Im Neigungs-Winkel

Pädophilie: Betroffene am Pranger, der Staat versagt bei der Therapie

Pädophilie. Betroffene am Pranger, der Staat versagt bei der Therapie

Drucken

Schriftgröße

Von Angelika Hager, Sebastian Hofer und Salomea Krobath

Ein Mensch liegt in Trümmern. Der deutsche SPD-Politiker Sebastian Edathy steht seit Wochen am Pranger der deutschen Öffentlichkeit. Ohne Anklage, ohne Verfahren, ohne Verurteilung. Der Grund der medialen Hinrichtung: Edathy habe Fotos von nackten Kindern auf einer einschlägigen kanadischen Website bestellt. Im Zuge der internationalen Kinderporno-Großfahndung mit dem Titel „Operation Spade“ (Spaten), die vor drei Jahren mit den Ermittlungen gegen den kanadischen Betreiber Brian May ihren Anfang nahm, wurden hunderte Strafverdächtige auf der ganzen Welt festgenommen. 99 Prozent davon stellen Männer, darunter Priester, Ärzte, Pfleger freiwillige Kinderbetreuer, Väter von Pflegefamilien, Justizbeamte, im Alter von 22 bis 67 Jahren. 63 der registrierten IP-Adressen führten nach Österreich.

Im Zuge von Hausdurchsuchungen in allen österreichischen Bundesländern wurden insgesamt 300.000 kinderpornografische Dateien sichergestellt. Tagtäglich sind nach Schätzungen des amerikanischen FBI weltweit im Netz 750.000 Menschen auf der Suche nach einschlägigem Material unterwegs.
„Doch eine Berufsgruppe als besonders gefährdet zu klassifizieren, wäre falsch“, so der leitende Ermittler des Bundeskriminalamts Harald Gremel zu profil, „da gibt es alles – vom Straßenarbeiter bis eben zum Politiker.“ Erstaunlich sei, so Gremel über seinen Ermittlungsalltag, dass viele der Verdächtigten über den Besuch der Kriminalbeamten gar nicht sonderlich überrascht sind, sondern „eigentlich ohnehin damit gerechnet haben“, irgendwann ins Fahndungsnetz zu geraten: „Man hört dann oft den Satz: ‚Ich weiß, dass das verboten ist, aber ich kann nicht anders.‘“
Im Fall von Edathy führte der Bilderkonsum zur Auslöschung einer Existenz. Denn der Mann hatte das Pech, dass die Erhebungen des BKA durch den Mitte Februar zurückgetretenen Bundesminister und CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich an die Öffentlichkeit gesickert waren.
Es ist eine gesellschaftspolitische Errungenschaft der letzten Jahrzehnte, dass der Bereich „Sex und Kinder“moralische Empörung und strafrechtliche Ahndung nach sich zieht. Gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, sei es durch sexuelle Anbahnungen, Handlungen oder durch explizite Darstellung und deren kommerzielle Verwertung, ist unter allen Umständen vorzugehen. Fotos von weichgezeichneten, kaum bekleideten Mädchen unter dem Schutzalter, wie sie der inzwischen 80-jährige Fotograf
David Hamilton in den 1970er-Jahren am Fließband hergestellt hatte, würden heute nicht mehr zum popkulturellen Mainstream gehören. Zu Recht schwappten Entrüstungswellen hoch, als in der Modefotografie in den Hochglanzmagazinen der 1990er-Jahre immer wieder gerade einmal pubertierende Models in lasziven Lolita-Posen inszeniert wurden. Der Wiener Jahrhundertwende-Dichter Peter Altenberg, der aus seiner Vorliebe für „Unschuldslämmchen“ kein Hehl machte und dessen Hotelzimmerwände gepflastert waren mit einschlägigen „Nymphen“-Fotografien, würde heute im Dauervisier von Harald Gremels Fahndertruppe stehen. Es ist auch argumentativ nachvollziehbar, dass die „Dokumente einer pädophilen Gier“, so „Die Zeit“ über die Polaroid-Serien von jungen Mädchen des 2001 verstorbenen Malers Balthus, nun jetzt doch nicht wie geplant Anfang April im Essener Folkwang-Museum gezeigt werden.

Auf diesen ethischen Konsens, dass Schutzbedürftige nicht erotisch ausgebeutet und vorgeführt werden dürfen, hat sich die gesellschaftliche Moral geeinigt. Und das ist gut so.

„Teufel unserer Tage“
Im Kampf gegen Drogen ist es jedoch längst Usus, sich bei der Ermittlung strafrechtlich vor allem auf Lieferanten und Zwischenhändler zu konzentrieren. Konsumenten sind nicht ausschließlich Delinquenten, sondern auch Opfer ihrer Sucht und stehen im Fokus von Prävention und Therapie. Eine Sichtweise, die Pädophilen nicht vergönnt ist. Sie sind die „Teufel unserer Tage, der Feind, auf den sich alle geeinigt haben“, so „Der Spiegel“.

Was in der Edathy-Debatte, die sich inzwischen mehr um den Kategoriegrad der Bilder und den Missbrauch von Amtsgeheimnissen dreht, ausgeklammert wird, ist die Tatsache, dass pädophile Menschen sich ihre Neigung nicht ausgesucht haben, sondern an „der Störung der Sexualpräferenz“ (WHO) – bisweilen auch bis zum Selbstmord – leiden. Denn das moralische Bewusstsein, sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm zu befinden und mit seiner Neigung kämpfen zu müssen, kann zur psychischen Hölle werden. Nachzulesen in Werken von literarischer Weltgeltung wie Thomas Manns „Tod in Venedig“ oder Vladimir Nabokovs „Lolita“; authentisch geschildert in den Interviews mit den Betroffenen „Sven“ und „Günther“. Mit archaischen Ausgrenzungsritualen und einer „veritablen Hexenjagd“, so die Linzer Psychiaterin Adelheid Kastner, „in der man die Betroffenen am liebsten auf einem Scheiterhaufen sehen möchte“ geht die öffentliche Meinung gegen jene Menschen vor, deren Bevölkerungsanteil zwischen 0,3 und einem Prozent (die Schätzungen schwanken) ausmacht.

Kastner, die unter anderem das Gutachten über Josef Fritzl erstellt hat, sieht in der aktuellen Debatte eine „gefährliche Hysterisierung“: „Jedes inadäquate Verhalten gegenüber einem Kind ist natürlich zu verurteilen, aber in der öffentlichen Wahrnehmung wird sexueller Missbrauch mit Pädophilie gleichgesetzt. Das ist schlichtweg falsch. Mindestens 80 Prozent jener Täter, die sich an vorpubertären Kindern vergreifen, sind nicht pädophil. Da geht es in den allermeisten Fällen um ganz andere Dinge: Macht- oder Minderwertigkeitsgefühle, ein Rachebedürfnis an der Ehefrau, die Ursachen sind vielfältig.“

Kastner, Autorin des Buchs „Väter als Täter“, hält auch die mediale Vorverurteilung, nach der „der Konsum solcher kinderpornografischen Bilder zwangsläufig zu einem „Hands-on“-Delikt führe, für gefährlich falsch: „Nach einer neuen Schweizer Studie vergreifen sich nicht einmal fünf Prozent jener Internetkonsumenten auch tatsächlich an einem Kind. Eine Regelhaftigkeit nach dem Prinzip ,Zuerst Schauen, dann Grabschen und danach kommt es dann zu einer Vergewaltigung‘ existiert nicht.“
Menschen mit einer pädophilen Neigung als „potenziell gefährdet für Gewalttaten an Minderjährigen“ gleichzusetzen, wäre genauso unsinnig, wie jedem „normal“ heterosexuell Orientierten eine latente Bereitschaft für Vergewaltigungen zu unterstellen.

Eine Ansicht, die auch BKA-Fahnder Harald Gremel teilt. Müsste er eine Pyramide aufstellen, die die tatsächlich ausgelebten Bedürfnisse von pädophilen Menschen abbildet, so sei ganz klar, „dass die große Menge davon sich mit der Betrachtung von Foto- und Filmmaterial zufrieden gibt. Einige wenige tauchen dann in von Kindern und Jugendlichen frequentierten Foren auf und suchen Kontakte. Auch jede nachweisliche Kontaktanbahnung mit explizit sexuellem Inhalt ist strafrechtlich verfolgbar. Doch der Prozentsatz von tatsächlichen Missbrauchstätern ist unter diesen Menschen gering.“

Was seinen Fahndungsspielraum betrifft, sieht sich Gremel gesetzlich gut versorgt. Der Paragraf 207a des österreichischen Strafgesetzbuchs bedroht die Herstellung oder Verbreitung von pornografischen Darstellungen Minderjähriger mit bis zu dreijähriger Gefängnisstrafe, die gewerbsmäßige oder unter Gewaltanwendung hergestellte Kinderpornografie mit bis zu zehn Jahren.

Die Grauzone ist ein weites Land
In der Praxis sieht das Bußausmaß dann bisweilen allerdings erschreckend anders aus. Nach nur sechs Jahren Haft kam der Pensionist Siegfrid Z., heute 70 und der Hauptdrahtzieher rund um einen Kindersex-Ring in Bad Goisern Mitte der 1990er-Jahre, wieder frei. Der Psychotherapeut und Sexualforscher Rainer König-Hollerwöger erforschte „das dichte Netzwerk an Schändungen von Buben“ vor Ort über Jahre und verfasste dazu die 2003 erschienen Studie „Kindsein im Würgegriff sexueller Gewalt“. Siegfried Z. denunzierte seine Opfer nach seiner Entlassung auf einer Homepage mit dem Titel „Schöne Erinnerungen“. Für König-Hollerwöger ein einzigartiger Fall: „Dass ein verurteilter Täter im Nachhinein noch seine Opfer virtuell bloßstellt, um sich an ihnen zu rächen, gab es meines Wissens noch nirgends.“ Dass der Mann längst wieder im selben Ort ungeschoren lebt, kann sich der Psychotherapeut im profil-Interview nur so erklären: „Da waren psychologisch und soziologisch höchst begabte Herren aus allerhöchsten Kreisen am Werk. Es ist wahrscheinlich, dass Siegfried Z. von oben geschützt wurde, damit einiges nicht auffliegt.“

Der bloße Besitz von pornografischen Darstellungen mündiger Minderjähriger ist mit Freiheitsstrafe bis zu einen Jahr, von unmündigen Minderjährigen mit bis zu zwei Jahren zu bestrafen. Die entscheidende Frage, was eine pornografische Darstellung ausmacht, definiert das Gesetz als „wirklichkeitsnahe Abbildung einer geschlechtlichen Handlung“, wobei auch „wirklichkeitsnahe Abbildungen der Genitalien oder der Schamgegend Minderjähriger, die der sexuellen Erregung des Betrachters dienen“ dazuzählen.

Dagmar Albegger, Ressortsprecherin im Justizministerium, erläutert diese Passage so: „Das bedeutet also, dass ‚reine‘ Nacktfotos von Minderjährigen nicht unter den Paragrafen fallen.“ Nackte oder spärlich bekleidete Kinder sind aber auch jenseits der „Darkrooms“ im Internet allzeit verfügbar. Auf YouTube kann sich jeder an unzähligen Duschszenen von Buben in kleinen Badehosen oder erotisch posierenden Schulmädchen delektieren. Die Grauzone ist ein weites Land.

Insgesamt wurden im Jahr 2012 in Österreich 495 Personen nach diesem Paragrafen verurteilt. 2003 waren es noch 83 Verurteilungen, wobei der Sektionschef für Strafrecht im Justizministerium Christian Pilnacek den Anstieg mit verbesserten Fahndungsmethoden und der erhöhten Sensibilität in der Bevölkerung erklärt. Zudem seien die Zahlen aufgrund veränderter statistischer Maßgaben nicht wirklich miteinander zu vergleichen. Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger sei im gleichen Zeitraum – mit 96 Verurteilungen 2003 gegenüber 110 im Jahr 2012 – relativ stabil geblieben.

Während in Deutschland längst Präventions- und Therapieinstitutionen für pädophil orientierte Menschen wie „Dunkelfeld“ und „Keine-Täter-werden-de“ etabliert wurden, liegen solche Hilfseinrichtungen in Österreich noch gänzlich in privater Hand. Vor zwei Jahren gründete der auf Männerproblematiken spezialisierte Wiener Psychotherapeut Jonni Brem das Präventionsnetzwerk „Nicht Täter werden“, das ausschließlich von privaten Sponsoren finanziert wird: „Dadurch, dass wir bereits seit 30 Jahren Erfahrung mit pädophilen Männern und sexuellen Straftätern haben, merkten wir, dass es einen Bedarf für Männer gibt, die noch nicht straffällig wurden. Dieses Programm ist für Menschen, die erste Anzeichen an sich merken. Für alles andere haben wir schon laufende Gruppen. Bei ‚Nicht Täter‘ versuchen wir, ausschließlich auf die Freiwilligkeit der Klienten zu setzen. Bis jetzt sind fast ausschließlich Kernpädophile gekommen, die schon lange gewartet haben, dass es so ein Projekt gibt.“

Von völligen therapeutischen Heilungsprognosen kann man jedoch nicht sprechen. Betroffene können Vermeidungsstrategien und die Dosierung ihrer Bedürfnisse entwickeln erlernen, aber eine sexuelle Präferenz lässt sich nun einmal nicht ausradieren. Der Wiener Psychiater Patrick Frottier, der auch in der Dokumentation „Outing“ (siehe Artikel hier) maßgeblich zu Wort kommt und jahrelang die Sonderanstalt Mittersteig für geistige abnorme Rechtsbrecher in Wien geleitet hat, rät dringend zu einem gesellschaftlichen Umdenken: „Vor 40 Jahren war die Homosexualität in der Psychiatrie eine Krankheit, die es zu heilen galt. Heute ist sie eine sexuelle Normvariante. Wenn wir es tabumäßig aushielten, könnten wir das auch mit der Pädosexualität versuchen: sie als Normvariante anerkennen. Allerdings als eine, die nicht ausgelebt werden darf, und zwar ohne Einschränkung. Man kann nicht jede Neigung leben, die man hat. Aber Neigung ist nicht gleich Krankheit. Trotzdem ist es auch ein Fortschritt, dass wir nicht mehr nur ‚das Böse‘ sehen, sondern zunehmend auch jene Pädosexuellen, die ihre Neigung nicht ausleben wollen und dabei Hilfe brauchen.“

Der Fall Peter, den uns eine um Anonymität ersuchende Psychotherapeutin erzählte, zeigt, wie lebensnotwendig eine solche Hilfe sein kann. Ihr Patient zeigte schon im Alter von 16 Jahren einen Drang zu Kleinkindern. Mit 35 Jahren hatte er fast 17 Jahre in Gefängnissen verbracht. In der Strafanstalt Stein wurde er von seinen Mitinsassen furchtbar gequält, indem ihm „unter anderem brennendes Zeitungspapier zwischen die Zehen gesteckt wurde“. Seine Neigung erklärte sie sich mit der Tatsache, „dass Peter sich auch selbst als Kleinkind empfand und sich dadurch zu für ihn Gleichaltrigen hingezogen fühlte“. Als Kind war er bei regelmäßigen Untersuchungen vom Klagenfurter Kinderarzt Franz Wurst sexuell missbraucht worden. Mit 35 Jahren erhängte sich Peter in der Strafanstalt Stein.