„Ohne Stereotypen wären wir verloren”

Linguistin Ruth Wodak: „Ohne Stereotypen wären wir verloren”

Interview. Linguistin Ruth Wodak über Missverständnisse zwischen den Geschlechtern

Drucken

Schriftgröße

Interview: Sebastian Hofer

profil online: Sprechen Frauen anders als Männer? Und wenn ja: Wo liegen die Unterschiede?
Wodak: Es gibt tatsächlich Sprachen, etwa das Japanische, in denen Frauen und Männer verschiedene Anrede- oder Höflichkeitsformen verwenden, wo also wirklich lexikalische Unterschiede vorliegen. In unseren Breiten ist es weniger eine Frage des Lexikons als vielmehr des Sprachverhaltens in bestimmten Gesprächssituationen.

profil online: Welche Situationen sind das?
Wodak: Im direkten Gespräch unterbrechen Männer Frauen häufiger als umgekehrt, geben eher die Themen vor und reagieren seltener auf das, was ihr weibliches Gegenüber sagt. Aber nicht jede Unterbrechung ist gleich zu werten, es kommt auch auf die außerhalb des Gesprächs in der beruflichen Hierarchie bestehenden Machtverhältnisse an. Das muss nicht mit dem biologischen Geschlecht zusammenhängen. Die Forschung konzentriert sich heute auch weniger auf die Sprach-Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern als auf die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Sprachverhalten.

profil online: Zum Beispiel?
Wodak: Man stößt immer wieder auf die klassischen Stereotypen: Männer sind aggressiver, behaupten Fakten und äußern ihre Wünsche direkt, während Frauen Aufforderungen typischerweise in Fragen verkleiden. Aber manche Frauen legen auch durchaus männliches Sprachverhalten an den Tag und manche Männer durchaus weibliches. Es geht also eher um soziale Rollen und Rollenzuschreibungen und weniger um das biologische Geschlecht.

profil online: Werden diese Rollen bewusst eingenommen?
Wodak: In Studien zum Spracherwerb von Kindern konnte sehr klar beschrieben werden, wie diese Geschlechter- und Sprachrollen antrainiert werden. Selbst Eltern, die ihre Söhne und Töchter bewusst gleich erziehen, gestehen den Buben oft mehr Aktionsfreiheit zu und halten die Mädchen eher zur stillen Beschäftigung an. Diese Traditionen sind sehr hartnäckig. Und gerade die Art, wie Eltern mit Babys und Kleinkindern sprechen, hat sich als sehr prägend herausgestellt.

profil online: Sind Missverständnisse zwischen Männern und Frauen also frühkindlich programmiert?
Wodak: Selbst in der gleichen Sprache gibt es ein unterschiedliches Sprachverhalten, das von vielen Faktoren abhängt. Da kann es zu Missverständnissen kommen. Ein typisches Beispiel: Frauen sagen: Sollten wir nicht hier stehen bleiben? Männer antworten: Nein. Weil sie nicht verstehen, was eigentlich gemeint war, nämlich: Ich möchte hier stehen bleiben. Hier gibt es ein Missverständnis zwischen dem eher kooperative Verhalten der Frauen, das im frühkindlichen Alter anerzogen wird, und dem eher kompetitiven Verhalten der Männer. Aber auch hier muss nicht zwangsläufig das biologische Geschlecht den Ausschlag geben. Es kommt auf den Kontext an.

profil online: Auch der Mann spricht am Zeltfest anders als in der Oper.
Wodak: Genau. Wir sprechen von Communities of Practice, also Gesprächsgemeinschaften, an die sich sowohl Männer als auch Frauen situativ anpassen.

profil online: Nur an die Gesprächsgemeinschaft „Über Gefühle reden“ können sich Männer partout nicht anpassen.
Wodak: Ich habe mich in meiner Habilitationsschrift mit therapeutischer Kommunikation beschäftigt und konnte feststellen, dass auch diese klassische Annahme keineswegs so eindeutig ist. Oft handelt es sich um eine Frage der sozialen Schicht und/oder Bildung. Höher gebildete Personen neigen eher dazu, ihre Gefühle zu rationalisieren, während etwa reine Dialektsprecher – Männer wie Frauen – sich sehr stark emotional ausdrücken.

profil online: Wie kann man seine Vorurteile ausschalten, um nicht „typisch Mann“ zu sagen, wenn eigentlich „typisch Hochschulprofessor“ vorliegt?
Wodak: Wir tappen alle in diese Stereotypen, weil wir ohne sie in der Komplexität der Welt verloren wären. Aber in einem zweiten Schritt kann man schon versuchen, sich zurückzunehmen und zu fragen, womit ein Verhalten nun zusammenhängt: Mit dem biologischen Geschlecht? Mit einer Hierarchie? Oder geht es gar um einen Konflikt? Sprachverhalten symbolisiert immer etwas anderes.

profil online: Man muss nicht nur Linguistin sein, sondern auch Psychologin und Soziologin.
Wodak: Ein bisschen schon. Sprache transportiert soziale Bedeutungen. Man darf nicht nur die Spitze des Eisbergs betrachten.