Singen und sterben

Komponist Christoph Willibald Gluck: Porträt eines lange Verkannten

Klassik. Vor 300 Jahren wurde der Komponist Gluck geboren. Porträt eines lange Verkannten

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Von Manuel Brug

Orpheus ist erschöpft. Zu oft hat er seine geliebte tote Gattin betrauert. Noch einmal lässt er seine Stimme anschwellen: „Euridice! Euridice!“ Orpheus wirft sich auf die Brust der leblos vor ihm liegenden Frau.
„Danke, das war’s“, erklingt eine Stimme aus dem Off auf Tschechisch. Leben erfüllt die Szene. Das Licht geht an, das Team platziert die unförmige Handkamera vorsichtig auf dem Boden. Feuerwehrmänner treten vor, schließlich gilt es, ein über 250 Jahre altes Musiktheater vor Schaden zu bewahren. Die leichtbekleidete Tote ist aufgesprungen, in klobige Isolierstiefel und Daunenjacke geschlüpft. Die Chormitglieder lassen Kaffee aus dem Automaten, und Orpheus kontrolliert die soeben gefilmte Szene auf einem Monitor. Bejun Mehta ist zufrieden.

Der US-Countertenor, der für seine packenden Auslegungen der einst von Kastraten gesungenen Barock-Partien gefeiert wird, agiert nicht nur als Darsteller, sondern auch als Produzent. Im einmaligen Ambiente des ehemals Fürstlich Schwarzenberg’schen Schlosstheaters in Böhmisch Krumau, jener Stadt im südlichen Tschechien, die seit 1992 als Kulturdenkmal auf der Liste des Unesco-Welterbes zu finden ist, wird aktuell nicht live gesungen und gestorben. Verstärkte Betriebsamkeit herrscht im ältesten noch erhaltenen Barocktheater der Welt deshalb, weil zum anbrechenden Gluck-Jahr 2014 „Orfeo ed Euridice“, das berühmteste Werk des Komponisten, mit viel Aufwand verfilmt wird.

Anfang Juli jährt sich der Geburtstag von Christoph Willibald päpstlicher Ritter von Gluck zum 300. Mal – wie 2014 ohnehin ein Jahr bedeutender Musikjubilare ist: Parallel zum Gluck-Jubiläum werden die historischen Jahrestage von Richard Strauss (150. Geburtstag), Jean-Philippe Rameau (250. Todestag) und Carl Philipp Emanuel Bach (300. Geburtstag) gefeiert. Wobei Gluck, was die schiere Zahl der Festakte betrifft, hohe Aufmerksamkeit erfahren dürfte: 191 Gluck-Aufführungen im Rahmen von 32 Produktionen in 28 Städten sind für die laufende Spielzeit vorgesehen; um die alle zwei Jahre in Nürnberg abgehaltenen Gluck-Festspiele kümmert sich die Internationale Gluck-Gesellschaft.

Kein Wunderkind
Nicht die schlechteste Bilanz eines Komponistenlebens, das der Vorklassik zugerechnet wird – jener Epoche, die zwischen den heute wieder gefeierten Barockkomponisten und Mozart als Beginn einer neuen Ära angesiedelt ist, wobei Glucks lange Zeit vernachlässigtes Gesamtwerk gewissermaßen als zentrales Scharnier zwischen Vorklassik und Klassik fungiert.
Gluck wurde 1714 im oberpfälzischen Berching als Spross einer Försterdynastie geboren und starb am 17. November 1787 in Wien. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er in Wien und Mailand – sein bewegter Lebenslauf weist ihn als einen frühen europäischen Komponisten aus. Reiste er zunächst im Gefolge seines väterlichen Dienstherrn Georg Christian Fürst von Lobkowitz, konnte sich Gluck bald als unabhängiger Künstler etablieren – der bis zur Anstellung in Wien freilich dorthin aufbrechen musste, wo Aufträge vergeben wurden. Glucks geschmeidige Musik wurde in Böhmen, Italien, Deutschland, Österreich, Dänemark und England goutiert, selbst in Frankreich, das andere Musiktheaterwege beschritten hatte.

Gluck war kein Wunderkind. Mit 27 trat er erstmals als Komponist ins Rampenlicht. Den Begriff „Reformoper“ hat Gluck nicht erfunden – er hat ihn aber gemeinsam mit dem Choreografen Gasparo Angiolini am nachhaltigsten propagiert. Gluck war früh der Überzeugung, das Musiktheater müsse erneuert werden – durch virtuose Kastratenexzesse waren die vom Wiener Libretto-Star Pietro Metastasio festgelegten Dacapo-Arienschemata in künstlerischem Stillstand versackt, die Ermüdungserscheinungen der Opera seria nicht zu übersehen. Gluck dagegen versuchte Handlung in abwechslungsreiche, den Chor einbeziehende Szenenkomplexe zusammenzufassen, auf die man als Komponist individuell – und nicht nur modellhaft – zu reagieren hatte.
Das musikalische Europa stand vor einem Umbruch. Gluck erwies sich als unfreiwilliger Prophet der künstlerischen Neuerungsbewegung, die ab 1760 rund 25 Jahre lang andauerte und stark durch die französische Tragédie lyrique geprägt wurde – diese mit italienischer Sinn- und Sanglichkeit jedoch zu verbinden wusste. Zu den schöpferischen Landmarken des Musiktheaterrevolutionärs gehört die 1762 in Wien uraufgeführte Oper „Orfeo ed Euridice“, die Gluck – nachdem er auf Wunsch der Habsburgerin Marie Antoinette nach Paris übergesiedelt war – 1774 überarbeitete, sowie die ebenfalls in der französischen Metropole entstandenen Opern „Iphigenie in Aulis“, „Iphigenie in Tauris“, „Alceste“ (Foto) und das bereits früher arrangierte Ballett „Don Juan“.

Das Jubiläumsjahr kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Glucks Werke im regulären Musiktheaterbetrieb nach wie vor selten gespielt werden – einzig Oper Nummer 30 in seinem 50 Opern umfassenden Werkverzeichnis ist nie aus den Spielplänen verschwunden: „Orfeo ed Euridice“, ursprünglich auf Italienisch für einen Kastraten komponiert, dann von Gluck für den Pariser Geschmack in Französisch für einen Tenor umgeschrieben, schließlich von Hector Berlioz im 19. Jahrhundert für Altstimme bearbeitet.

Selbst die Feiersaison verzeichnet lediglich acht unterschiedliche Gluck-Titel. Nur vier Bühnen mühten sich um originellere Gluck-Stücke – die Pariser Opéra mit „Alceste“ unter Marc Minkowski, die Niederländische Oper in Amsterdam mit einer von Barrie Kosky inszenierten „Armide“, das Salzburger Landestheater mit den Mozarts „Entführung“ vorbereitenden „Die Pilger von Mekka“ und die Oper Frankfurt mit der 1750 für Prag komponierten Seria „Ezio“.

Es passt da durchaus ins Bild, dass trotz Bejun Mehtas spürbarer Präsenz in Krumau der heimliche Star in dem schon bald im TV und auf DVD veröffentlichten „Orfeo“-Film kein Lebender ist, sondern die Barockbühne mit ihrer Originalausstattung von 1765. In Krumau werden Glucks Reformgedanken in authentischer Umgebung präsentiert.

Während auf der Straße Horden von Touristen vorbeiströmen, scheint im Theater der Geist des 18. Jahrhunderts wie in einer Zeitkapsel gefangen. In dem 200 Plätze fassenden Auditorium ist bis heute alles Illusion – einst lag die Bühne im trüben Schein der Wachskerzen, heute wird sie von elektrischem Flackerlicht erhellt, das den Eindruck von Märchenhaftigkeit noch verstärkt. Viel falscher Marmor an den Wänden, dazu ein Theaterhimmel, durch den gemalte Götter schweben. Auf der Szene selbst scheint sich ein Saal aus goldumwundenen kannelierten Säulen ins Unendliche zu weiten.

Holz, Gips, Farbe und Leinwand, billige Stoffe und ein wenig Glitzer: Dennoch erstanden auf der Krumauer Bühne Feenreiche und Meeresstürme, historische Städte und wuchernde Wälder. Theatergründer Joseph Adam von Schwarzenberg war Hofrat und Hofmeister bei Kaiserin Maria Theresia in Wien. Schwarzenberg hielt sich viel in der Hauptstadt auf, in der man damals Gluck noch spielte – seit 1754 amtierte der Komponist als kaiserlicher Kapellmeister. Im Sommer weilte man jedoch auf dem Stammschloss in Südböhmen, heute eine gute Autostunde von Linz entfernt. Maria Theresia war 16 Mal schwanger – was sich spürbar auf die Festaktivitäten bei Hofe auswirkte. Auch deshalb ließ sich Schwarzenberg seinen Theaterbetrieb fern von Wien immer mehr kosten.

In den Mauern des Barockjuwels wird Oper nicht nur in historischem Ambiente gefilmt. Bejun Mehta entlarvt als antiker Sänger Glucks Komposition als Theaterwunderwelt – und entlässt das Werk endlich in die Ungewissheit der Moderne. Als Orpheus schreitet er gegen Ende des Stücks durch kahle Gänge in die Zukunft. Seine Euridice bleibt nach Tod und Auferstehung dem künstlichen Prunk verhaftet. Fast scheint es, als strahlte das Theater nach der längst überfälligen Gluck-Adaption noch mehr.