Eine solch pathologische Einsamkeit, die den Germanwings-Piloten wenn nicht zu seiner Tat bewegt, dann doch jedenfalls vor möglichen Interventionen abgeschirmt hat, steht nun – unter anderem – im Zentrum von Durnovás „Loners“-Projekt. „Ich bezeichne das als radikale Einsamkeit. Diese kann zu einem Sicherheitsrisiko werden, weil radikal isolierte Menschen unter Umständen auch gewalttätig werden. Wir haben in den letzten Jahren einige Beispiele erlebt. Ich will damit nicht sagen, dass jede Einsamkeit ein Sicherheitsrisiko darstellt. Aber man sollte doch gesicherte Unterscheidungen machen können. Und man muss eine Debatte darüber führen, wann ein Eingriff in die Privatsphäre angebracht ist, weil ein bestimmtes Risiko vorliegt, und welche Institutionen dabei wie aktiv werden sollen.“
Manchmal muss mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden, um den Elefanten im Raum zu verjagen. Manchmal führt diese Strategie aber auch gehörig in die Irre beziehungsweise zu einem unnötigen Spatzensterben. Ein Problem dabei liegt auch darin, dass Einsamkeit dem Menschen als ziemlich gemischtes Gefühl erscheint. Sie kann Anteile von Angst enthalten, von Hoffnungslosigkeit oder von Enttäuschung. Eine verwitwete 83-Jährige ist auf eine andere Weise einsam als beispielsweise ein 16-jähriger Nerd. Es handelt sich um ein komplexes emotionales System, das auch Widersprüche enthält und das mit einer schnellen psychologischen Selbsteinschätzung („Wie einsam fühlen Sie sich auf einer Skala von 1 bis 10?“) nicht gut fassbar ist.
Eine übliche Definition von Einsamkeit fußt auf einer gefühlten Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen Sozialkontakten. Und schon beginnt das Dilemma, denn es besteht immer auch ein Unterschied zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit, sprich: Man kann sich auch einsam fühlen, wenn man sehr viele Menschen um sich hat. „Das zeigt sich gerade im Kontext der digitalen Technologen sehr deutlich“, erklärt Durnová: „Die sozialen Netzwerke können Einsamkeit mindern, aber sie können sie auch verschärfen, weil ich in ihnen eine noch viel stärkere Abgrenzung erleben kann: Je mehr ich mich in der digitalen Öffentlichkeit preisgebe, desto stärker nehme ich Zurückweisung wahr.“
Einsamkeit sei übrigens auch positiv zu fassen, sagt die Soziologin: „Ich kann mich in einem Einsamkeitsgefühl selbst als autonom erleben, sofern ich mich aus dieser Einsamkeit auch selbstständig herausholen kann. Durch den Trend zur Individualität, zum Alleinleben, zur Self-Care und Ego-Zentriertheit wird auch ein Stück Einsamkeit in Kauf genommen. Aber wie können wir davon eine Einsamkeit, die reguliert oder therapiert werden sollte, unterscheiden? Wann müssen wir in die Privatsphäre eingreifen? Es wird Menschen geben, die objektiv einsam sind, aber gar nicht wünschen, dass sich jemand einmischt.“
Die unsichtbare Apokalypse
Anna Durnová hat wenig Angst vor radikalen Schlussfolgerungen. In einem Aufsatz über die Klimakrise anno 2018 schloss sie – damals noch Senior Researcher am Institut für Höhere Studien (IHS) – mit der bemerkenswerten Pointe, dass wir die Apokalypse nicht mehr verhindern werden können und die Menschheit daran letztlich zugrunde gehen werde, aber dass man, und das ist nun die Pointe, mit diesem Untergang zumindest menschlich umgehen müsse. Sprich: Die Klimakrise wird soziale Ungerechtigkeiten massiv verstärken. Und wenn wir schon die Krise nicht mehr verhindern können, so können wir doch diese Ungleichheiten bekämpfen. Die Menschheit ist nicht mehr zu retten, die Menschlichkeit vielleicht schon.
In demselben Essay rückt auch ein theoretisches Konzept in den Vordergrund, mit dem Durnová ihre Forschungsthemen fasst: Die Verhinderung der Klimakatastrophe, so formuliert sie es dort, ist uns deshalb so entglitten, weil wir sie schlicht nicht als Katastrophe wahrnehmen können. Unsere alten kulturellen Erzählungen legen uns Scheuklappen an: Eine Apokalypse ist ein akutes katastrophales Ereignis, ein Meteoriteneinschlag etwa oder ein Atomkrieg. Der schleichende Anstieg von Durchschnittstemperaturen liegt weit außerhalb dieses Spektrums. Was nicht nach Apokalypse aussieht, kann keine sein.
Ganz ähnlich blickt Durnová auch auf die Einsamkeitsdebatte. Diese hat einen Fokus, der sehr eng gestrickt ist, es geht um Gesundheit, Intervention und Heilung. Wesentliche Aspekte bleiben dabei unterbelichtet: „Mich interessiert die Verbindung der allgemein problematisierten Einsamkeit mit dem gesellschaftlich erwünschten Individualismus, dem zunehmend emotionalen Ich und der Privatsphäre, die so wichtig geworden ist, dass sie die Einsamkeit bis zu einem Teil unsichtbar gemacht hat.“
Durnová geht von einem Zielkonflikt aus zwischen dem hart erkämpften Recht auf individuelle Privatsphäre und dem gesellschaftlichen Interesse an Intervention, wenn in dieser Sphäre Probleme entstehen. „Historisch führt der Weg aus den vormodernen gemeinschaftlicheren Gesellschaften zu einem individualistischen Modell, dass das rationale Ich über alles andere stellt, und inzwischen stellen wir auch das emotionale Ich über alles andere. Deshalb wird eine Gesellschaft, wenn sie einsamer wird, anders funktionieren – weil die Werte der eigenen Emotionalität höher stehen als die Werte der Gemeinschaft.“
Hat Einsamkeit insofern denn auch eine demokratiefeindliche Seite? „Teilweise sicher.“
Eine Politik der Gefühle
Die akademische Karriere der Anna Durnová im Zeitraffer: Studium der Germanistik, Romanistik und Politikwissenschaften in Brno und Wien, Postdoc-Stelle in Lyon, Lektorin an der Uni Wien, Senior Researcher am IHS, 2017 Faculty Fellow am Yale Center for Cultural Sociology, 2019 Habilitation an der Science Po in Paris, seit November 2021 Professur in Wien. Daneben fand die Mutter zweier Kinder auch Zeit für Literarisches. Im Juni 2022 wurde in Brünn ihr Theaterstück „Hodina zeny“ („Stunde der Frauen“) uraufgeführt. Inhalt laut Programmheft: „Wir schreiben das Jahr 2060. Die Menschheit wird von einer mysteriösen Pandemie erdrückt. Einschränkungen sind allgegenwärtig, und die Menschheit, ihrer Natur beraubt, gerät in Panik. Es gilt, die Menschen zu beruhigen und eine starke Rede zu halten, die der Welt Moral gibt, bis die Krise abgewendet ist. Zwei Politikerinnen, Alexa und Jandula, werden ausgewählt, um Angela Merkel, die sich vor der Welt versteckt, um Hilfe zu bitten. Sie ist 106 Jahre alt und hat einst die Welt, wie wir sie kennen, mitgestaltet. Doch hat sie noch etwas dazu zu sagen?“
Was hat Anna Durnová, 45, uns heute zu sagen? „Emotionen entstehen nicht in einem Vakuum. Sie sind in gesellschaftliche Strukturen eingebunden und an materielle Ressourcen geknüpft.“ Durnová erzählt ein Beispiel aus einem Forschungsprojekt zur Coronapandemie. Eine Frau habe im Interview berichtet, dass es sich in den Lockdowns eigentlich ganz gut aushalten ließ. „Sie hatte sich mit ihrem Sohn immer jeden Samstag Sushi bestellt und am Balkon gegessen. Das war ihre Maßnahme, um negative Emotionen zu lindern.“ Dass solche Linderung nicht allen von Lockdowns Betroffenen zur Verfügung stand, war der Studienteilnehmerin nicht klar. „Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen brauchen andere Energien und haben andere Mittel, um Emotionen zu regulieren. Diese Unterschiede sind in der Coronapandemie sehr stark zutage getreten. Das könnte übrigens auch ein Grund sein, warum diese Pandemie so schlecht verarbeitet wurde.“
Anna Durnovás grundlegendes Projekt ist eine politische Soziologie der Gefühle, sie hält dies für eine dringende Notwendigkeit: „Emotionalität schafft heute neue Trennungslinien, die nicht mehr an den klassischen Grenzen von sozialem Status, Alter oder Gender entlang verlaufen. Wir sortieren Menschen ständig nach ihren Emotionen. Aber wir sprechen nicht darüber.“ Gerade im Kontext von Covid, aber auch der populistischen Post-Truth-Ära erwächst dies zu einem demokratiepolitischen Problem. Gefühle sind eben nicht das Gegenteil von Expertise (auch wenn sie oft gegen diese in Stellung gebracht werden). Sie tragen ihre eigene, sehr spezifische Wahrheit. Und gerade die Einsamkeit als zentrales Phänomen des 21. Jahrhunderts sollte deshalb nicht mehr nur psychologisch oder neurologisch erforscht werden: „Einsamkeit hat immer mit der Gesellschaft zu tun und ist nur soziologisch vollständig zu verstehen. Dafür brauchen wir neue Instrumente und Kategorien“, sagt Anna Durnová. Sie wird sich auf die Suche machen.