Ballern! Rasen!! Prügeln!!! Yippie!!!!

GTA V: Das wichtigste Stück Popkultur 2013 im Test

Grand Theft Auto V. Das wichtigste Stück Popkultur 2013 im Test

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Nicht dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen: Ich lebe erstens in einem sozialen Umfeld (Bobo-grün-moralisch-prinzipientreu), in dem Autofahren prinzipiell als schändliche Aktivität gilt; und zweitens war mein Vater von Beruf Gendarm. Sozio-genetisch bin ich also halb Elektro-Fahrrad, halb StVO. Ich würde die 20-km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung in der Begegnungszone der neu gestalteten Wiener Mariahilfer Straße nicht einmal überschreiten, wenn ich in einem Testarossa 512 TR zu meiner Blinddarmnotoperation im AKH unterwegs wäre.

Anstelle eines Testarossa besitze ich ohnehin einen Familien-Van der Marke Opel mit der schwächstmöglichen Motorisierung, zusätzlich entschleunigt durch Dachträger und Beladung mit Familienmitgliedern und Freizeitgütern, sodass der PS-Wert pro Kilo nur noch knapp über dem eines Fiakers liegt.

Kurz: Ich bin eine Schnecke. Und zur Vervollständigung meines Fahrerprofils: Ich bin am Steuer außerdem eine weiche Semmel. Ich verzichte auf Vorrang, meide auf der Autobahn die dritte Spur und nehme Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer, sogar wenn sie ein Auto lenken, das doppelt so groß ist wie meines.

BAMM!
Aber, und das kommt jetzt vielleicht ein wenig überraschend: Ich fahre seit Kurzem gern Fußgänger nieder. Mal kurz über den Bordstein ausscheren und BAMM!, verschwindet so ein lächerlicher Zweibeiner unter dem Kühler und aus meinem Gesichtsfeld. Hören Sie ihn stöhnen? Ich schiebe zurück, da liegt er in einer Blutlache und windet sich. Was musste er auch blöd hier herumlatschen. Wird er wieder hochkommen? Egal, ich steige aufs Gas und rase weiter, bevor die Bullen kommen.

Doch, doch, das eben war jetzt auch ich, allerdings in einem anderen, für mich selbst noch ein wenig gewöhnungsbedürftigen Modus: als gewaltfröhlicher, mordlustiger, schwer bewaffneter Autodieb, der auf der Suche nach dem nächsten Verbrechen, das er begehen könnte, manchmal ein wenig Spaß braucht - und wenn es bloß ein bisschen Fußgängerschubsen ist.

Dieser Modus ist in der zivilisierten Welt illegal. Und in einer Welt der Begegnungs- und Erlaubniszonen, der permanenten Vermessung des CO2-Abdrucks, wo bereits die Inbetriebnahme eines Laubbläsers schwere Gewissensnöte verursacht, ist allein der Gedanke daran, dass Rasen und Ballern Spaß machen könnten, pervers. Und tabu.

Genau deshalb gibt es das Computerspiel "Grand Theft Auto V“. Diejenigen, die GTA V kennen, brauchen nicht weiterzulesen, schnappen besser ihre Konsole, legen noch rasch ein paar Leute um oder gehen in den Stripclub oder kaufen sich eine noch viel bessere Knarre.

Kultureller Impact
Sollten Sie hingegen Grand Theft Auto noch nie gespielt haben oder gar arge Vorbehalte gegenüber diesem Produkt hegen, dann verdauen Sie erst einmal diese Information: Die BBC nennt Grand Theft Auto in einer Reihe mit britischen Kulturexporten wie "William Shakespeare, Edward Elgar, The Beatles, James Bond“. Kein Witz. Zwar sei die Aufnahme eines Computerspiels in diese Liste "gewagt“, doch Grand Theft Auto habe sowohl auf die Spiele-Industrie als auch auf das Unterhaltungsbusiness insgesamt einen ungeheuren kulturellen Impact. Noch bevor die fünfte Version des mittlerweile legendären GTA im September auf den Markt kam, hatten die ersten vier Versionen des Computerspiels bereits mehr Stück verkauft als die Rockband The Who im Laufe ihrer Bandkarriere Alben.

Kulturgeschichtliche Relevanz
Ausgabe Nummer fünf brach erneut alle Rekorde: 800 Millionen Dollar brachte der Verkauf in den ersten 24 Stunden ein, die Milliarde war nach drei Tagen geknackt. GTA V ist damit der schnellste kommerzielle Erfolg, den die Entertainment-Industrie je eingefahren hat. Diese Nachricht ist nicht nur von ökonomischer, sondern auch von kulturgeschichtlicher Relevanz. Computerspiele haben das traditionelle Medium des Pop, das Musik-Album (samt Video-Clip), zum Soundtrack degradiert. Auf den Release von GTA V am 13. September warteten Millionen Fans weltweit so innig wie einst auf die Veröffentlichung eines neuen Albums der Rolling Stones oder von Madonna.

Welches Album haben Sie dieses Jahr herbeigesehnt? Eben. Und falls Sie nicht wussten, dass GTA V rauskommt, müssen Sie damit klarkommen, dass das Pop-Universum Sie irgendwann ausgespuckt hat.

"Blut und Eingeweide, intensive Gewalt"
Wie jedes anständige Pop-Ding brachte GTA die halbe Welt gegen sich auf. Das Spiel enthält laut Warnung einer US-Rating-Institution "Blut und Eingeweide, intensive Gewalt, Erwachsenenhumor, Nacktheit, rohe Sprache, explizite Sexszenen, Konsum von Drogen und Alkohol“. Hillary Clinton, damals Senatorin von New York, gab 2005 eigens eine Pressekonferenz, um vor dem Spiel zu warnen: Es stehle "die Unschuld unserer Kinder“ und mache den schwierigen Job, ein Elternteil zu sein, noch schwieriger.

Ich gestehe einer Mutter, die ihr Kind gemeinsam mit Bill Clinton großziehen musste, einiges an erzieherischer Kompetenz zu. Allerdings gehört Hillary Clinton einer Generation an, die nicht kapiert, dass Computerspiele kein Kinderkram sind. Die Zielgruppe von Grand Theft Auto sind Erwachsene. Natürlich wird das Spiel auch von Jüngeren konsumiert, aber das war auch bei Filmen wie "Rambo“ oder "Pulp Fiction“ so.

Die jeweilige Elterngeneration warnte die gefährdete Jugend vor Elvis Presleys sexuell verkommenem Hüftschwung, vor der Drogen-Verherrlichung durch die Stones und vor den Gewaltexzessen in Quentin Tarantinos Filmen. Jetzt warnt sie eben vor GTA. Sie muss das, damit die Kids etwas zum Zuwiderhandeln haben.

Und was kann GTA V wirklich?
Ich bin jetzt Michael oder Trevor oder Franklin, einer der drei Protagonisten, in deren Rollen ein Spieler schlüpfen kann - und diese jederzeit wechseln. Während ich Michael bin, setzen Trevor und Franklin ihren Weg fort, und später rufe ich sie auf, wo immer sie dann gerade sein werden. Jeder hat eine (anti-heldenhafte) Identität, eine (kriminelle) Vorgeschichte, ein (aktuelles) Smartphone und einen Haufen Probleme: einen Sohn, der Drogen konsumiert und Schulden hat; eine Ehefrau, die mit ihrem Yoga-Lehrer durchbrennt; eine Lap-Dance-Bedienstete, die er nicht anfassen darf; meistens aber: eine Mission, die darin besteht, mittels geklauter Autos und Waffen - von der Faustfeuerwaffe bis zum Kampfhubschrauber - einen Haufen Gegner aus dem Weg zu räumen und rechtzeitig zu türmen. Ich überfalle gern Banken.

Das klingt banal und ist es irgendwie auch. Ebenso banal wie der Text von "(I Can’t Get No) Satisfaction“. Aber der Plot ist komplex, die Handlungsstränge sind clever miteinander verwoben, und über allem liegt eine Atmosphäre aus Gefahr, Geschwindigkeit, Sex und - Witz. Die Darstellung der Welt - unserer Welt - ist durchgängig satirisch. Eine Steve-Jobs-artige Figur wird ebenso verulkt (und schließlich gesprengt) wie Castingshows, Computerspiele oder Avantgarde-Filme.

Böse-Buben-Spiel
GTA hat seine Konstanten: Es ist ein Böse-Buben-Spiel. Männer sind brutal, Frauen sind sexy oder Opfer oder beides. Gewalt, Geschwindigkeit und Sex sind die dramaturgischen Triebfedern. Ist das schlimm? Nur wenn man glaubt, diese Darstellung bestimme anschließend den Blick der Spieler auf die Realität, aber das ist Unsinn. Ich kann als Trevor Leute niedermähen, als Michael eine Stripperin erst vögeln und dann verprügeln und als Franklin mit dem Auto von einer Brücke auf die darunter liegende Straße stürzen, ohne dies im richtigen Leben auch nur im Entferntesten für erstrebenswert zu halten.

Das gilt nicht nur für einen moralisch (einigermaßen) gefestigten profil-Redakteur Mitte 40. Auch ein Teenager schnallt, dass Frauen, Waffen und Autos nur dann so umstandslos simpel zu kontrollieren sind, wenn sie von den Jungs des Spielentwicklungsunternehmens Rockstar North programmiert wurden und man sie mittels einer Spielkonsole und zwei Fingern auf einem Bildschirm dirigiert. Würde GTA seine mehrere hundert Millionen Konsumenten zu killenden Rasern machen, wäre im Verbreitungsgebiet des Spiels der Teufel los. Das Gegenteil ist der Fall: Die Mordrate sinkt, die Zahl der Verkehrstoten ebenso.

Und dennoch: Angesichts der Krise der Print-Branche ist es gut zu wissen, dass ich als Chef eines Drogenkartells verdammt gut wäre.