Die Welt an Almas Busen

In „Menschenkinder” zeigt André Heller ungewöhnliche Biografien

TV. In „Menschenkinder” zeigt André Heller ungewöhnliche Biografien

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Die Alma konnte weinen wie keine. Nie kleine Tränen, "na wirklich net“, immer gleich ganz große. Platsch! Platsch! Erich Rietenauer zeigt den Weg der Riesentropfen von Almas beeindruckendem Nasensockel: "Und dann war da gleich unten alles ganz nass, eine ganze Lache.“ Klein war rein prinzipiell eben nicht ihr Ding. Drei Mal hatte er sie heimlich beim Weinen belauscht, in jenen fast sechs Jahren, als er wie ein "Möbelstück, manchmal auch wie ein Maskottchen“ zum Menscheninventar ihres Hausstands gehörte: "Einmal war sie wild, die anderen Male nur traurig.“

Und schimpfen konnte sie, als sie ihn beim Spionieren ertappte: "Sonst hat sie immer Hochdeutsch gesprochen, aber wenn sie zornig war, ist sie auch richtig ordinär geworden“, erinnert sich Rietenauer. "Zum Werfel hat sie oft gesagt: "Was redest du jetzt schon wieder für einen Scheißdreck!“ Geküsst habe sie den "Franzl“ nie: "Er hat zu sehr aus dem Mund gestunken und schwarze Zähne gehabt. Er war ja Kettenraucher, ohne Zigaretten ist ihm nix eingefallen. Aber er war ihr hörig.“

Erich Rietenauer war sieben Jahre alt, als er im Frühjahr 1932 erstmals aus der bedrückenden Enge eines elf Quadratmeter großen Wohnkabinetts in Wien-Währing, in dem der Halbwaise mit der Mutter und dem Bruder hauste, in die Josef-Hoffmann-Villa auf der Hohen Warte in Döbling kam. Alma war gerade mit ihrem dritten Mann, dem Schriftsteller Franz Werfel, den Töchtern aus ihren vorangegangenen Ehen, Anna Mahler und Manon Gropius, sowie der "Schulli“, so der Kosename für Ida Gebauer, Almas Hausdame bis zu ihrem Tod 1964, in das 28-Zimmer-Prunkstück eingezogen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Erich Rietenauer noch nie auf einem Leintuch geschlafen, sondern nur auf Wellpappe ("Das war eine Wanzenhochburg“). Mit "fast satirischem Hass“ warf er die Viecher in der Früh immer in den Ofen. Seine Schulaufgaben machte er auf einer Kohlenkiste, weil für einen Tisch kein Platz war. Am Ofen stand immer die Mutter mit kreisenden Handbewegungen, weil sie alles Mögliche zu Knödeln verarbeitete. Bis zu jenem fatalen Dezembertag im Jahr 1931, als sie aus dem Fenster springen wollte. Er hatte sie gepackt und geschrien: "Mama, bitte, bitte bleib da, ich kann dich doch nicht mehr halten.“ Die Strickweste der Mutter dehnte sich bedrohlich, doch ehe sie reißen konnte, kam doch noch rechtzeitig Hilfe.

Wenige Tage vor dem Selbstmordversuch der Mutter war das Arbeiterkind zum Halbwaisen geworden. Die "Spezeln“ vor dem Wirtshaus hatten dem arbeitslosen Vater ein Fläschchen "zum Aufwärmen“, das mit dem Reinigungsmittel Lysol gefüllt war, in die Hand gedrückt. Ob als Streich oder in böser Absicht war nie herauszufinden.

Der Vater sollte das "Aufwärmen“ nicht überleben, er starb am folgenden Morgen einen qualvollen Tod im Krankenhaus. Die Polizei verdächtigte die Mutter, ihren Mann umgebracht zu haben. "Ich halt das nimma aus“, hatte sie gerufen, bevor sie zum Fenster stürzte. In seiner Verzweiflung rannt der kleine Erich zum Katecheten ein paar Gassen weiter, um zu bezeugen, dass das todbringende Lysol aus der Hand der Wirtshauskumpanen gestammt und die Polizei der Mama unrecht getan hatte.

Ein bisschen viel Schicksal für ein nur siebenjähriges Leben, das am 8. Dezember 1931 eine so magische Wendung nehmen sollte. Weil den sozialdemokratischen Gesundheitsreformer Julius Tandler der Anblick des bildhübschen Buben, an dessen Füße Schuhe in Größe 46 gebunden waren, so rührte, durfte er noch auf die an sich schon bis zum letzten Platz gefüllte Weihnachts-Wohltätigkeitsfeier der Gemeinde Wien, wo man bedürftige Kinder und ihre Eltern mit Guglhupf und kleinen Geschenken versorgte. Ausgelacht wurde er wegen des Charlie Chaplin-Gangs, denn er musste die Riesenschuhe von seinem Onkel Otto auftragen. "Des san lauter Trotteln“, tröstete ihn der Tandler, "kannst du a Gedicht? Weil die können kan’s.“ In dem Moment, als er zu deklamieren beginnen wollte, ging die Tür auf und eine märchenhafte Erscheinung betrat die Wärmehalle des Elends: "Es war mucksmäuschenstill, als da diese Frau eingetreten ist - in einem weißen Kleid, einem Hermelincape und mit einem Diadem am Kopf. Eigentlich wollt’s ja gleich wieder gehen. Da hat der Tandler g’stammelt: "Madame, Madame, bleiben S‘ doch da.“ Und plötzlich schaut die auf mein G’sicht und meine Schuh‘. Ich denk mir: Bumm, die frisst mich jetzt gleich. Und plötzlich packt sie mich und drückt mich ganz, ganz fest an ihren Busen. Von einem Büstenhalter war ja gar keine Red’. Mein Gott, war das schön. Dieser Duft, gar kein Mundgeruch, diese glatte Haut, die stahlblauen Augen - so nah, wie die vor mir war. Direkt kussbereit. Ich wollt nie wieder von dort fort. Irgendwann hab i aber keine Luft mehr kriegt, so fest hat’s mich druckt. Dann hat’s mich endlich loslassen und ich hab mir nur gedacht, jetzt haut’s mir gleich ane runter. Denn ich war so aufgeregt, dass ich auf ihrem Kleid einen Mordstrumm-Schweißfleck gemacht hab. Aber sie hat mit mir nur wie mit an Depperl geredet, dass ich jetzt das Paket nehmen soll mit den neuen Schuhen und die, die ich anhab, sofort wegschmeißen soll. Und weg war sie. Da hab ich dann den Namen Alma Mahler-Werfel zum ersten Mal gehört. Beim Heimgehen hab ich ihn mir immer wieder vorgesagt, dass ich ihn nicht vergess.“

Geniedompteuse
So direkt und anschaulich war die Aura der in Dutzenden Biografien verewigten Geniedompteuse, der Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, der Architekt Walter Gropius, der Dramatiker Gerhart Hauptmann und Franz Werfel oft bis zum Wahnsinn erlegen waren, noch nie beschrieben worden: "Ich habe nie wieder einen Menschen erlebt, der so mit seiner bloßen Erscheinung einen ganzen Saal zum Schweigen bringen konnte.“

Wuchtige Zärtlichkeit
Wie war ihr Duft? Auch über 80 Jahre später zögert Rietenauer keinen Augenblick: "Des war vom Balmain. Das hat sie sich extra machen lassen in Paris, das Parfüm …“ Zu einem solchen Austausch wuchtiger Zärtlichkeit sollte es übrigens später nie wieder mit der "Madame“, wie er und das Hauspersonal die Musen-Supermacht des 20. Jahrhunderts ansprachen, kommen: "Sie hat mich geduldet. Der Herr Moll (Almas Stiefvater, der Maler Carl Moll, Anm.), der hat mich gern g’habt. Die Molls haben ja im Nebenhaus gewohnt. Für den Werfel und die Manon war der "Burschi“, wie sie mich genannt haben, ja oft der einzige Ansprechpartner. Die waren oft sehr einsam, die Alma hat ja ständig ihren eigenen Zirkus veranstaltet.“

Seiner Neugierde und der Tatsache, dass er "der beste Schwarzfahrer von Wien“ war, verdankte er, dass er im März 1932 frech auf die Hohe Warte fuhr, "um sich die Villa von der Alma Mahler-Werfel, von der die ganze Stadt gesprochen hat, aus nächster Nähe anzuschauen“. "Jetzt schicken s‘ schon die Kinder zum Betteln rauf“, schnaubte Almas Stiefvater Carl Moll und schickte den Wachhund, einen Riesenschnauzer, auf den Kleinen los: "Doch der Harro hat mich abgeschleckt, als ob er mich schon 100 Jahr kennen tät. Da hat die Frau Moll, die Mutter von der Alma, gesagt, dass ich reinkommen soll.“

Rietenauer deutet auf den Spätbiedermeier-Tisch in seiner adretten Wohnung, auf dem er alte Fotos ausgebreitet hat: "Der hat dem Gustav Mahler gehört.“ Lange wartete der bis zu seiner Pension als Repro-Fotograf arbeitende Witwer, der seit zwölf Jahren "eine Liebhaberin“ hat, bis er seine Erlebnisse zu Papier brachte. Erst 2008 erschienen seine Erinnerungen "Alma, meine Liebe”, da war er schon 84 Jahre alt: "Des hat doch vorher niemanden interessiert, meine Familie schon gar nicht.“ Er erzählt sie noch immer aus dem Blickwinkel eines staunenden Kindes, diese Geschichten, in jener blumig-deftigen Sprache, die die Vorstadt atmet. Er war ein Kind voller Neugier, das per Zufall plötzlich in eine Welt katapultiert wurde, "in der lauter Wunder passiert sind“.

„Fett wie ein Radierer”
Seine Mutter fand sich irgendwann damit ab, dass ihr "Burschi“ nahezu seine ganze Freizeit da oben bei den "reichen, schönen Leut’“ verbrachte, außerdem liebte sie zunehmend den Tratsch, den ihr Sohn aus dem Märchenuniversum mitbrachte. Dass die Alma im Nachtkastl eine Flasche "Benedictine“ versteckt hatte und manchmal "fett wie ein Radierer“ war, aber trotzdem alle Mitbewerber unter den Tisch saufen konnte. Sie ihren "Zucker“ beharrlich verleugnete, weil sie "keine jüdische Krankheit“ haben wollte. Sie sich die Insulinspritzen von einem Arzt setzen ließ, den sie dabei als "Sie Mörder“ beschimpfte. Sie wunderbar und täglich Klavier spielte, aber nie Mahler, meist Debussy und am liebsten "Clair de lune“. Sie den Thomas Mann von ihm wegscheuchte, weil "sie schon ganz narrisch woarn ist, weil er mich so lang umarmt hat“: "Er hat gefunden, dass ich wie der Tadzio aus dem, Tod in Venedig‘ ausschaue. Ich hab’ aber immer nur Tarzan verstanden und mich nicht ausgekannt.“ Rietenauer erinnert sich weiter - an Gerhart Hauptmann, den sie "mein Dichterfürst“ nannte, und der sie bei der Begrüßung für den Geschmack seiner neben ihm stehenden Frau viel zu lang umarmte und dann ganz verzückt und "offensichtlich ang’soffen“ in eine Blumenvase stürzte; an die Alma in Breitenstein, ihrem Landsitz am Semmering, wo sie "die Literaturmannschaften, den Kuh, den Salten und den Friedell“ gegen Klatsch verköstigte. Gekocht habe sie nie, chauffiert habe sie immer das Faktotum "Schulli“, doch "das war nicht ihres - die Alma, das war ausschließlich Musik, Wahnsinn und die Liebe“. Ein 7000-Reichsmark-Angebot von Adolf Hitler für die Partitur der dritten Bruckner-Symphonie aus dem Mahler-Nachlass lehnte sie rigoros ab: "Ich mache keine Geschäfte mit einem, der die Bücher meines Mannes verbrennt.“

"Er war überbordend in seinem Erzählen“, sagt André Heller, dessen Mutter mit Manon Gropius befreundet war. "Der Titel seines Buchs, Alma, meine Liebe‘ ist irreführend. In Wahrheit hat er Alma Mahler verachtet, die in einem Privatuniversum aus Wirksamkeit und Welteroberung eingekapselt war und zu ihrer Tochter Manon eine erschütternde Beziehung hatte.“

Manon Gropius, "diese engelsgleiche Gazelle“, wie sie Elias Canetti beschrieb, starb am Ostermontag 1935 im Alter von 19 Jahren in der Döblinger Villa an den Folgen ihrer Kinderlähmung.

„Ein Tier in Schönbrunn”
"Ich wollte sie am liebsten vergiften“, ruft Rietenauer vor Hellers Kamera, "während die Manon im Todeskampf lag, ist die Alma mit der Schulli im Nebenzimmer gesessen und hat gesoffen. Statt am Sterbebett ihres Kindes zu sitzen, hat sie ein Riesentheater veranstaltet. Ich hab der Mutzi ihre Hand gehalten in ihren letzten Augenblicken. Immer hat sie sie nur allein gelassen, auch im Tod. Nur wenn Gäste gekommen sind, wurde sie vorgeführt. Auch als sie schon schwer an ihrer Kinderlähmung erkrankt und kein Fleisch mehr an ihren Beinen war, wurde sie ausgestellt wie ein Tier in Schönbrunn!“ Dem Begräbnis ihrer Tochter am Grinzinger Friedhof, einem gesellschaftlichen Ereignis erster Güte, blieb Alma fern: "Sie hasste Friedhöfe und alles, was mit dem Tod zusammenhing.“

Die Totenmaske von der "Mutzi“ hing 36 Jahre lang in seiner Wohnung in der Billrothstraße. Die Alma hatte sie im Gartenhaus der Villa einfach zurückgelassen: "Da habe ich die Frau Moll gebeten, dass ich sie mir nehmen darf. Die Mutzi war doch meine große Liebe. Ihre Halbschwester, die Anna, hat ihr gleich danach den Gips raufgepappt, damit sie den verklärten Ausdruck bewahren kann. “

Im Juni 1937 begann die Märchenwelt auf der Hohen Warte langsam zu versinken. Die Werfels, die im März 1938 endgültig emigrierten, trennten sich zuerst "von dem Unglückshaus“. Alma beschloss, sich mit einem dreitägigen Heurigenfest und den Worten: "Wien soll noch einmal sehen, mit wem es zu tun gehabt hat” aus der Villa zu verabschieden: "Des war eine Riesensauferei. Der Werfel ist gleich am ersten Tag so fett gewesen, dass er in den Goldfischteich geflogen ist. Vorher hat er aber noch, Ich bin ein stiller Zecher‘ gesungen. Am ersten Tag waren Barone, Kronprinzen und das gesamte Who‘s who da, dann ist jeder gekommen, der wollte.“

Im Laufe dieses Gelages "erspeanzelte“ er die Madame noch einmal, als sie sich in ihrem Ankleidezimmer umzog: "Büstenhalter hat sie noch immer keinen getragen. Aber der Busen, dieser wunderschöne Busen, an den sie mich bei der Weihnachtsfeier gedrückt hat und der für mich damals die Welt bedeutet hatte, ist zu Fallobst geworden. In nur sieben Jahren!“

Foto: Philipp Horak

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort