Risswunden

Mutationen der Laufbilder: das Kino der Zukunft

Debatte. Mutationen der Laufbilder: das Kino der Zukunft

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Was im Ozean des Digitalen abtaucht, geht leicht verloren. Wer heute Filme sieht (oder zu sehen glaubt), kriegt es in aller Regel mit digitalen Datenströmen zu tun - ob elektronisch projiziert im Multiplex, im HD-TV oder auf den mobilen Bildschirmen des täglichen Gebrauchs. Auch all jene, die längst nicht mehr ins Kino gehen, sehen sich nicht nur von den allgegenwärtigen Handy- und Nachrichtenbilddokumenten umgeben, sondern auch von inszenierten Laufbildern, also im weiteren Sinn von "Filmen“- und dies beileibe nicht nur im Fernsehen. Die vielen Bewegtbild-Arenen reichen von YouTube und Online-Streaming-Diensten wie Netflix über das Regietheater und die Bildende Kunst bis zu mächtigen IMAX-Screens und der Analogfilm-Traditionenpflege in den Kinematheken. Die Kino-Avantgarde hat die kommende Flut der Bilder schon in den Sixties geahnt und inszeniert: Der US-Künstler Stan Vanderbeek etwa feierte in seinen Arbeiten bereits um 1965 die überfordernde Simultaneität der visuellen Wissensbrocken, wie sie einem heute vom Internet um die Ohren geschlagen werden.

Epochenbruch
Ein Riss geht durch das Kino. Der Epochenbruch, der ab Mitte der 1980er-Jahre (und seit der Jahrtausendwende intensiviert) vom Fotografischen ins Digitale führte, ist vollzogen. Die Orte, an denen noch analoge Filme projiziert werden, sind entweder Kino-Auslaufmodelle oder Museen. Allenfalls eine Handvoll avantgardistisch gestimmter Kunstschaffender arbeitet heute noch mit fotografischem Film. Die High-Definition-Bilder, die mittlerweile jedes bessere Smartphone produzieren kann, herrschen praktisch hegemonial.

Was ist das Kino?
Der postfotografische Film braucht weder Schauplätze noch Kulissen, nicht einmal mehr Kameras. Der New Yorker Kritiker Jim Hoberman spricht sogar davon, dass sich die Geschichte der motion pictures unversehens in eine Geschichte des Animationsfilms verwandelt habe. Filme seien zu einem Subgenre der Malerei geworden, variiert der Mediendenker Lev Manovich. Während der ersten 100 Jahre der Filmgeschichte lautete die berühmte Grundsatzfrage der Theoretiker: Was ist das Kino? Heute müsste man anders fragen, nämlich: Wo ist das Kino? Seine neue Durchlässigkeit hin zu alternativen Räumen und Medien hat eine Art "Over-Expanded Cinema“ erstehen lassen, das überall und nirgends existiert - als Phantom in den so betont "filmischen“ Bühneninszenierungen von René Pollesch, Katie Mitchell oder Stefan Pucher, als historische Assoziation in den Installationen etwa des Künstlers Douglas Gordon, aber auch als digitaler Wiedergänger in den Prestigekanälen des Pay-TV, etwa in der HBO-Miniserie "Mildred Pierce“ (2011), mit der Regisseur Todd Haynes virtuos auf ein Joan-Crawford-Melodram des Jahres 1945 anspielte.

„Nichts hört einfach auf”
Das Kino, tausendfach totgesagt, scheint über ein Leben nach dem Tod zu verfügen. Alexander Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums, kommentiert die aktuellen Transformationen jenes Mediums, das seine Institution in ihrer eigentlichen, analogen Form ausstellt, so: "Nichts hört einfach auf - und kein Medium kommt aus dem Nichts. Medien unterliegen permanent historischen Verwandlungen, es sind andauernd ‚Re-Medialisierungen‘ im Gange.“ Horwath begreift die Dominanz des Digitalen als Chance: "Man könnte auch behaupten, dass der Film als historisches Medium nun endlich klarer wird. Indem die Mehrzahl der Menschen nicht mehr ins Kino geht, könnte das spezifische Profil von Film und Kino in all seinen Besonderheiten deutlicher hervortreten - als eine konkrete ästhetisch-technisch-soziale Konstellation. Ihre entscheidenden Aspekte unterscheiden sich immer stärker von den dominanten Formen, in denen man Bewegtbilder heute nutzt, ob sie im Netz laufen, als TV-Serien in epischer Bündelung konsumiert werden oder über mobile Schirme flackern.“

Der US-Billig-Bilderlieferant Netflix, in Österreich (noch) nicht verfügbar, hat bereits jetzt mehr Zuschauer als jeder Fernsehsender. Mit Film oder Kino habe das alles kaum noch zu tun, so Horwath: "Digitalen Film gibt es nicht. Film ist der Name eines analogen Mediums, daran ändert auch der Umstand nichts, dass 99 Prozent aller Menschen zu jedem bewegten Bild ‚Film‘ sagen. Es genügt allerdings, den Buchstaben M dieses Begriffs durch ein E zu ersetzen, dann liegt man wieder richtig.“

Wie sich das Kino zwischen Filmen und Files in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird, ist derzeit kaum zu prognostizieren. An apokalyptischen Visionen herrscht jedoch kein Mangel. Der Regisseur und Theoretiker Michael Palm, der gerade an einem Essayfilm zum Thema arbeitet, greift in der Beschreibung dieser Arbeit zu starken Worten. Es drohe ein "massiver Verlust“ unseres Bildergedächtnisses. Auf dem Spiel stehe "die Erhaltung des audiovisuellen Erbes in den Film- und Fernseharchiven, die Bestandssicherung, Restaurierung und Bewahrung von Laufbildern. Stehen die Archive der Welt am Beginn eines dunklen Zeitalters?“ Die Datenmengen seien ins Unermessliche gestiegen, setzt Palm im profil-Gespräch nach, und die Systeme, die man brauche, um diese Daten auszulesen, "wechseln durchschnittlich alle vier bis fünf Jahre“. Im Falle des Konkurses auch nur eines der Unternehmen, die diese Serversysteme herstellen, sei kaum noch an die Bilder zu kommen.

Ihn interessiere die Fantasie vom dunklen Zeitalter, sagt Palm. "Ich teile diese medienapokalyptische Furcht nicht, aber ich kann sie verstehen. Denn die Immaterialität von Daten erhalten zu müssen kann einen schon nervös machen.“ Man habe angefangen, die Bestände zu digitalisieren und auf gigantischen Serversystemen abzuspeichern. Aber: "Wie lange werden die Daten in dieser digitalen Arche Noah lesbar bleiben?“

Die Demokratisierung des Films - jeder kann heute Bewegtbilder herstellen - hat einen Preis: radikale Unübersichtlichkeit. "Aber wenn wir das Internet, das uns alle zu Sendern macht, weiterhin nicht ablehnen wollen, müssen wir uns auch mit seinem Überschuss abfinden“, so Palm.

Tatsächlich ist die langfristige Sicherung digitaler Produktionen alles andere als gewiss. Nicht einmal Archivierungsexperten wissen über die Lebensdauer der Daten und ihrer Speichermedien Bescheid. "Es ist vollkommen unklar, ob in 20 oder 50 Jahren all das, was jetzt auf YouTube steht, in den Kunsthallen über die Bildschirme flimmert und in den Kinos läuft, noch existieren wird, was davon bewahrt werden kann“, gibt Horwath zu bedenken: "Die Aufbewahrungslogik dazu wird erst entwickelt.“ Selbst Hollywoods große Studios scheinen der elektronischen Archivierung inzwischen zu misstrauen: Sie stellen schon seit geraumer Zeit von ihren digitalen Werken durchwegs analoge, fotochemische Sicherungsnegative her.

In der Omnipräsenz bewegter Bilder realisieren sich düstere Zukunftsprognosen. "Heute ist man in jeder U-Bahn-Station, am Flughafen, im Fastfood-Restaurant, im öffentlichen Raum insgesamt mit Laufbildern konfrontiert“, konstatiert Horwath. "Blade Runner“ sei Realität. "Man könnte meinen, dies sei der historische Erfolg des Filmmediums - es ist allumfassend geworden. Das bewegte Bild ist zweifellos die dominante Sprache der Gegenwart. Aber das ist auch das Drama dieses Mediums: Seine totalisierenden oder totalitären Aspekte, die ja im 20. Jahrhundert oft genug sichtbar waren, haben nahezu generelle Akzeptanz erreicht.“ Die Sprengkräfte des Films, seine befreiende Sinnlichkeit und kritische Reflexion seien "derzeit eher marginalisiert“. Oder eben: "gerade dabei, sich in anderen Arten des bewegten Bilds neu aufzubauen“.

Mit den Mutationen und Migrationen der Bilder ist auch eine neue Cinephilie entstanden: eine Filmleidenschaft, in deren Zentrum nicht mehr das Kinoerlebnis, sondern der frei zugängliche Bilderrausch des Internets steht, über das sich neue Gemeinschaften, alternative soziale Netzwerke bilden, die in vielen Usern auch die berechtigte Hoffnung auf Entstehung neuer, bereichernder Filmkulturen wecken.

Das alte Ereignis Kino - die konzentrierte Betrachtung fotografischen Films in einem dunklen Saal - werde dennoch bestehen bleiben, meint Horwath - und zwar "ohne jeden Zweifel“. Auch das Theater habe ja nicht zu existieren aufgehört, als der Film kam. "Natürlich treten Veränderungen ein. Aber selbst das Fernsehen hat das Kino nicht umgebracht, nur verändert.“ Die Konstellationen des Filmischen seien nie starr gewesen, so Horwath. In den vergangenen Jahren habe man aber den Eindruck gewinnen können, dass nachwachsende Generationen nicht mehr in großer Zahl mit dem Kino "mitgingen“, stellt der Filmmuseumschef fest: "Die Ausfaltung der digitalen Kultur hat auf Benutzerseite eine kritische Masse erreicht, sodass ein jüngeres Publikum seinen Umgang mit ‚Filmischem’ zwar weiter steigert, aber immer weniger des Kinos bedarf.“ Dafür werde das Kino sukzessive von der "Hochkultur“ einverleibt.

Der digitale Umsturz hat das Kino neu definiert - und ein paar sympathische Begleiterscheinungen eliminiert. "Das Kino ums Eck, das es nicht mehr gibt, war die alltäglichste, ‚schwellenloseste’ Form, Menschen zu einer Auseinandersetzung mit der Welt einzuladen“, meint Alexander Horwath noch. "Da ging der Proletarier ebenso hinein wie der Bürger. Die Fantasie eines freien Filmbenutzers, der die konsumkapitalistischen Diktate zu unterlaufen versuche, hänge heute "offenbar eher am Internet“. Das klassisch-aufgeklärte Programmkino der 1970er- und 1980er-Jahre wird immer stärker zu einem Refugium für älteres Publikum, das Kino als "alltäglicher Ort“ verschwinde jedenfalls.

Eines stimmt Horwath aber zuversichtlich: "Die Präsenz von Film im Gesamtbild der Kultur und der Wissenschaft ist höher denn je. Inzwischen gehört ein bestimmtes Wissen über diesen Bereich zur Grundausstattung jedes Menschen, der sich als gebildet empfinden will.“ Allerdings fehle es an "Bewusstsein über die eigenständigen Kräfte des Films“. Die "digitale Euphorie“, die derzeit "in extremem Ausmaߓ von kapitalistischen Interessen geprägt sei, müsse ihre andere Seite noch unter Beweis stellen: "dass es in der digitalen Kultur nicht nur um neue Märkte und den verbesserten Zugriff auf den Menschen als Konsumenten geht, sondern auch um soziale Weiterentwicklung, die das kritische Erbe der Aufklärung, die Förderung historischen Denkens, zur Geltung bringt“.

Im digitalen Ozean wird gewonnen und verloren werden. Dinge tauchen auf, andere gehen unter. Es wird darauf ankommen, schwimmen zu können. Mit dem - oder besser noch: gegen den Strom.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.