Alfred Engleder bei seiner Verhaftung im Juni 1957
True Crime

Mördergeschichten aus Wien: Drah di net um!

Das Buch „Tatort Wien“ rekonstruiert – anhand alter Pressebilder – berüchtigte Mordfälle der Nachkriegsjahre. Und schreibt zugleich eine faszinierende Nebengeschichte der Zweiten Republik.

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Am Anfang war die Kiste. Sie ist aus Holz und auf der Vorderseite beschriftet. „MORD – INLAND“ steht da, in schräg gestellten Großbuchstaben. Die Kiste steht in einem Fotoarchiv in einer Seitengasse zur Döblinger Hauptstraße, sie stammt aus dem Nachlass der einst wichtigsten österreichischen Presse-Bild-Agentur Votava, nach 1945 jahrzehntelang Hauptlieferantin für die Wiener Tageszeitungen und Magazine. Kein Ereignis, keine Sensation, die Votava nicht im Programm hatte, von „Atom“ über „Skispringen“ bis „Waldheim“ gehen die Schlagworte auf den rund 1000 Holzkisten, die heute in jenem Archiv lagern – die Geschichte der Zweiten Republik als Bilderreigen, auf wellig gewordenen Fotos, Millionen von Dias und Negativen, durchwegs schwarz-weiß und auf der Rückseite umso blumiger beschrieben.

Ein Griff in die Kiste „MORD – INLAND“ fördert schnell Unfassbares zutage, das aber in jener Zeit wohl auch Alltagsgeschichte war, Fälle wie den von Adrienne Eckhardt, der „Mörderin mit dem Engelsgesicht“, auch – nach ihrer Tatwaffe – bekannt als „Fleischwolfmörderin“:

In den Nachtstunden des 23. November 1952 entdeckt ein Streifenpolizist in einem Ladengeschäft in der Alser Straße die schrecklich entstellte Leiche des 44-jährigen Delikatessenhändlers Johann Arthold: Schädel eingeschlagen, Hals aufgeschnitten, Blutlache bis auf die Straße heraus. Arthold, Bauernsohn aus Prinzendorf, ist im Schleichhandel der Nachkriegsjahre (als „Cadbury-König“) zu erheblichem Reichtum gekommen, hat diesen aber auch rasant wieder verprasst. Den Abend vor seiner Ermordung hat Arthold mit einem unbekannten Fräulein beim Heurigen Maly in Grinzing verbracht, das bald ausgeforscht werden kann: Adrienne Eckhardt, 23, Kinderpflegerin und nebenberufliche Animierdame im Nachtlokal „Filmhof“ in der Neubaugasse, gibt nach mehrtägiger Befragung ein Geständnis zu Protokoll. Der Mord an Arthold sei eine Rache an dem Mann gewesen, der sie als junges Mädchen einst zu „widernatürlichen Handlungen“ überreden wollte. Der Prozess gegen die „Mörderin mit dem Engelsgesicht“ im März 1953 wird zu einem sagenhaften Medienspektakel, bei dem auch der präparierte Schädel des Opfers präsentiert wird und in dem sich herausstellt, dass die Beschuldigte im fünften Monat schwanger ist (von einem mutmaßlichen Kinderschänder). Im Lauf des Prozesses widerruft Eckhardt ihr Geständnis und beschuldigt einen italienischen Morphiumhändler namens Constantin Bertini; trotzdem wird sie am 25. März 1953 verurteilt: lebenslänglich, schwerer Kerker, hartes Lager alle drei Monate und Isolationshaft am Jahrestag des Verbrechens.

Erzählt wird Eckhardts Geschichte – wesentlich detaillierter als hier skizziert – in dem Buch „Tatort Wien“. Der Autor und Journalist Clemens Marschall rekonstruiert darin eine Reihe spektakulärer Mordfälle aus der österreichischen Nachkriegszeit. Marschalls True-Crime-Storys haben ihre Wurzeln allesamt in den Holzkisten des Votava-Archivs (heute Teil der Sammlung Brandstätter Images), die ein bizarr alltägliches Drama erschließen: Diese Bilder zeigen Tatorte, an denen die Opfer noch in ihrem Blut liegen, oder auch die unmittelbare Verhaftung der Täter; stets Polizeibeamte, meistens Schaulustige (sehr oft mit Hut und Einkaufssackerl), und immer ein Österreich, das es so nicht mehr gibt: ein schwarz-weiß gefärbtes, in Wirklichkeit aber wohl pastellgraues Land, ein Ort der handgestrickten Polizeiarbeit, des vordigitalen Ermittelns, des schnauzbarttragenden Revierinspektors, der durchaus an den Herrn Major Kottan erinnert. Die Morde, von denen Marschall berichtet, sind freilich alle real, wenn auch zum Teil unfassbar alltäglich. So wie der des „Gasmannmörders“ Harald Sassak.

Geboren am 28. Juni 1947 in Oberwart, wächst Harald Sassak in einem Zinshaus in Meidling auf, absolviert eine Installateurlehre und findet danach Arbeit als Altenpfleger im Lainzer Krankenhaus, wo auch seine Mutter tätig ist. Zeitgenossen beschreiben ihn als fleißig und umgänglich, ab dem Jahr 1969 ändern sich sein Wesen und Lebenswandel aber radikal. Sassak bricht den Kontakt zu seiner Familie weitgehend ab, verliert seinen Job, behält keinen der folgenden sehr lange und verbringt dafür immer mehr Zeit beim Branntweiner, wo seine Tagesration bald zehn bis zwölf Viertel Wein und sechs Bier beträgt. Zur Bezahlung der Zeche verfällt Sassak auf einen Trick: Er klingelt bei älteren alleinstehenden Damen unter dem Vorwand, den Gaszähler abzulesen, und entwendet dabei Schmuck und Bargeld. Wird er ertappt, schreckt er auch vor brutalster Gewalt nicht zurück. Nach seiner Festnahme am 13. Februar 1972 gesteht Sassak fünf Überfälle mit Todesfolge, ein weiterer Mord wird ihm außerdem nachgewiesen. Der Gerichtssachverständige Heinrich Gross (der ehemalige NS-Arzt, dem viele Jahre später die Beteiligung an sogenannten „Euthanasie“-Morden von Kindern nachgewiesen wurde) bescheinigt dem von ihm so bezeichneten „hässlichen Wiener“ Sassak trotz dessen Alkoholkrankheit, die dieser als Minderungsgrund vorbringt, die „volle Zurechnungsfähigkeit“. Nach 39 Jahren in der Justizanstalt Stein – wo er als pflegeleichter Häftling gilt – wird Harald Sassak 2013 aus der Haft entlassen und stirbt wenig später an einer langjährigen Krankheit in einem Pflegeheim in Weitra.

„Das sind echte Zeitkapseln“, sagt Clemens Marschall über die Votava-Archivkisten, die seine Recherche begründeten (nach einer Idee des Verlags). „Damit lassen sich nicht nur Kriminalfälle nachzeichnen, man kann Zeitgeschichte abbilden, wie man sie sonst nirgends so vorfindet.“ Marschall erzählt in seinen Mörderstorys immer auch die historischen Fundamente und Tangenten des Kriminellen mit, den Schleichhandel der Nachkriegszeit, das Elend und die Einsamkeit in den Zinshäusern, das schrille Durch- und Nebeneinander der gesellschaftlichen Schichten. Marschall recherchierte auch im Milieu der Altwiener Unterwelt, bei Bauchstich-Cafétiers und Praterzuhältern, milieukundigen Privatdetektiven und Strafverteidigern, in den Jahrbüchern des Wiener Sicherheitsbüros sowie in zeitgenössischen Revolverblättern, die durchaus detailliert über Mord und Totschlag berichteten, gern auch mit vollem Namen und Adressen von Opfern, Angehörigen und Tatverdächtigen.

Bilder aus dem Votava-Archiv

Diese Fotos wurden in einer heute undenkbaren Distanzlosigkeit hergestellt von Pressefotografen, die durch frische Tatorte spazierten, mit der Polizei per Du und teils schon vor Ort waren, bevor noch überhaupt ein Schuss gefallen war.

Rückgrat und Fleisch von „Tatort Wien“ sind aber die Fotos, mit denen diese Fälle dokumentiert wurden, in einer heute undenkbaren Distanzlosigkeit hergestellt von Pressefotografen, die durch frische Tatorte spazierten, mit der Polizei per Du und teils schon vor Ort waren, bevor noch überhaupt ein Schuss gefallen war. So wie der legendäre Otto Mang, der am „Tatort Wien“ vom Dokumentaristen bisweilen zum Nebendarsteller avancierte:

13. Juni 1973, in den frühen Morgenstunden: Auf der Südautobahn bei Tribuswinkel wird ein riesiger Explosionskrater entdeckt, rundherum Knochensplitter und Leichenteile, insgesamt 400 Stück mit einem Gesamtgewicht von zwölf Kilogramm. Bei der Tatortaufnahme ist als Erster der bekannte Fotoreporter Otto Mang zugegen. Die Identifikation des Opfers ist nicht einfach, aber sie gelingt: Es handelt sich um Richard Dvorak, „30 Jahre, Familienvater, Gemeindebediensteter im Wiener Rathaus, Waffennarr, Sprengmeister, Karatekämpfer, wohnhaft bei seiner Mutter in der Mollardgasse“ – und eng befreundet mit dem 23-jährigen Maschinenbauingenieur Ernst Dostal. Bei dessen Einvernahme in der Rennwegkaserne am 22. Juni kommt es zum Eklat, Dostal zieht zwei Revolver und schießt vier Beamte nieder, weitere Schüsse verfehlen den ebenfalls anwesenden Otto Mang. Dostal kann entkommen, gleichzeitig taucht auch sein Vater Robert ab. Beamte machen auf einem Bauernhof im Besitz der Dostals – die selbst in einer Villa in Tullnerbach wohnen – in Ober-Grafendorf bei St. Pölten einen grusligen Fund: „Im Innenhof gab es ein professionelles Verlies mit Gefängnistür und Essensklappe, eine schalldichte Folterkammer mit zahlreichen Werkzeugen und Streckbetten. Weiters fanden sie ein riesiges Waffenarsenal, eine zerschossene hölzerne Menschenfigur für Schießübungen, Unmengen von leeren Patronenhülsen – und Sprengstoff.“ Dostal Junior erschießt auf seiner Flucht in Groß-Enzersdorf das Ehepaar Viktor und Johanna Steiger und versucht – während die Polizei die größte Personenfahndung in ihrer Geschichte durchführt – per Zeitungsannonce im „Kurier“ mit seinem Vater in Kontakt zu treten. Diese Spur führt die Behörden zu einem Landhaus in Altlengbach, wo Ernst Dostal von der Polizei gestellt wird und nach einem Schusswechsel stirbt. Recherchen ergeben, dass er offenbar mit seinem Freund Dvorak Entführungen geplant und diesen, als er kalte Füße bekam, kurzerhand erschossen hat. Sein Vater, womöglich ebenfalls Mitwisser, flüchtet über die Schweiz nach Deutschland und begeht in einem Hotelzimmer in Lüneburg Selbstmord.

„Es war eine andere Welt“, sagt Marschall über das Biotop, in dem „Tatort Wien“ spielt: „Dieses Wien der 1960er-Jahre war ein Ort, der uns heute sehr fremd erscheint. Es war in manchen Bezirken für viele Menschen nicht besonders unüblich, Schusswaffen zu verwenden, davon waren nach dem Weltkrieg ja auch noch viele im Umlauf.“ Peter Patzaks erster, lakonisch brutaler „Kottan“ aus dem Jahr 1976, die Episode „Hartlgasse 16A“ – „ja, das traf diese Stimmung schon sehr gut“. Es war Marschall aber auch ein Anliegen, hinter eine sich verfestigende Kriminalfolklore zu blicken und durchaus nüchtern zu beschreiben, welche Alkohol- und Gewaltexzesse, welches Elend hier stattfanden. Zum Beispiel in der folgenden unheimlich-tragischen Geschichte.

Dieses Wien der 1960er-Jahre war ein Ort, der uns heute sehr fremd erscheint. Es war eine andere Welt.

Clemens Marschall

Autor von "Tatort Wien"

Alltag in Wien, Anfang Jänner 1960: „Eine Pensionistin, bekannt als Müllstierlerin, macht an einem Montagvormittag ihre übliche Runde und sucht im Abfall nach Verwertbarem, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. In einem Mistkübel an der Ecke Lange Gasse/Florianigasse im 8. Bezirk findet sie Knochen mit Fleischresten.“ Die vermeintlichen Rinderknochen erweisen sich als Ober- und Unterschenkelknochen einer jungen Frau. Eine rasch eingeleitete Suche fördert im Hof und in der Waschküche des Hauses Florianigasse 17 weitere Leichenteile zutage, einige davon gekocht und verbrannt. Die Tote ist die 18-jährige Sportstudentin und Versicherungsvertreterin Ilse Moschner; am Tag ihres Todes ist sie zum Prämienkassieren beim Hausmeister Johann Rogatsch gefahren. Dieser ist schnell tatverdächtig. Geboren in Kärnten, aufgewachsen in verschiedenen Erziehungsheimen und als Knecht auf Bauernhöfen, als Tierquäler und Choleriker bekannt, langes Strafregister. Die Bevölkerung forderte angesichts der grauenhaften Umstände die Todesstrafe, die Politik nimmt den Fall zum Anlass für eine neue Debatte über Strafrechtsverschärfungen. Am 30. Juni 1961 wird Rogatsch zu lebenslangem, schweren Kerker, wöchentlichem Fasttag und hartem Lager, sowie am 8. jeden Monats (dem Tag der Ermordung Ilona Moschners) Dunkelhaft verurteilt. Er kommt in eine Sonderabteilung der Justizanstalt Stein, wo er am 15. Jänner 1974 von einem Mitgefangenen, dem zweifachen Mörder und ehemaligen Polizisten Ernst Karl, erwürgt wird (der zu Psychosen neigende Karl stirbt 2001, ebenfalls in Stein, fixiert in einem zu dem Zeitpunkt längst verbotenen Gurtenbett).

„Tatort Wien“ enthält unter der Oberfläche auch eine Geschichte der Strafjustiz, handelt immer wieder von der zunächst ignorierten, dann überbetonten psychologischen Ursachenforschung in den frühkindlichen Leidensgeschichten vieler dieser Täter; aber auch von den Reformen des Justizministers Christian Broda, die politisch hochumstritten waren und auch anhand sensationeller Mordfälle durchexerziert wurden. Das war aber auch schon Jahre vor Broda üblich:

Ilona Faber, 21, besucht am 14. April 1958 im Schwarzenbergkino eine Vorstellung des Elvis-Films „Gold aus heißer Kehle“. Auf dem Heimweg in die Argentinierstraße wird sie überfallen, hinter dem „Russendenkmal“ erwürgt und sexuell missbraucht, am nächsten Tag halb vergraben aufgefunden. Der Fall Faber ist eines der ersten im noch neuen Medium Fernsehen ausgebreiteten Verbrechen; wohl auch, weil das Opfer die Tochter eines prominenten Ministerialbeamten ist, seinerseits ein enger Vertrauter des langjährigen Handelsministers Fritz Bock, der prompt eine Verschärfung des Strafrechts fordert. An der Tätersuche beteiligt sich nicht nur die Polizei, sondern eine Armada an Hobbydetektiven und Teilzeitschnüfflern. Vermeintliche Spuren führen zu einem Salon in der Prinz-Eugen-Straße, in dem Orgien mit jungen Mädchen stattfinden sollen, aber auch ins Milieu der Halbstarken, die bei jenem Elvis-Film zahlreich zugegen waren. Angeklagt wird schließlich der Obdachlose Johann Gassner, 30, doch der Indizienprozess gegen diesen endet im Zweifel mit einem Freispruch.

Archivzeichen „MORD – INLAND“ – ungelöst.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.