Fußballkolumne: Experiment Europameisterschaft
Marcel Koller war in den Qualifikationsspielen der Inbegriff für Kontinuität. Der Schweizer setzte auf dieselben Spieler, wählte dasselbe Konzept, holte Sieg um Sieg. Österreichs Wiedererkennungsmerkmal war das Angriffspressing. Agierte die österreichische Fußballmannschaft die Jahre davor ängstlich, passiv und zögerlich, wurde sie unter Koller zunehmend mutig, aktiv und entschlossen. Immer öfter lobten internationale Experten das österreichische Fußballteam und dessen modernes Fußballspiel. Aber ausgerechnet jener Mann, der Österreichs Nationalteam jahrelang ein und dieselbe Spielidee eintrichterte, machte die Europameisterschaft plötzlich zum Probierfeld.
Die Vorbereitungspartien waren schwach, beunruhigten aber den Betreuerstab nicht wirklich. Ein Testspiel ist kein Wettkampf lautete der Tenor. Im ersten Euro-Spiel gegen Ungarn wollte Österreich wie gewohnt das Spiel dominieren, bloß das Passspiel blieb unpräzise und der gute Wille war schnell gebrochen. Lange versuchte Österreich mit angezogener Handbremse Geschwindigkeit aufzunehmen. Der für das Pressing als unersetzbar geltende Zlatko Junuzovic verletzte sich und der Teamchef kam immer mehr ins Zweifeln. Hatten die Gegner das österreichische Spiel durchschaut und ein Gegenmittel parat? Waren die Spieler für die Umsetzung zu nervös? Gegen Portugal verordnete der Teamchef seiner Mannschaft weniger zu agieren, mehr abzuwarten. Der glücklich errungene Punkt täuschte darüber hinweg, dass das Konzept nicht recht funktionierte. Gegen Island stellte sich die Frage: findet das Nationalteam zu seiner Spielidee zurück oder muss es gar eine neue erfinden? Koller wählte erfinden und stellte sieben Defensivspieler in die Startformation. Österreich startete passiv, Island schoss an die Stange und wenig später ins Tor. Zur Pause tauschte Koller zwei Defensive (Prödl, Ilsanker) für zwei Offensive (Schöpf, Janko) und stellte auf das gewohnte und bewährte Offensivsystem um. Österreich dominierte danach bis zum Schluss das Spiel. Marcel Koller holte Österreich aus der Bedeutungslosigkeit und führte sein Team mit einer mutigen Spielweise bis zur Europameisterschaft. Aber ausgerechnet auf der großen internationalen Bühne schien er zunehmend den Glauben an sein eigenes Spielkonstrukt zu verlieren.
Erst in Hälfte zwei gegen Island wirkte Österreich nahezu so wie in den Qualifikationsspielen.
Auffällig war, dass Österreich mit einer passiven Spielanlage weniger umzugehen wusste als mit einer aktiven, die seit Jahren erprobt wurde. Erst in Hälfte zwei gegen Island wirkte Österreich nahezu so wie in den Qualifikationsspielen. Aktiv und mutig. Der eingewechselte Schöpf war spielstark und erzielte den Ausgleich. David Alaba fühlt sich wohler, je weiter hinten er die Bälle nach vorne spielen kann. Koller verzichtete aber gegen Island trotz klarer Erfahrungswerte aus dem Portugal-Spiel auf Schöpf in der Startformation und auf Alaba in einer defensiveren Rolle. Der Schweizer bastelte und experimentierte an seiner Mannschaft so viel herum wie nie zuvor. Dazu formulierte er seine Gedanken nicht in Erklärungen für die Öffentlichkeit.
Nach dem Spiel analysierte Koller die schwache erste halbe Stunde gegen Island: „Das hat nichts mit dem System zu tun, sondern mit der Nervosität.“ Es stellt sich die Frage, warum die Nervosität mit dem Eintausch zweier Offensivspieler und dem Wechsel zum bewährten System wie weggeblasen war.
Der in den letzten Jahren oft zögerliche Marcel Koller schob zuletzt zum ungünstigsten Zeitpunkt seine Spieler wie auf einem Schachbrett herum.
Kollers Sätze klangen mehr nach Ausrede denn nach Erklärung. Viel war von Nervosität bei den Spielern die Rede. Und von unbändigem Druck, dem sie nicht standhielten. Jetzt nach dem Island-Spiel betonte Koller die wichtigen Erfahrungswerte, die seine Spieler während des Turniers sammeln konnten. Tatsächlich spielen die meisten in Weltligen und werden jede Woche gefordert. Es bleibt die Frage, warum Island und Ungarn, mit weniger hochkarätigen und wesentlich unerfahreneren Spielern ausgestattet, mit dem Niveau eines großen Turniers umgehen konnten. Einige Spieler waren nicht in Form, andere verletzt. Fakt ist aber auch, dass je nach Spielidee- oder Systemwechsel die gesamte Mannschaft besser oder schlechter wirkte.
Der in den letzten Jahren oft zögerliche Marcel Koller schob zuletzt zum ungünstigsten Zeitpunkt seine Spieler wie auf einem Schachbrett herum. Der Schweizer hat den österreichischen Fußball von Platz 72 in die Top 10 der Weltrangliste geführt. Sein Nimbus als Wundertrainer wurde jedoch während der Europameisterschaft erstmals gröber beschädigt. Einen Lernprozess wird es nur dann geben, wenn öffentlich und intern die Problemstellen klar benannt und erkannt werden. Während sich das Nationalteam vor dem Turnier überschätzte, so unterschätzte es sein Leistungsvermögen zunehmend. Marcel Koller war vor der Europameisterschaft sakrosankt und hatte die Öffentlichkeit auf seiner Seite. Eine Öffentlichkeit, die sich zu Beginn seiner Amtszeit in Befürworter und Gegner seiner Person spaltete. Viele waren dem Schweizer zurecht dankbar, dass er den österreichischen Fußball nach den Jahren der hausgemachten Tristesse nach oben führte. Die Angst vor der Demontage des Heilsbringers darf ihn aber jetzt nicht ausnahmslos vor Kritik schützen. In Österreich gilt Detailkritik – vor allem in erfolgreichen Phasen – noch immer als Pöbelei. Genau so wenig dürften die ersten groben Fehler des Schweizers jetzt eine – in Österreich immer noch interessengesteuerte – Demontage auslösen.
Nüchtern betrachtet hat Koller sein Team mit einer mutigen Spielweise stark gemacht. Ebenso nüchtern betrachtet hat er seiner Mannschaft zuletzt diese Stärke genommen.