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Ein radikales Gefühl: Anna Durnová erforscht die Einsamkeit im 21. Jahrhundert

Einsamkeit ist die prägende Emotion des 21. Jahrhunderts – und wird oft gründlich missverstanden. Die Soziologin Anna Durnová will das mit einem gigantischen Forschungsprojekt jetzt ändern.

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Anna Durnová öffnet ihr Büro. Es ist ruhig hier, noch nicht ganz kühl, im Innenhof steht zwischen Fahrrädern eine gewaltige Esche. Menschen sind keine zu bemerken. Durnovás Team ist im Moment in Marokko auf einem Soziologenkongress, sie selbst kommt gerade von einer Tagung in Thailand. Sozialwissenschaft ist heute ein global vernetztes Business – und, auch wenn es jetzt gerade den Eindruck macht, ganz sicher keine einsame Tätigkeit. Durnová, 45, geboren in Brno, Professorin für politische Soziologie an der Universität Wien, lässt sich nicht anmerken, dass sie etwas zu feiern hat. Vor wenigen Tagen wurde ihr vom European Research Council (ERC) ein mit 2,5 Millionen Euro dotiertes Forschungsstipendium zuerkannt. Das ist – gerade in der Sozialwissenschaft – doch unerhört viel Geld.

Durnová soll es für eine unerhört wichtige Forschungsarbeit verwenden. In dem auf fünf Jahre angelegten Projekt „Loners“ wird sie das vielleicht prägende Gefühl des 21. Jahrhunderts erkunden: die Einsamkeit.

Große Bevölkerungsstudien haben zu diesem Thema in den vergangenen Monaten teils dramatische Befunde erbracht, in Europa und Nordamerika berichtet rund ein Drittel der Bevölkerung von akuter, ein weiteres Drittel von episodischer Einsamkeit. Bei den unter 25-Jährigen sind die Raten noch deutlich höher. Die WHO klassifiziert Einsamkeit inzwischen als globale Gesundheitsgefahr (global health concern), und schon im Herbst 2023 warnte der damalige US-Gesundheitsminister Vivek Murthy vor einer „Epidemie der Einsamkeit“. Chronische Einsamkeit kann die Lebenserwartung senken, führt zu Veränderungen der Gehirnstruktur, Entzündungsreaktionen und steht in einem direkten Zusammenhang mit Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Durch den Trend zur Individualität, zum Alleinleben, zur Self-Care und Ego-Zentriertheit wird auch ein Stück Einsamkeit in Kauf genommen. Aber wie können wir davon eine Einsamkeit, die reguliert oder therapiert werden sollte, unterscheiden? Wann müssen wir in die Privatsphäre eingreifen?

Anna Durnová

Soziologin

Die Dringlichkeit des Problems ist also gut dokumentiert, Anna Durnová moniert aber einen wesentlichen blinden Fleck: Die öffentliche Debatte über die Einsamkeit ist spätestens seit Covid stark anschwellend, aber dabei durchwegs medizinisch fokussiert. Es geht stets um ein psychologisches, manchmal auch neurologisches Phänomen, von dem sehr viele einzelne Menschen betroffen sind, und um die Frage, wie dieses Problem gelöst, sprich: die Einsamkeit der Menschen geheilt werden könnte. Einspruch Durnová: „Ich wage zu behaupten, dass wir Einsamkeit nie ganz überwinden werden können. Also sehe ich es als meine Aufgabe als Sozialwissenschafterin, mir zu überlegen, wie wir mit dieser Tatsache umgehen können. Wie kann eine stark von Einsamkeit betroffene Gesellschaft funktionieren, welche Institutionen brauchen wir, um auch demokratisch miteinander leben zu können, ohne in einen dauerhaften Krisenzustand zu geraten? Insofern ist meine Perspektive nicht auf Heilung gerichtet, sondern auf unsere Zukunft.“

Einsamkeit als Sicherheitsrisiko

Am Ursprung von Durnovás Forschungsprojekt steht ein Unfall. Am 24. März 2015 stürzte der Germanwings-Flug 9525 auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in den französischen Alpen ab, alle 150 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Wie sich bald herausstellte, hatte der Co-Pilot die Maschine in suizidaler Absicht gegen eine Felswand gesteuert. „Schon damals habe ich mich gewundert, wie erstaunt hinterher alle waren, dass er zu dieser Tat fähig war. Er habe doch seine Nachbarn immer freundlich gegrüßt, immer seinen Mistkübel ausgeleert, sei auch Marathon gelaufen und so weiter. Warum konnte diese Katastrophe trotzdem nicht verhindert werden? Das führte mich zu der Frage, ob die ausgeprägte Privatsphäre, die wir in den vergangenen Jahrzehnten etabliert haben, uns nicht auch daran hindert, solchen Leuten zu helfen und zu verhindern, dass sie anderen Menschen Schaden zufügen.“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur. Ist seit 2020 Textchef und seit 2025 stellvertretender Chefredakteur dieses Magazins.