Ein Jahr allein auf einer Insel: Wie ein Salzburger die Einsamkeit eroberte
Um seine „Veränderungsscheu“ zu überwinden, setzte sich der Salzburger Naturfilmer Johannes Likar, 36, einem Selbstversuch aus: Er lebte über ein Jahr lang allein in einem Zelt auf einer einsamen schwedischen Insel. Wie man dabei nicht durchdreht, sondern den Blick für das Wesentliche entwickelt, erzählt er im Interview.
Ein Seeadler mit einer Flügelspannweite von fast zwei Metern, der seelenruhig auf einem Weg sitzt. Ein Rudel vorbeihuschender Wölfe. Eine nächtliche Begegnung mit einem rabiaten Wildschwein. Heulende Winde im Winter mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 80 Stundenkilometern. Die damit verbundene, oft tagelang zu erduldende, zermürbende Schlaflosigkeit. Plastiksäcke über den Füßen, weil die Socken in der Kälte hart gefroren und nutzlos geworden sind. Im Winter nur ein einziges wöchentliches Bad im See, dabei spüren, wie die Kälte des Wassers sich wie Hunderte Nadelstiche auf der Haut anfühlt – mit der Konsequenz lautstarker Urschreie, die am anderen Ufer des Sees widerhallen. Nachts die elektronischen Geräte mit in den Schlafsack packen, damit sie von den winterlichen Minusgraden nicht beschädigt werden. Viele Tage, in denen das eigene Lachen die einzige Betätigung der Stimmbänder bleiben wird. Überirdisch schöne Sonnenuntergänge. Ein Heim, das fünf Meter Durchmesser hat, ein Tipi-ähnliches Zelt auf einer Holzplattform. Die schaurige Information, dass der See, in dem die Insel liegt, auf der man lebt, im 19. Jahrhundert Schauplatz eines furchtbaren Unfalls war: Das Boot eines Schuhmachers war mit elf Kindern an Bord bei aufkommendem Wind gekentert. Sechs Kinder ertranken, fünf von ihnen waren Geschwister. Sie wollten auf die Insel, um ein Fest zu feiern. Das Glück, dass man von dieser grauenhaften Geschichte erst nach einigen Monaten erfuhr. Verlassene Seeadlernester am Ufer der Insel. Auf dem Speiseplan Pilze, Beeren, viel Couscous, im Sommer auch Konserven. Auf der westlichen Seite der Insel wächst eine Fülle von Heidelbeeren. Und dann ist da die Einsamkeit, die jede Form von Zeitgefühl einfach verschwinden lässt.
Im Zoom-Interview mit profil schildert Johannes Likar Eindrücke und Erinnerungen, die er in jenem Jahr, das er allein auf einer unbewohnten Insel im Süden Schwedens verbracht hat, gesammelt hat. Likar lebt noch immer in der schwedischen Natur, in einem Holzhäuschen, der nächste Nachbar ist gut einen Kilometer entfernt, aber es gibt hier doch Luxus wie feste Wände, fließendes Wasser, eine Dusche und einen Kühlschrank.
Wie ertrug er damals die Einsamkeit, ohne verrückt zu werden? „Du musst dir eine Aufgabe stellen und deinen Tag strukturieren. Um den größtmöglichen Komfort im Rahmen der Möglichkeiten zu gestalten, braucht einfach alles viel mehr Zeit: Egal ob es das Reparieren eines vom Wind zerfetzten Vordachs, das Abwaschen des Geschirrs oder das Hacken von Holz ist. Ursprünglich hatte ich mir auch vorgenommen, jeden Tag auf einen Baum zu klettern, doch dann war mir das Risiko einer Verletzung doch zu groß.“ Erst mit fortschreitender Zeit stellte sich die Erkenntnis ein, dass ohne jegliche Ablenkung die Kreativität ins Rollen kommt – ein Faktum, das auch aus Entwicklungspsychologie und Frühpädagogik bekannt ist: „Erst in der wirklichen Langeweile im besten Sinn wurden meine Gedanken frei, und so begann ich Songtexte zu schreiben.“
In seinem eben erschienenen Buch „Draußen zu Hause“, in dem er sein schwedisches Abenteuer nicht nur als Selbstfindungstrip erzählt, sondern zudem auch viele praktische Überlebenstipps gibt, publizierte Likar eine Stelle aus seinem Tagebuch über die ersten Gehversuche in einer Stille, die oft nur von Vögelschreien unterbrochen wurde: „So ist sie nun da, die Stille. Ohne Ablenkung, erbarmungslos. Lässt keine abschweifenden Gedanken zu. Zeigt auf, was noch alles da ist. Wie ein abgelassener Stausee, der alles offenbart, was man stets, um das Gewissen zu beruhigen, in ihm versenkt hat. Was würde dieser See alles preisgeben? Verlorene Angelhaken, Boote, Menschen? … Du bist eigentlich erst ganze zwei Wochen hier, und es fühlt sich bereits ewig an.“
Das Gefühl, die Ablenkungsfreiheit als Wohltat zu empfinden, brauchte seine Zeit. Ein weiterer Tagebucheintrag: „Ich merke, ich bin unruhig. Die Einsamkeit ist nicht das, was meine Leere füllen kann. Ich zog aus, um in der Stille Ruhe zu finden. Doch alles, was ich fand, war die Rastlosigkeit in mir.“
„Ich merkte, dass die ständige Verbindung nach draußen mich krank machte.“
Was hält Johannes Likar von gestressten Managern, die um viel Geld Schweigeseminare in Klöstern oder Überlebenscamps in der freien Natur buchen, um den Druck abzuladen oder das Burnout abzuwenden? Inzwischen hat sich um Schlagworte wie „Digital Detoxing“ und „Erlebnis Stille“ eine regelrechte Angebotsindustrie entwickelt. „Das sind Marketing-Produkte, die zwar möglicherweise kurzfristig wie eine Medizin wirken, aber nicht die eigentliche Ursache des Zustands bekämpfen“, meint Likar.
An der Art, wie Likar von Extremerlebnissen in der Wildnis erzählt, lässt sich ablesen, dass der Salzburger auch angesichts von Herausforderungen wie beinah abgefrorenen Zehen durch unvorsichtiges Barfußgehen im Schnee oder einer nächtlichen Begegnung mit einem aggressiven Wildschwein nie die Nerven verlor: „Du brauchst eben einen guten Kontakt zu deiner inneren Stimme, um in keine unkontrollierte Panik zu fallen. Wenn du mit solchen Herausforderungen konfrontiert bist, musst du in den Dialog mit deiner inneren Stimme treten.“ In seinem Inseljahr hatte Johannes Likar ausreichend Gelegenheit, Intuition und verschüttete Instinkte freizulegen.
Als Likar, der vor seinem freiwilligen Exil als Fernsehcutter und Filmemacher tätig war, auf einem Luftbild einen See mit rund 16 Inseln im schwedischen Dalsland entdeckte, fühlte sich der Ort mit intuitiver Gewissheit richtig an. Bald stand sein Entschluss fest, „meine Veränderungsscheu zu überwinden“. Schemenhaft hatte die Entscheidung sich bereits angekündigt. In seinem Tagebuch schreibt Likar über diesen Prozess: „Was für eine fremdartige Idee. Es fühlt sich an, als wenn man einem wilden Tier etwas zu fressen zuwirft. Ein vorsichtiges Annähern, man würde es gern nehmen, ist aber noch zu unsicher, sich darauf einzulassen.“
Das Experiment, ein Jahr lang allein in einem Zelt auf einer unbewohnten Insel zu leben, die nur per Kanu zu erreichen ist, begann im Mai 2019, wurde aber durch die Coronapandemie deutlich verlängert – und endete auf einem Floß am Weg durch die Seenlandschaft und in einer Beziehung, die inzwischen wieder in die Brüche gegangen ist: „Nach dem Ende der Floßreise, wo alles zwischen uns gepasst hatte, war der Aufprall in der Realität vielleicht doch zu hart. Es war wahrscheinlich für mich zu früh, nach so langer Einsamkeit wieder zu zweit zu sein.“ Likar, der im Geist einer christlichen Religionsgemeinschaft groß geworden ist, hat bereits einiges an extremen Naturtrips hinter sich – Aufwärmrunden für das spätere Inselabenteuer.
Um seinen 30. Geburtstag „mit einer gewissen Wichtigkeit aufzuladen“, hatte er bereits 2018 sein Auto mit seiner Winterausrüstung bepackt und steuerte von Salzburg aus in Richtung schwedischer Norden: „Ich hatte damals das Gefühl, dass schon zu viel Zeit verstrichen war, in der ich einfach in den Tag hineingelebt hatte. Und dass das Leben an mir irgendwie vorbeizog.“
Sein Ziel, der wegen seiner unberührten Wildnis legendäre Sarek-Nationalpark im Norden Schwedens, in dem motorisierte Fahrzeuge verboten sind, erstreckt sich über 2000 Quadratkilometer. Minustemperaturen im zweistelligen Bereich sind dort im Winter Alltag. Deswegen dient das Gelände häufig als Übungsplatz für Menschen, die eine Grönlandeisdurchquerung auf ihrer Bucket List stehen haben. Allein das Packen des Pulkas, des Transportschlittens, nahm aufgrund der Kälte erhebliche Zeit in Anspruch. Jeder tiefe Atemzug, jede entblößte Hautstelle musste vermieden werden, einem toten Rentier am Wegesrand sollten viele lebende folgen. Die Temperatur von minus neun Grad im Tunnelzelt empfand Likar als regelrecht „behaglich“ im Kontrast zu den minus 20 Grad draußen. Der Lärm des Benzinkochers wirkte in der totalen Stille nahezu beruhigend.
Dieser Trip entpuppte sich im Nachhinein als perfektes Training für das, was in der Einsamkeit der Wildnis noch kommen sollte. Der Flachgauer hatte zum damaligen Zeitpunkt schon ein gescheitertes Abenteuer hinter sich: Eine geplante Österreich-Durchquerung vom Neusiedler See bis zum Bodensee musste er im Alter von 19 Jahren nach nur einer Woche abbrechen; er kam mit Riesenblasen an den Füßen in keinen Schuh mehr: „Da habe ich keinen falschen Ehrgeiz.“
Keinen falschen Ehrgeiz entwickelte er auch in seinem Inseljahr: „Ich war zwei Mal ernsthaft krank, da verließ ich die Insel und fand Unterschlupf bei sehr netten, weit entfernten Nachbarn, die mich gesund pflegten.“ Die Freundlichkeit und unvoreingenommene Offenheit der Schweden hatten ihn schon immer fasziniert. Likar selbst hatte früher, daheim in Salzburg, insgesamt gut 200 „Couchsurfer“ aufgenommen, denen er via Online-Plattform einen kostenlosen Schlafplatz angeboten hatte. Eine gewisse Unruhe stellte sich allerdings ein, als er mit seinen wöchentlichen Videos, die er unter dem Titel „My Northern Story“ auf YouTube stellte, der digitalen Welt der Likes, Klicks und Herzchen zu nahe kam: „Meine schlechte Internetverbindung rettete mich, und ich wurde aus einem tranceähnlichen Zustand wieder herausgerissen. Ich merkte, dass die ständige Verbindung nach draußen mich krank machte. Es wurde einsam, aber vielleicht genau wegen dieser Verbundenheit. Die Möglichkeit, das Privileg, sich nur mit dem Jetzt zu beschäftigen, musste wieder genützt werden.“
Ein Leben im dicht besiedelten Gebiet kommt für ihn heute nicht mehr infrage: „Als ich wieder in eine größere Stadt kam, dachte ich mir angesichts dieser Wohnblöcke nur: Wie schaffen es die Menschen bloß, so übereinandergestapelt zu leben? Aber wahrscheinlich denken die sich: Wie kann man nur nachts allein durch den Wald gehen? Ich fühle mich in einer Großstadt einsamer als allein auf einer unbewohnten Insel.“