ist die Lustlosigkeit Anzeichen einer Phase, die jedes Paar, das länger zusammenlebt, durchleben muß. In der ersten Phase der Hingabe, zwischen 20 und 30, wird die Sexualität mit dem. Partner als etwas Exklusives genossen. Dann beginnt die Phase der Krise: Alltag und Routine schleichen sich ein. Zwischen Beruf, TV und Streit klappt es nicht mehr so lustvoll im Bett.
Auch wenn das Paar zu diversen Hilfsmitteln und Sextechniken greift. Die Gewöhnung machte den Rausch kaputt. Die Mehr-Partner- oder Umlernphase beginnt: Bei andern sucht sich die Frau oder der Mann zu holen, was er/sie zu Hause vermißt. Doch der alte Rausch, die alte Seligkeit, die alte Bestätigung sind von kurzer Dauer: Die alten Probleme tauchen bei der neuen Liebe wieder auf.
Die vierte und letzte Phase nennt Cöllen „Integration“. Wenn so ein Paar noch nicht getrennt ist, erkennt es auch, daß es die Idealität nicht gibt. Daß die vorgegebenen sexuellen Normen nicht stimmen. Daß es seinen eigenen Weg zur Befriedigung finden muß. Für jeden von beiden ist wichtig, autonom zu sein, sich abzugrenzen, ohne den anderen zu verletzen.“
Aus dem Archiv (profil 51/52/1988)