Eine kurze Geschichte der zerrissenen Jeans

Das paradoxe Lob eines Fehlers.

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Das Kniegelenk zählt traditionell zu den unterschätzteren menschlichen Körperteilen. Was eine himmelschreiende Ungerechtigkeit darstellt, schließlich hat articulatio genus eine ganze Reihe wichtiger Innovationen erst ermöglicht (etwa den Kontrapost zwischen Stand-und Spielbein in der klassischen Bildhauerei oder Iggy Pops Bühnenshows der späten 1970er-Jahre) und auch zwischenmenschlich (Heiratsantrag) sowie politisch (Willy Brandt) enorme Bedeutung. Nun wird dem Knie endlich die verdiente Aufmerksamkeit zuteil, wenngleich an unerwarteter Stelle, nämlich in den Teenager-Abteilungen von H&M, Bershka und Forever 21. Dort zählt die am Knie zerlöcherte Jeans schon seit zwei, drei Saisonen zum Standardrepertoire - und hat in dieser Zeit auch schon eine bemerkenswerte Evolution hingelegt. Aus der scheinbar unkontrollierten, reinen Zerrissenheit, die noch Materialermüdung vortäuschte, wurde ein klar als solches erkennbares Kunstprodukt, aus der Natur reine Kultur: Der Fehler wird nur noch zitiert und verziert, die Rissstellen mit geraden Kanten versäubert, mit Strass- und Glitzerapplikationen zu Zierleisten veredelt. Bisweilen wird der gerade erst freigelegte Körperteil auch schon wieder dem Blick entzogen, dem Knieloch eine weitere Stoffebene hinterlegt - ein paradoxes Lob des Fehlers, der zugleich keiner sein darf. Im Grunde ist das Jeansknieloch aber eine Art Gelenk zwischen Natur und Kultur, gleichermaßen Guckloch auf die Evolution (aufrechter Gang!) und Schnellkurs in Kulturgeschichte: Nach seiner Renaissance aus dem Geist der Grunge-Antike landete es umstandslos im Manierismus und steckt derzeit auch schon mitten im Rokoko. Als nächstes kommt, wenn nicht alles täuscht: das Biedermeier. Also: Cordhose, ungelocht.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.