ME/CFS: Generali streicht arbeitsunfähiger Frau die Versicherungszahlung
Für Anna ist der 8. Mai ein trauriger Jahrestag: Bis heute hätte sie die Generali Versicherung klagen können – aber das gesundheitliche und finanzielle Risiko waren der vormals selbstständigen Psychotherapeutin zu groß. „Ich hätte eine Rechtschutzversicherung abschließen sollen“, erzählt Anna am Telefon, sie klingt abgeklärt und resigniert. Die 45-jährige zögerte, ihren Fall öffentlich zu machen. „Alle haben mir davon abgeraten“, erzählt sie und auch, dass sie es gesundheitlich nicht geschafft hätte, sich vor ein paar Monaten an die Medien zu wenden. Die Versicherung hat die Klagsfrist bewusst ausgesessen, denkt sie.
2020 schloss sie in wortwörtlicher Vorsicht eine Berufsunfähigkeitsvorsorge-Versicherung ab. Rund 100 Euro monatlich zahlte die selbstständige Psychotherapeutin an die Generali, um abgesichert zu sein. In ihrem Fall: Eine gute Entscheidung. Im Dezember 2021 wurde Anna mit einem Erschöpfungssyndrom diagnostiziert, anfangs konnte sie überhaupt nicht mehr arbeiten. Ausgeprägte körperliche Erschöpfungszustände, die Belastungsintoleranz und auch neurologische Symptome zeigten sich zuerst, wurden jedoch der Burnout-Diagnose zugeordnet. Im Dezember 2023 folge die Diagnose der chronischen Krankheit ME/CFS. Bei ihr kam einiges zusammen: Neben der Selbstständigkeit war Anna auch durch die Trennung von ihrem Partner belastet, sie blieb als Alleinerzieherin mit zwei kleinen Kindern zurück. Auch deshalb wollte die Therapeutin sich mit der Versicherung absichern. Das wurde in ärztlichen Gutachten auch als zusätzliche Belastung vermerkt. Anfangs zahlte die Generali, Anna bekam monatlich um die 2.000 Euro aus der Versicherung ausgezahlt, denn sie war arbeitsunfähig. Im Mai 2024 hat die Generali die Auszahlung der Versicherung wegen eines Routine-Gutachtens aus dem April 2024 gestoppt. Das war für Anna auch ein körperlicher Schock, ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich infolge des Zahlungsstopps.
Ein großes Problem für ME/CFS-Erkrankte ist, dass sich ihr Zustand durch Anstrengung nachhaltig verschlechtern kann, im Fachjargon ist das die Post-exertional Malaise (PEM). Somit können auch klassische Therapien dazu führen, dass sich der Zustand für Erkrankte verschlechtert. In der Medizin findet aktuell ein Umdenken statt, immer mehr Ärztinnen und Ärzte bilden sich selbst in dem Bereich fort. Lange wurde ME/CFS als ein rein psychisches Leiden abgetan – auch wenn Betroffene schlichtweg nicht arbeitsfähig waren.
In Österreich leiden laut Schätzungen der MedUni Wien bis zu 80.000 Menschen an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Jede körperliche oder psychische Anstrengung kann bei den Betroffenen zu einer dauerhaften gesundheitlichen Zustandsverschlechterung führen. Was aber dazu führt, dass Institutionen umdenken müssen – auch nachträglich. Betroffene berichten darüber, dass auch die PVA, die Pensionsversicherungsanstalt, Berufsunfähigkeit bei jungen chronisch Kranken häufig ablehnt – profil berichtete über den Fall einer Betroffenen.
Für Anna ist die Situation etwas anders: Sie war als Psychotherapeutin selbstständig und somit für ihre eigene Absicherung verantwortlich. Bloß hatte sie die Rechnung ohne die Versicherung gemacht: Am 8. Mai 2024 teilte die Generali Versicherung Anna mit, dass die Voraussetzungen für eine Leistungszusage nicht mehr gegeben waren.
Grundlage für den Stopp der Leistung war ein Gutachten vom April 2024. Der Gutachter der Generali habe bloß 15 Minuten mit ihr gesprochen, erzählt Anna und bestätigt ihr Rechtsvertreter. Annas psychisches Zustandsbild habe sich verbessert und 2023 konnte sie wieder stundenweise arbeiten. In dem Gutachten wird auch zitiert, dass eine volle Berufstätigkeit nicht möglich sei, ebenso wird nicht negiert, dass ein normaler Berufsalltag nur unter Einhaltung strenger Pausen möglich sei. Ausgestellt wurde das Gutachten auch auf Basis alter Befunde von Anna aus dem Jahr 2023, deshalb legte sie nach dem Auszahlungsstopp der Versicherung auch neue Gesundheitsbefunde vor.
Welche Begutachtung zählt?
Die Generali stoppte die Auszahlung mit folgender Begründung: „Die vereinbarte Leistung aus der Berufsunfähigkeitsversicherung setzt gemäß Artikel 10.1 (...) voraus, dass Sie infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande sind, Ihre zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit auszuüben.“ Ab April 2024 zahlt Anna wieder Versicherungsbeitrag an die Generali. „Unzumutbar ist eine Einkommensminderung von 20 Prozent oder mehr gegenüber dem Bruttoeinkommen im zuletzt ausgeübten Beruf“, heißt es weiter.
32 Stunden pro Woche arbeitete Anna vor der Erkrankung. Sie war auch in der Ausbildung von Psychotherapeutinnen und Therapeuten tätig. Das alles ist heute nicht mehr möglich: Ihren Lehrauftrag legte sie zurück, sie kann, so die medizinischen Befunde sowie ein Sachverständigengutachten, höchstens fünf bis zehn Stunden pro Woche arbeiten – deutlich weniger als 50 Prozent der Arbeitszeit, die sie vor ihrer Krankheit abspulte.
Als Reaktion auf die Kündigung der Versicherung im Jahr 2024 legte Anna selbst medizinische Gutachten und ein Gutachten eines medizinisch zertifizierten Sachverständigen vor, die sie in Auftrag gegeben hatte und auch ein Leistungskalkül, das sie im April 2025 mit einem Anwaltsschreiben nachreichte. In den drei Dokumenten wird betont, dass eine „massiv gesteigerte Erschöpfbarkeit“ vorliegt und auch, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt. Gemessen wurde ihr Gesundheitszustand unter anderem auch nach den Kriterien der Berliner Charité, dem federführenden Krankenhaus im Bereich ME/CFS im deutschsprachigen Raum, nach dem sogenannten „Bell-Score“, einem Messinstrument, zum Erfassen der Schwere von Krankheiten und auch den „Kanadischen Kriterien für die Diagnose von ME/CFS“.
Bei der Generali werde höchster Wert auf eine „sorgfältige Prüfung und objektive Beurteilung“ gelegt, so der Versicherer gegenüber dem Sozialministerium in einem Schreiben, das profil vorliegt. Deshalb würden allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige mit der Erstellung von Gutachten beauftragt – auf die Frage, ob man demnach die von Anna beauftragten Befunde, das Gutachten und das Leistungskalkül als unobjektiv abtue, ging die Generali gegenüber profil nicht ein.
Auf eine Anfrage von profil zu dem Fall von Anna wiederholt die Generali, dass es ihr um eine sorgfältige und objektive Prüfung gehe. Warum die ärztlichen Befunde, sowie ein Gutachten und das Leistungskalkül nicht beachtet oder zu einer erneuten Prüfung des Falles führen, blieb unbeantwortet.
Geldmache mit Kranken?
Gegenüber dem Versicherer gab Anna zu, dass sie seit 2023 zwischen fünf und zehn Stunden pro Woche arbeiten kann und es eine Besserung ihres Gesundheitszustandes gab. Wird sie deshalb von der Generali nicht mehr unterstützt oder ist es die Diagnose ME/CFS? Als die Versicherung Annas Berufsunfähigkeit in Abrede stellte, bot sie ihr ein wenig hilfreiches Trostpflaster an, eine Leistung namens „Fit im Beruf“ an.
Die Assistenzleistung „Fit im Beruf“ wirkt präventiv für Leiden, die nichts mit der Diagnose von Anna zu tun haben. Sie hat weder eine Erkrankung der Wirbelsäule, des Herzens, einen Schlaganfall, Krebs, Depressionen, Diabetes oder Burnout. Für jemanden wie Anna, die ärztlich bestätigt berufsunfähig ist, kommen diese Hilfen zu spät und könnten unter Umständen sogar zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen.
Anna lehnte ab. Sie kann nur stark eingeschränkt arbeiten und bekommt keine Berufsunfähigkeitsversicherung mehr. Und auch für Einspruch ist es jetzt zu spät – Obwohl sie sich genau für diesen Fall versichert hat, bekommt Anna nichts mehr.