Turm und Drang

Menschen des Jahres: Magnus Carlsen stolperte nicht über seine Brettgeschichten

Menschen des Jahres 2013. Magnus Carlsen stolperte nicht über seine Brettgeschichten

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Ein 23-jähriger Norweger mit Babyface sitzt einem 43-jährigen Inder mit Buchhalterausstrahlung im Ballsaal eines Luxushotels in Chennai, Indien, gegenüber. Beide grübeln mit versteinerter Miene vor sich hin. Sie machen das vier, fünf, sechs Stunden pro Tag, zehn Tage lang. Am Ende verlässt der Inder geknickt den Tisch, der Norweger bleibt noch ein paar Minuten stehen und grinst.

Spektakuläre Medienereignisse sehen anders aus. Und doch erreichten die Zugriffsraten auf Online-Videos und Live-Ticker von der Schach-WM zwischen Magnus Carlsen und Viswanathan Anand Mitte November Dimensionen, mit denen auch Markus Lanz mittlerweile ganz gut leben könnte. Selbst in schachfernen Umgebungen machten Begriffe wie "Berliner Verteidigung“ und "Ponziani-Eröffnung“ die Runde, wurden die Finessen des "Turmendspiels“ und die Varianten der "Spanischen Partie“ erläutert: weil diese Schach-WM, die der junge Herausforderer nach zehn Partien für sich entschied, zwar keine Nervenschlacht war wie der Endloskampf Karpow gegen Kasparow 1984/85, kein hysterischer Showdown wie Fischer gegen Spasski 1972 - und trotzdem eine Sensation. Das lag vor allem am jungen Herausforderer, von dem der Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik sagt: "Carlsen ist nicht Gott. Er ist nahe dran, aber Gott ist er nicht.“

Vor allem aber ist er nicht das, was man sich unter einem Schachweltmeister vorstellt. Das ehemalige Wunderkind (Großmeister mit 15, Weltranglisten-Erster mit 19) spielt Schach wie Marko Arnautoviæ Fußball, nur dass bei Carlsen hinter dem Gelangweilt-Schauen, Überheblich-Tun und Immer-den-kompliziertesten-Trick-Probieren mehr zählbare Erfolge stehen (und dass er sich von Friseuren, Tätowierern und Sportautohändlern fernhält). Das Grundprinzip bleibt dasselbe: Talent vor Disziplin. Carlsen bereitet sich auf Schachturniere nicht mit Brettanalysen vor, sondern mit Schlafen, Basketball, PlayStation und der flapsigen Nichtbeantwortung von Journalistenfragen. Der adrette Norweger, im Nebenerwerb Model für die Jeansmarke G-Star, schwimmt nicht brav im Mainstream der Großmeister mit, die sich der Dominanz der Schach-Computer gebeugt haben und mittlerweile selbst wie welche agieren. "Es ist, wie gegen jemanden zu spielen, der extrem bescheuert ist und dich trotzdem schlägt“, sagt Carlsen über den Kampf gegen Maschinen. Für ihn ist das Spiel der Könige eines zwischen zwei Menschen, mit Körpern, die müde werden, und Geistern, die anders denken als Schach-Roboter. Er vertraut auf uneindeutige Stellungen und seinen längeren Atem. Irgendwas wird schon passieren, je überraschender, umso besser. Magnus Carlsen denkt nicht nur schwarz-weiß, sondern grau, in seinen besten Partien sogar bunt. Das sieht im Live-Ticker zwar nicht besonders faszinierend aus, aber man muss schon ein Computer sein, um es nicht spektakulär zu finden.

Die Menschen des Jahres 2013:

# Angela Merkel hielt den deutschen Haushalt sauber.

# Frank Stronach sorgte für Erheiterung

# Maria Fekter quasselte sich ins politische Out

# Marcel Hirscher bewies wieder einmal Zug zum Tor

# Matthias Strolz beflügelte den Wahlkampf mit Heilsleere

# Miley Cyrus wurde erwachsen. Oder auch nicht

# Monika Lindner begab sich ungeniert in die Politik

# Marcel Koller spielte den Boulevard schwindlig

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.