Mexikos Hirving Lozano stürzte ein ganzes Schland in die Depression

Fußball-WM-Tagebuch: Von Mücken und Elefanten

Deutschland schafft sich ab, Argentinien ist der reinste Flohzirkus, und sogar im ORF-Studio wird mittlerweile analysiert. Sebastian Hofer konnte der ersten Woche der Fußball-Weltmeisterschaft trotzdem einiges abgewinnen.

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Fußball-Weltmeisterschaften funktionieren nach ganz einfachen Regeln, von denen die einfachste und wichtigste lautet: Aus jeder Mücke wird, bis zum Beweis des Gegenteils, ein Elefant. Und an Mücken mangelte es den russischen Spielen zuletzt ja wirklich nicht. Vor allem am Spielort Wolgograd war mit Kratzwunden zu rechnen. Die dort tätigen Engländer juckte das aber erstaunlich wenig, sie haben, was Weltmeisterschaften betrifft, eine dicke Haut und meistens auch einen Fliegenfänger im Tor. In Zahlen: 2:1 gegen Tunesien. Es ist ein Anfang.

Watutinki dagegen soll im Frühsommer ganz entzückend und sogar weitgehend gelsenfrei sein. Die deutsche Nationalmannschaft verließ ihr Quartier in dem Moskauer Vorstädtchen trotzdem: Man wollte offenbar noch etwas vom Land sehen, bevor man wieder nach Hause fährt – was, nach einem bizarren Erstrundenspiel gegen Mexiko, früher passieren könnte, als sich das der deutsche Cheftrainer Joachim Löw und der Rest der Fußballnation vorgestellt haben. Am späten Sonntagnachmittag, das Flüchtlingsschiff „Aquarius“ war gerade im spanischen Valencia angelandet, stürzte Hirving Lozano ein ganzes Schland in die Depression.

Eine matte Partie, und die Deutschen zerfleischten sich selbst, wurden also gewissermaßen zu Österreichern, was Kanzler Kurz und seine bayerischen Branchenkollegen sicher anders formulieren würden.

Und schon waren die Mücken zur Stelle. Sie summten auf Bayerisch. Der Freistaat ist hier gerade tonangebend; Seehofer stichelt, Söder will Blut sehen, Matthäus muckt auf. „Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot“, erklärte der Rekordkommentator in der „Bild“-Zeitung und gab leider keine weiterführenden Outfit-Tipps ab. Aber weil eine WM nach eigenen Regeln funktioniert, siehe oben, war das eben doch eine Nachricht, ja Staatsaffäre. Eine matte Partie, und die Deutschen zerfleischten sich selbst, wurden also gewissermaßen zu Österreichern, was Kanzler Kurz und seine bayerischen Branchenkollegen sicher anders formulieren würden. Die Achse der Billigen war jedenfalls geschmiedet. Mexiko hatte am Selbstverständnis jenes Teams gezerrt, das sich nur noch „Die Mannschaft“ nennt, mit großen D und Hashtag, aber diesmal eher nach Seniorenschaft aussah: behäbig, unkonzentriert, satt. Das Gegenteil von durstig heißt übrigens, seit einem von der Duden-Redaktion ausgerufenen Publikumswettbewerb 1999: sitt. Und der Mexikaner ist ein Norddeutschland sehr beliebtes Getränk, das man sich als eine Bloody Mary im Schnapsglas vorstellen kann.

Der bayerische Sommermärchenonkel Franz Beckenbauer hatte zum deutschen Drama natürlich auch eine Geschichte auf Lager. Sie handelte von Beckenbauer. WM 1974 in Deutschland, Vorrunde in Hamburg, BRD-DDR 0:1. „Danach sind bei uns im Quartier die Fetzen geflogen. Bei ein paar Flaschen Wein haben wir uns die Meinung gegeigt.“ Deutschland (West) wurde Weltmeister, übrigens in der bayerischen Hauptstadt München. Nun trinkt heutzutage kaum noch ein Profi Wein, ja es wird nicht einmal mehr geraucht wie noch zu Zeiten eines Johan Cruyff. Aber der hat ja auch noch Weltmeisterschaften ausgelassen, weil er nicht in Diktaturen spielen mochte. Macht heutzutage auch keiner mehr.

Das Wunder von Córdoba ist genauso alt wie Garfield.

Die Österreicher spielten damals, bei der argentinischen WM, tatsächlich auch mit, was immerhin einen Beobachter, nämlich Edi Finger senior, in den Wahnsinn trieb. Das ist jetzt genau 40 Jahre her. Das Wunder von Córdoba ist genauso alt wie Garfield. Weitere Tiervergleiche wären jetzt aber eine Schweinerei, was uns zu dem bedeutenden österreichischen Argentinienkenner Michael Jeannée führt, der die WM dankbar zum Anlass nahm, um endlich wieder einmal Analogien zwischen der Spielanlage eines Nationalteams und dem jeweiligen Volkscharakter herzustellen. Das ist natürlich völlig antiquiertes Denken. Heutzutage geht es nicht mehr um Nationen, sondern um Achsen, zwischen Österreich und Bayern, vielleicht auch noch Italien, aber die spielen derzeit ja leider nicht Fußball. Die nationale Bedeutung des deutschen Schlamassels war trotzdem unübersehbar, die aus Mücken geborenen Elefanten machten sich auf den Weg zum Porzellanladen. Ihr Tenor: Die Deutschen: behäbig und reformresistent. Kanzlerin Merkel isoliert, Audi-Chef Stadler in U-Haft, Boris Becker möglicherweise doch nicht diplomatischer Attaché der Zentralafrikanischen Republik. Und Jogi Löw? Am Ende seiner Weisheit. Im WM-Quartier in Sotschi brachen alle Dämme, die Hamburger „Morgenpost“ berichtete genüsslich von der Wiedervereinigung: „Spieler-Frauen richten DFB-Stars wieder auf.“ Und was ist mit Mexiko? Dort wurden Kleinkinder bei der Einreise in die Vereinigten Staaten von Amts wegen von ihren Eltern getrennt und weggesperrt.

Die größte Mücke von allen war trotzdem die mit der Nummer 7. Cristiano Ronaldo kann Spiele ganz allein gewinnen. Er kann sich aber auch vor einem Freistoß an die Hose fassen oder nach einem Tor am Kinn kratzen und die ganze Welt dazu bringen, jede dieser Gesten bis ins Detail zu analysieren. Ist der Griff ans Kinn gar ein Untergriff gegenüber dem Kollegen Messi, den sie in Argentinien den „Floh“ nennen, der sich zum Turnier aber einen Ziegenbart stehen ließ (weil es besser zur aktuellen Kampagne seines Ausstatters passt)? „Auf jeden Fall“, um es mit ORF-Kultfigur Herbert Prohaska zu sagen, der gegen Ende der Woche vom Hauptabendprogramm in den Nachmittag rochierte, während Marcel Koller und Thomas Janeschitz ihre verdienten Prime-Time-Debüts feierten. Leider hat bis dato nicht einmal Taktikfuchs Janeschitz eine telegene Variante für den Wechsel an den Analyseflügel gefunden. Aber daran sind schon ganz andere (Roman Mählich) gescheitert.

Die Schiedsrichter wiederum waren in den ersten Spieltagen dieser Weltmeisterschaft geradezu sensationell erfolgreich, ja die eigentlichen Helden des Turniers. In vielen Fällen machten sie das Spiel. Um die Gründe dafür zu finden, braucht es kein Analyseprogramm. Den Referees war schlicht ein Floh ins Ohr gesetzt worden, über den sich im Notfall ein Video-Assistent meldete. Das verhalf zu Gelassenheit und führte zu Selbstvertrauen; man konnte ruhig auch einmal kuriose Elfmeter geben oder eine Blutgrätsche durchwinken, und natürlich konnte man auch die armen Iraner minutenlang weiterjubeln lassen, als sie glaubten, gegen Spanien ein Tor geschossen zu haben.

Eine WM funktioniert nach einfachen Regeln: Eine Pfeife macht noch keinen Schiri. Aus einem Floh wird allenfalls eine Ziege. Aus einem Gockel aber, vielleicht, ein Gott.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.